Messling, Markus/Hofmann, Franck (Hgg.): Leeres Zentrum. Das Mittelmeer und die literarische Moderne. Eine Anthologie, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2015; 288 S. Messling, Markus/Hofmann, Franck (Hgg.): Fluchtpunkt. Das Mittelmeer und die europäische Krise, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2017; 420 S. Eine Rezension von Fabian Saner
Die beiden Bücher des Berliner Kadmos-Verlags stehen ganz im Zeichen der jüngsten Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum. Sie sind Resultat der Forschungsgruppe Transmed! Denken der Méditerranée und europäisches Bewusstsein, in der deutsche und Kulturwissenschaftler*innen der Mittelmeerländer zusammengearbeitet haben. Migration bildet in den beiden Textsammlungen eine produktive und kritische Chiffre nicht nur für wandernde Menschen und Ideen in, um und durch das Mittelmeer, sondern auch den Horizont für den postkolonialen Neuentwurf des Projekts der ,europäischen’ Aufklärung und des kritischen Denkens.
„Fluchtpunkt“, die jüngere der beiden Publikationen (2017), versammelt Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die vorwiegend von Autor*innen verfasst wurden, die sich in ihrer archäologischen, historischen, kulturgeografischen und künstlerischen Forschung mit Phänomenen einer weit verstandenen Méditerranée, dem Mittelmeer als Transfer- und Austauschraum, beschäftigen. „Leeres Zentrum“, die 2015 veröffentlichte Anthologie, setzt hingegen den Schwerpunkt auf Texte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gibt den Blick auf die Stilformen und Erkenntnisperspektiven von Schriftsteller*innen und Künstler*innen der sog. Klassischen Moderne frei. Der Mittelmeerraum ist dabei Fluchtpunkt in und aus einer Gegenwart der Gewalt und des prekären Lebens: „Über das Meer gehen die riskanten Routen derer, die sich im Norden ein besseres Leben erhoffen; zugleich muss sich auf diesen Punkt hin ein Denken ausrichten, das einen Neuentwurf Europas anstrebt, ohne den die Rückkehr der nationalistischen Dämonen des Kontinents unvermeidlich ist“ (Fluchtpunkt, S. 11).“ Das Mittelmeer als ein Versprechen im doppelten Sinn: gegen die Land-Politik als Politik tödlicher Grenzen und als Traverse zu unerfüllt gebliebenen Möglichkeiten des Zusammenlebens in den Räumen untergegangener Staatsverbände und Reiche rund um das Mittelmeer herum.
Das Versprechen der Herausgeber, ein „Archiv der Realitäten und Intensitäten der Krise“ (Fluchtpunkt, S. 17) zu erstellen, wird vielfältig eingelöst. Das kulturelle Gedächtnis der Méditerranée wird als produktiver Motor und Ausdruck von historischen und aktuellen Symbolisierungsprozessen erkannt und weiterbearbeitet. Dabei bleibt die klare politische Setzung der beiden Herausgeber Messling und Hofmann aber das erkennende Merkmal der Textauswahl: Der individuelle Aufbruch, ein Leben in kulturellen Zwischenräumen und in ökonomischer Prekarität bilden ein Muster, das in der einen oder anderen Form der exilierte Dandy um 1900, der politisch Verfolgte im Zweiten Weltkrieg und die prekarisierte papierlose Migrantin von heute teilen. Dabei geht es nicht um den Vergleich dieser historisch unterschiedlichen Typen von (erzwungener) Migration, sondern um das Gemeinsame in der Benennung politischer Exklusionsmechanismen – und des Insistierens auf Inklusion. Die Gemeinsamkeiten liegen weniger in Themen, Methoden oder Selbstentwürfen, vielmehr in einem Gestus forschender Weltzugewandtheit, ästhetisch-kulturellen Ringens um einen Platz in der Welt. Die Texte sind von einem Impuls der (Selbst-)Veränderung, der Dezentrierung, der kulturellen Entkrampfung, der forschenden Bricolage angetrieben. Im Wissen um die postkoloniale Kritik versuchen sie, den Neuentwurf des Aufklärungsprojekts aus dem Geist einer Méditerranée und des Versprechens von Räumen ,da-zwischen’ anzugehen. „All diese Verschiebungs-, Dezentrierungs- und Unterwanderungsgeschichten folgen einer inneren Logik der Moderne, die ein geschlossenes, normatives Menschenbild verabschiedet, wie es aus einem griechischen Geist und der jüdisch-christlichen Tradition abgeleitet worden war“ (Nachwort Leeres Zentrum, S. 276).
Viele Beiträge legen einen historischen Schwerpunkt auf überraschende Austausch-, Transfer-, und Überblendungsprozesse und sind in dieser Hinsicht ein Gewinn, um zu besseren Fragestellungen zu kommen. In den versammelten Texten werden engagierte Schreibhaltungen sichtbar, die sich für den politischen Sprechakt entschieden haben. So sind die historisch teils gewagten Thesen oder steilen Verallgemeinerungen mit einer Bodenhaftung versehen, die sie über den Moment ihres aktuellen Newswerts hinaus lesbar machen. Die Texte stehen aber doch nicht jenseits der prekären ökonomischen und politischen Situation, in der sich der Mittelmeerraum im 21. Jahrhundert befindet.
Es ist der – zuweilen realpolitisch orientierte, zuweilen surreal gebrochene, zuweilen auch melancholische – Blick auf die Kämpfe der ökonomisch und politisch Marginalisierten in Europas Süden, in Griechenland, Süditalien, der Iberischen Halbinsel, in der Türkei, Ägypten, Marokko und Tunesien. Es ist der empathische archäologische Blick auf die sprachlichen, architektonischen, religiösen Palimpseste der kreolischen Hafenstädte Palermo, Barcelona, Athen, Tunis, Alexandria, deren jahrtausendelange Migrationsgeschichte als eine der wichtigsten Ressourcen betrachtet wird, um den politischen Gestaltungsraum inskünftig anders begreifen zu lernen. Eine bei einigen Autor*innen wiederkehrende Referenz bildet Jacques Derridas Entfaltung der Nichtidentität von Kultur im Vortrag „Das andere Kap“, erstmals gehalten 1990 in Neapel.
Die lange Rezeptionsgeschichte der Literatur bietet Anlass, an das (Mittel-)Meer als eine inklusive und inkludierende Größe zu erinnern und die ethnisch-nationalistischen Abschottungskonzepte, die auf dem Landdenken beruhen, einmal beiseitezulegen. Die gewählten Zugänge sind dabei so unterschiedlich wie die Arbeitsfelder der Beiträger*innen: Beiträge einer historischen Kunst- und Kulturforschung stehen neben philologisch-ästhetischen Essays, die sich für zirkulierende Bilder und massenmediale Diskurse interessieren. Literaturwissenschaftliche Lektüren von Figurierungen der Méditerranée bzw. einzelner Länder, Regionen, Städte oder deren Vergleich werden abgelöst von einer philosophischen Analyse des ethischen Gehalts des Iphigenie-Dramas in Antike (Euripides), Klassik (Goethe) und Gegenwart (Jelinek).
Die Herausgeber versuchen dieses disparate Geflecht mittels zweier Achsen zu strukturieren. 1. Mittels einer epistemischen Analyse der Bilder und Figuren der Mediterranée; 2. in der Herausarbeitung einer Subjektivität der Bewegung, des Wanderns, der offenen Identität. So wird (kritisch) angeschlossen an eine selbstreflexive Moderne, an ihre Gefahren, ihre Rückschläge, ihre Versprechen – wie an die künstlerischen Erfahrungen, mit Disparatem umzugehen und Zonen des Austauschs zu kreieren. Von einer Beziehungsgeschichte und unabdingbaren Verflechtungen auszugehen ist eine geteilte Überzeugung der Autor*innen, wenn auch ihre Zugänge und ihre Arbeitsformen zwischen politischer, historisch-philologischer und künstlerischer Arbeit nicht über einen gemeinsamen Nenner zu schlagen sind. Die repräsentierten Wissenschaftskulturen sind ebenso vielfältig wie die Form der Wissensvermittlung einmal auf ästhetische Zugänge, einmal auf die Dichte der Beschreibung und des Quellennachweises setzen. Und diese unabdingbare Verflechtung weist auf den großen Anspruch der Selbstveränderung in und durch das kritische Arbeiten, deren poetische Kraft und deren Bedeutung für gemeinschaftliche Lebensformen von den Herausgebern betont wird.
Komplexe Fragestellungen bedingen Raum für eine angemessene Entfaltung. Die Texte nehmen sich diesen Raum, neigen aber aufgrund des allgemeinen Zuschnitts der Fragestellungen deshalb zuweilen auch zu Redundanz. Manchmal hätte man sich – anstelle der Auflistung verschiedener Schauplätze des interkulturellen Austauschs oder der Benennung kolonialer Zusammenhänge – die Lektüre und Entfaltung eines Zusammenhangs gewünscht: etwa der von Nora Lafi leider nur angesprochenen Form der „offenen Governance“ im Osmanischen Reich, die auch die Bevölkerung jenseits der muslimischen Gemeinschaft einschloss (Fluchtpunkt, S. 72). Es bleibt unklar, wie die positiv abgehobenen Vielvölkerreiche wie das Osmanische Reich oder Habsburg historisch funktioniert haben sollen und worin der Vorteil bestünde, „die Geschichte der angesammelten inneren Blockaden Europas“ (Fluchtpunkt, S. 82) im Hinblick auf deren politische Verfasstheit neu zu schreiben. Zudem besteht bei gewissen Texten Absturzgefahr, wenn auf der historisch-soziologischen Flughöhe der modernen Subjekttheorie lokal situiertes Wissen eingeordnet und präsentiert wird, z. B. nicht-westliche philologische Praktiken, als wäre Letzteres einfach so übersetzbar. Hier fallen die Autor*innen teils hinter den Anspruch der eigenen anspruchsvollen Kulturtransfer-Theorie zurück in eine nur bedingt reflektierte Universalisierung der eigenen Position.
Offensive Setzungen machen die Texte andererseits erfrischend: Nicht trockene akademische Fingerübungen und unangreifbare Detailversessenheit macht sich breit, sondern es wird nach einer „spezifischen Widerständigkeit der poetischen Lebenshaltung“ (Fluchtpunkt, S. 21) gesucht. Die Herausgeber der beiden Bände bringen diese Haltung mit dem griechischen Dichter Konstantinos Kavafis in Anschlag: Achtsamkeit, Solidarität und Mut in einer geteilten Welt der „Terriens“ (Marc Augé) sollen etwas reaktivieren, das in hierarchischen Diskursen der „Kultur“ oder der „Herkunft“ erstarrt oder schlimmer noch: unsichtbar gemacht wird.
Welche Archive des Denkens und der Kunst lassen sich anzapfen, um Antworten auf die Militarisierung staatlicher Grenzen und ökonomische Ausbeutung zu finden, individuelle und kollektive-kämpferische Räume zu entwerfen, zugleich das historische Gedächtnis vergangener (und zukünftig anders wiederkehrender) Kämpfe und Kritik zu erneuern? Welche Momente des aktuellen Wiedererstarkens der völkischen Rechten sind mit Bildern der Méditerranée als Ursprungsfiktion des europäischen ,Humanismus’ verknüpft (etwa in Montaignes Klimatheorie, die soziale Charakteristika an eine geografische Rhetorik von Nord und Süd bindet)? Lassen sich die heutigen Starrkrämpfe europäischer Gesellschaften in der Anerkennung pluraler innerer Verfasstheit und der folgerichtigen Weiterentwicklung der demokratischen Repräsentationsformen wiederfinden in Konstellationen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts? Diese Fragen werden in den Beiträgen gestellt und in ihrer Tragweite deutlich gemacht. Das ist der wichtigste Gewinn der Lektüre der beiden umfangreichen Bände.
Ein künstlerisches Forschen, ein experimentelles Denken, das sich nicht in instrumentalem gesellschaftlichem Nutzen manifestieren muss, ist die Haltung, die in den beiden Anthologien auftritt. Dies ist die Umsetzung von Perspektiven, die sich den marginalen Zonen verschrieben haben:
An den Rändern drängen sich alle unbeantworteten Fragen auf, die sich Europa stellt, so die Historikerin Nora Lafi (Fluchtpunkt, S. 70). Im – sicher gewagten – Versprechen der sozialen Poiesis von Gesellschaft in künstlerischen Praktiken finden die Beiträge Spuren einer Gegengeschichte zu Resignation, Nationalismus und einer fremdenfeindlich-wohlstandschauvinistischen Rhetorik alternativloser Migrationsabwehr. Sei es Paul Klees Serie von Hafenbildern, seien es die Graffitis in besetzten Häusern südeuropäischer Städte: Bilder verweisen auf soziale Texturen. Texte gehen auf Spurensuche und erproben die soziale Funktion einer erweiterten Einbildungskraft, wie sie Hanno Ehrlicher an José Saramagos Gedankenspiel der abbrechenden Iberischen Halbinsel erläutert (Fluchtpunkt, S. 159). Die wegtreibende Landzunge nimmt die Bewohner*innen, ob sie wollen oder nicht, auf eine Reise des kontraintuitiven Denkens mit. „Depression Era“, ein Athener Künstlerkollektiv, erprobt in „Bürgersteigmuseen“ die Rückeroberung des öffentlichen Raums durch Aktivist*innen und Künstler*innen. Dabei steht immer wieder eine Befragung der Bildproduktion (im Impuls ihrer Veränderung) im Zentrum der Frage, was aktuell Gesellschaftskritik heißen könnte (Fluchtpunkt, S. 370ff.)
Die Herausgeber wollten den wissenschaftlichen Austausch um das Mittelmeer herum fördern – auch durch die Initiative eines europäisch-nordafrikanischen Studierendenprogramms – und sehen die beiden Bücher als konkreten Ausdruck der Perspektivenvielfalt auf Phänomene der Geschichte und Gegenwart dieses Raums. Das ist gelungen und könnte viele kulturwissenschaftlichen Fragestellungen theoretisch und inhaltlich inspirieren. Das Projekt zeigt aber auch auf, wo die Grenzen liegen: Manchmal fehlt die sprachliche und philologische Expertise, die dann durch ein prekäres modernetheoretisches Konstrukt überspielt wird.