Müller, Ernst/Schmieder, Falko: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin: Suhrkamp Verlag 2016. Rezension von Gerd Irrlitz

Nicht nur die Philosophie und die Geschichtswissenschaft, auch die Sozial- und die Kulturwissenschaften hatten sich so lange ihren Begriffsgeschichten anheim gegeben, dass es Zeit wurde, die Geschichte der Begriffsgeschichten nachzuzeichnen und zu hinterfragen. Ist das nun Zeichen eines Abschieds, deutet es das Bedürfnis nach neuen kritischen Initiativen auf diesen Feldern an?

Das hier vorliegende Kompendium ist so solide und enzyklopädisch reichhaltig gearbeitet, dass man sich an gute Arbeiten der zweiten Hälfte des 19. Jh. erinnert denkt. Es behandelt eine ganze Periode historisch selbstreflexiver Konzepte in Philosophie, Geschichts- und Sozialwissenschaft, Sprachwissenschaften, Wissenschaftstheorie und Kulturwissenschaften. Die begriffshistorischen Lexika und Schriften werden als einer Wissenschaftsperiode zugehörend und damit als ein geschichtlich spezifisches Phänomen behandelt. Über die Bestandsaufnahmen hinaus öffnet das vorliegende Kompendium die Problemlage der historischen Semantik für neue kritische Selbstvergewisserungen. Wie viel Geschichte braucht die Zukunft, fragte Eric Hobsbawm, und antwortete: auf jeden Fall so viel, um die Gegenwart als Geschichte zu verstehen. Was vermögen Begriffsgeschichten beizutragen fürs Begreifen der realen Geschichtlichkeit einer Wissenschaft und deren kultureller Funktionen? Begriffsgeschichte war von jeher eine ehrenwerte Hilfswissenschaft zwischen Problemgeschichte und Kulturgeschichte einer Wissenschaft, und bei guten Autoren auch Zeichen kritischer Reflexion der Disziplinen. Erst in der neueren historischen Epistemologie (Bachelard, Foucault) werden Begriffs- und Problemgeschichte zur gesellschaftstheoretischen Wissenschaftstheorie, wie es die kritische Theorie (Benjamin, Horkheimer, Lukács, Raphael und andere) in spezifischer marxistischer Tradition während der ersten Hälfte des 20. Jh. vertreten hatte.

Die Autoren bestimmen ihr enzyklopädisches Werk als das Unternehmen, „die mannigfaltigen … Ansätze der Begriffsgeschichte und historischen Semantik komparativ in ihrer ganzen Breite darzustellen…“, und in Form eines „Kompendiums die theoriegeschichtlichen Debatten nachzuzeichnen, die begriffsgeschichtlichen Projekte in Anspruch und Realisierung zu vergleichen und Fragen der geisteswissenschaftlich dominierten Begriffsgeschichte sowie deren Zukunftsaussichten aus der Perspektive der kulturwissenschaftlichen Wende der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu thematisieren.“ (S. 16) Hier ein „Desiderat“, wie die Autoren  rücksichtsvoll sagen, erkannt zu haben, und es in neunjähriger Arbeit auf so außerordentliche kulturhistorische Weise ausgeführt zu haben, das gibt dem Buch dessen gelehrten Glanz, und mit den Urteilen über die dargestellten Konzepte den Gehalt einer der wesentlichen wissenschaftstheoretischen  Schriften der Gegenwart. Die im Ursprung nicht sehr weitgreifenden Probleme der formellen Begriffsgeschichte werden hier retrospektiv von vornherein zur historischen Semantik erweitert, und das greift auf den uns heute zur Verfügung stehenden Wissenschaftsbegriff überhaupt aus. Die speziellen Problemlagen werden behandelt und verglichen in ausführlichen Kapiteln zu Philosophie, Geschichts- und Sozialwissenschaft, zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, zur Wissenschafts- und Wissensgeschichte, zur Kulturwissenschaft und abschließend mit einem noch einmal 150 Seiten umfassenden Überblick zu den Institutionen, Zeitschriften und Lexika der begriffshistorischen Arbeiten. Mit G. O. Oexle halten die Autoren fest, dass die Begriffsgeschichte in der deutschen Linie die eigentliche Genese der Problem- und Gesellschaftsgeschichte der Disziplinen zurückgesetzt hätte. Das vorgelegte Kompendium lässt nun die traditionelle Einschränkung weit zurück, und besitzt mit seiner umfassenden Gründlichkeit zugleich klassischen Lehrbuch-Charakter. Es gewinnt dazu den Vorzug eines Nachschlagewerkes über nahezu alle wichtigen Schriften und Autoren/-innen zur weit verzweigten Thematik. Ein Schlusskapitel von fast 100 Seiten behandelt die der Thematik verpflichteten Institutionen, Zeitschriften und Lexika. Der Erschließbarkeit des Werkes dient neben der sorgfältigen Fein-Einteilung der Kapitel das dem Namenregister vorangehende ausführliche Sachregister.

Kein Rezensent wird der Fülle der dargestellten Themen als Sachkenner folgen, sie prüfen und beurteilen können. Ich möchte vor allem die hier behandelte Begriffsgeschichte in Philosophie und Geschichtswissenschaft besprechen, dazu am Schluss nur  etwas bemerken zu den formulierten Zukunftsaussichten der wissenschaftstheoretischen Reflexion im Zusammenhang der kulturwissenschaftlichen Wende der sog. Geisteswissenschaften, die als Begriffsgeschichte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts begonnen hatte.1

Um sich einen Überblick zu verschaffen, liest man am besten in Verbindung mit der Einleitung das Kapitel „V. Kulturwissenschaft, Cultural History“. Es erweitert die begriffshistorische Thematik zur historischen Semantik an den Beispielen der psychoanalytischen Bedeutungsforschung (Freud, Sperber), der kulturwissenschaftlichen Bildgeschichte und Symbolforschung (Warburg, Wind), der Begriffsgeschichte als Gesellschaftstheorie (Williams), des kulturellen Unbewussten (Foucault), der Metaphorologie (Blumenberg), der Dialektik prägender kultureller Bilder (Benjamin) und verwandter Themen. Hier öffnet sich der Themengang am weitesten von den spezifischen Fach-Geschichten hin zur übergreifenden kulturellen Reflexion und Kritik. Der pedantische Leser würde vielleicht nur die kulturtheoretischen Aspekte der Sagen- und Märchenforschung vermissen, die immer schon ihre Interpretationen mit namen- und motivgeschichtlichen Forschungen verbunden hatten. Ethnologie und Psychologie der Märchen könnten den im Abschnitt „Semantik der Gefühlsworte“ (S. 758ff.) behandelten Themenkreis mit der Spezifik volkstümlicher Tradition nach der gesellschaftstheoretischen Seite hin erweitern. Ein Linguist wie Steinitz  (Finno-Ugristik) fasste die Sprachgeschichte im Zusammenhang von Kulturgeschichte und der traditionellen Volkskunde. Er hatte die motivgeschichtlichen Arbeiten der Vorkriegszeit zu Märchen und Volksliedern fortgeführt, unabhängig vom neueren worthistorischen turn. (Die Thematik wird im Semantik-Kapitel genannt, S. 425ff.) Steinitz wird nur ein Mal im Zusammenhang des unausgeführten Projekts eines Marx-Engels-Wörterbuchs erwähnt, das seinerzeit zuerst Theodor Frings an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften den Marxisten zur Versachlichung von deren Denken und kulturellen Ansprüchen geraten hatte.

Für die begriffshistorische Thematik erinnert man sich Jakob Grimms Bekenntnisses: „Sprachforschung der ich anhänge und von der ich ausgehe, hat mich doch nie in der Weise befriedigen können, dass ich nicht immer gern von den wörtern zu den sachen gelangt wäre; ich wollte nicht bloß häuser bauen sondern auch darin wohnen, mir kam es versuchenswerth vor, ob nicht der geschichte unsers volks das bett von der sprache her stärker aufgeschüttelt werden könnte …“.2 Grimm spricht mit dem Wort vom Nutzen der Sprachforschung für die allgemeine Historiographie zugleich für den umfassenden gesellschaftshistorischen Bezug der Sprachwissenschaften. Bei den ablaufenden immanenten Begriffsgeschichten bleibt ja ohnehin ein Problem unerörtert: Welche Bedeutungsgeschichte haben die behandelten Fachtermini im allgemeinen worthistorischen Sinn zurückgelegt, und welche sozialen und kulturellen Wendungen schufen ihnen den jeweils in den Fächern vorherrschenden Sinn. Denn es besteht ein Unterschied zwischen den Tendenzen des Fachgebrauchs und dem generellen Sprachwandel; eine kulturgeschichtliche Differenz, die außerhalb der formellen Begriffsgeschichten bleibt. Aufs Ganze gesehen, bilden die deutschen Begriffsgeschichten den romantischen Historismus fort, der  in den besten Leistungen sprachhistorisch gearbeitet hatte, und ständerechtlich liberal orientiert gewesen war. Die Arbeiten der Grimms, Beneckes, Gervinus’, ebenso Mösers „Patriotische Phantasien“ (1774) bildeten eine sprach- und zeitgeschichtliche Linie gegenüber dem genannten späteren Historismus Diltheys und Meineckes.

Das enzyklopädisch reiche Buch, will man es rationell benutzen, soll wie eine Enzyklopädie mit zweiteiliger Methode gelesen werden. In den einzelnen Kapiteln wird die begriffsgeschichtlich selbstreflexive Tendenz der Disziplin in einfacher historischer Abfolge dargestellt. Es ergibt sich aus der beabsichtigten und meist auch erreichten Vollständigkeit der wesentlichen Themen in jeder Disziplin. Aber das genügt nicht, den Aufbau des Buches zu erfassen und es zu nutzen.

Die einzelnen Kapitel beziehen sich über ihre jeweiligen Themen aufeinander, so dass man, was hier vermisst werden möchte, in anderem Zusammenhang gründlich behandelt findet. So bewegten sich die deutschen begriffshistorischen Arbeiten bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts innerhalb einer das jeweilige Fach isolierenden, in diesem Sinne subjektiven Wissenschaftsauffassung. Begriffsgeschichte wurde, ganz entgegen den genannten reformerischen Ursprüngen, ein Faktor, die gesellschaftstheoretischen Grundlegungen wissenschaftlicher Disziplinen mitsamt deren Eignung für politische Funktionen auszublenden. Die Autoren gehen auf diese abglättende Internalisierung der behandelten Disziplinen nicht gesondert ein, wenngleich sie die konservative Konstellation für die Konzeption der beiden zentralen Wörterbücher in Philosophie und Historiographie darstellen. Aber die eigentliche Thematik der rein fachimmanenten Auffassung kommt dann eingehend im Kapitel IV zu Wissenschafts- und Wissensgeschichte. Hier wird an den wissenschaftshistorischen und wissenschaftskritischen Schriften zur Krise der Physik im frühen 20. Jh. (Einstein, Planck, Heisenberg u. a.), an Arbeiten wie denen Lovejoys und Bachelards die unausweichliche Relativierung des Gegenstandsbegriffs dargestellt. Der je historisch bestimmte Objektbegriff wird erst hier zum Thema und gehörte noch nicht in den erkenntnistheoretischen Zusammenhang z. B. des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ oder der „Geschichtlichen Grundbegriffe“. Das Buch soll die reale Themenentwicklung in den verschiedenen Disziplinen nachvollziehen, und die Themen der einzelnen Kapitel verweisen dann, gleich Lexikon-Artikeln, aufeinander. Tatsächlich ist ja z. B. das Problem der unaufhebbaren Subjektivität wissenschaftlicher Objektbegriffe erst mit der Krise der klassischen Physik Thema geworden. Reelle Aufklärung erhält das Thema im Gefolge der sprachtheoretisch geführten Logik und der Subjektivierung des Gegenstandsbegriffs in den  Naturwissenschaften. Das alles sind im Gang des Kompendiums Themen des Kapitels zur Wissensgeschichte.

Jeder Begriff ist offenbarender und verbergender Zeuge seines Zeitalters. Die Verdinglichung der gesellschaftlichen Beziehungen, deren Artikulation die Begriffe dienen, verdinglicht auch deren Gebrauch. Begriffsgeschichte, die der Dialektik der Repräsentation eingedenk bleibt, vermag hinter die Verdinglichung, die den jeweiligen empirischen Zwecken der Begriffe anhaftet, zurückzugehen, und die verdeckte gesellschaftliche Struktur kenntlich werden zu lassen. Adorno sagte es von der industrialisierten Warenproduktion des 19. Jahrhunderts für einen zentralen Terminus wie „Konstruktion“, der neue Materialbeherrschung aussage und zugleich eine spezifische Form der Materialentfremdung.3

Die Autoren verfolgen derart die objektive Darstellung der Bewegung in den Disziplinen. Es bliebe die Frage, ob sie Querverweise auf Verbindungslinien zwischen den Themen der einzelnen Kapitel und auch kurze Kritiken hätten einfügen sollen, für Philosophie- und Historiographie-Wörterbücher etwa zur Krise  der fachisolierenden, in diesem Sinne subjektiven Orientierung der Disziplinen. Es gibt Aspekte für Philosophie und Historiographie, die im späteren Zusammenhang des IV. Kapitels zur Wissenschaftsgeschichte nicht gut einzuordnen wären. Beide Disziplinen aber trifft, dass das isolierende Fach-Verständnis bei Abweichungen der gesellschaftlichen Bewegung vom gleichförmigen Takt in eine Krise gerät. Ein konservatives Denken entsteht, das verlorenes Maß wiedergewinnen soll. Dafür zieht es sich auf die bewahrende Rubrizierung der Begriffsbestände zurück. Das sind Aspekte, die auch in Kapitel IV nicht weiter auszuführen wären, da es die Krise des Objektbegriffs von der Physik her entwickelt, hier die Krise aber nicht regressiv, sondern theoretisch progressiv wirkt, Begriffs-Revisionen also verschiedenen kulturellen Charakter tragen.

Eine zweite Überlegung: Über die formelle Begriffs-Lexographie hinaus ginge die Analyse des Hervor- und Zurücktretens bestimmter Termini. Gab es dafür besondere Initiativen, bei welchen Autoren, für welche Termini? Das reichhaltige Cultural-History-Kapitel (V) bringt dazu Material, ohne das Thema gesondert aufzunehmen. Analog würden dazu die Beziehungen gehören zwischen den Begriffswelten der Umgangssprache, der durch mediale Öffentlichkeit fixierten gemeinsprachlichen Terminologie und den Fachsprachen der Wissenschaften. Diese Unterscheidungen spielten sicher unreflektiert eine Rolle bei den behandelten  historisierenden Selbstreflexionen der Disziplinen.

Die Autoren setzen den Beginn der begriffshistorischen Tendenzen – zuerst in Historiographie und Philosophie – in die späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. (Die Tradition der Fachwörterbücher wird in Kapitel VI dargestellt.) Sie fügen für beide Disziplinen in Deutschland und hier speziell für eine „politisch motivierte Begriffsgeschichte“ hinzu, dass es „ein Projekt der konservativen und rechten Theoretiker“ gewesen sei. Die reformerischen Quellen im romantischen Historismus seien verdrängt worden von den Bezügen auf die konservative Theoriebildung bei Meinecke, Schmitt, Chamberlain, Spengler. Die konservativen Ursprünge der deutschen Begriffsgeschichte werden für Gadamer, Ritter, Rothacker, für Schmitt, Brunner, Koselleck mit  Quellenangaben gezeigt. Zu Koselleck ist der außerhalb des Geschichts-Kapitels stehende Abschnitt in Kapitel IV, aufschlussreich (S. 604ff.). International gesehen, ergebe sich für die Begriffshistoriographie ein anderes Bild bei Gramsci (S. 235), in der Annales-Schule und in der englischen social history. da die begriffshistorische Thematik in die Mentalitätsgeschichte eingebettet sei, in Untersuchungstraditionen zu „langfristigen Sozialstrukturen, weniger um Politik als um Gesellschaft.“ (238) Die subjektive Linie habe in Frankreich früh, bereits bei Montaigne, kritischen Charakter gewonnen. Diese Funktion habe fortgewirkt zu Bloch, Febvre und bis in die Gegenwart zu Foucault, Derrida, Baudrillard, Bachelard. Als entschiedener Kritiker der gesamten Terminologie der traditionellen Sozialwissenschaft, vor allem der marxistischen, hätte hier auch Castoriadis’ „Gesellschaft als imaginäre Institution“ (1975, dtsch. 1990) hinzukommen können. Der französischen kritischen kulturhistorischen Tradition entspricht mit eigenem, oft von minimalen Begebenheiten ausgehendem Akzent die angloamerikanische cultural history. Die Autoren behandeln es im großen V. Kapitel (Kulturwissenschaft, cultural history, S. 615-842). Es ist das thematisch reichhaltigste Kapitel und stellt auch die Einflüsse auf die neuen Tendenzen der nach Blumenberg gekommenen deutschen Arbeiten dar (Bredekamp, Kittsteiner, Konersmanm, u. a.).

Die Nachweise interner Bezüge zwischen den Autoren und deren Konzepten aus Briefen, Begegnungen, Konferenzprojekten u. a. bringen aufschlussreiche Belege für Entscheidungen, die meist nur als Theorielinien konstatiert oder konstruiert werden. Speziell für die BRD wird die philosophische und historiographische Begriffsgeschichte als ein Symptom der Flucht in eine die reale Geschichtlichkeit der Disziplinen abblendende formelle Verzeitlichung gezeigt – nach der Un-Zeit der NS-Periode. Zugleich habe die Konzentration auf den schmalen begriffsgeschichtlichen Streif ein neues Beginnen ermöglicht, um nach 1945 den Anschluss ans Niveau der außerordentlichen theoretischen Konfrontationslinien der Weimarer Zeit zu meiden. Insofern sei die Historisierung mehrerer Disziplinen in der deutschen Westrepublik – anders als in Frankreich, Großbritannien, auch in der deutschen Ostrepublik – ein Beginnen realer Enthistorisierung durch formellen Historismus gewesen. Die Begriffsgeschichte um ihrer selbst willen war die Illusion, dass man interne Bereiche der Intellektualität schaffen könne, Paradiese des Beisichselbstseins der Disziplinen durch kultivierte Internalisierung von deren abstrahierten einzelnen Elementen.

Das kritische Urteil wird auch für die beiden Prestige-Werke der deutschen NachkriegsBegriffsgeschichte nicht ausgesetzt, für das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ (19712007) und für die „Geschichtlichen Grundbegriffe“ (1972-1997). Den konzeptionsbildenden Untersuchungen der Autoren aber habe sich „die Periode im Jahrzehnt vor 1933 als besonders innovativ erwiesen.“ (S. 142) Markant unterschiedene Konzepte seien aufeinander getroffen (Benjamin, Cassirer, Heidegger, Koebner, Kracauer, Mannheim  u. a.). Die von den Verfassern betonte Kontinuität der großen deutschen Nachkriegsprojekte zu Ansätzen der Vorkriegszeit habe also zugleich die reale Wissenschaftsgeschichte durch „stark normative und im Kern ahistorische Denkfiguren“ vereinfacht. (S. 23f.) Die Thematik kehrt im Kapitel zur Begriffsgeschichte in der Historiographie wieder. Der einer Begriffsgeschichte aufgegebene kritische kulturelle Gestus könne eingeebnet werden zur Termini-Geschichte, fast bis hin zu mikroskopischer Bildungsschau, wie sie das HWPh in vielen Artikeln zeige. Das gehöre zu den unterschiedlichen Linien der Geschichts- und Sozialwissenschaften in Westeuropa und in Deutschland. Bis in die Wissenschafts-Historiographie wirke fort, dass dort die Kultur einer bürgerlichen Gesellschaft von sozialen und politischen Bewegungen geschaffen wurde, hier aber von Dichtern und Philosophen.

Die umfangreiche Einleitung dieser Geschichte und Systematik der Begriffsgeschichten gibt eine gute Einführung zur Thematik, und das vor allem durch den Bezug der begriffshistorischen Thematik auf die Funktion der Wissenschaften in der industriellen Zivilisation, so dass die Philosophie ihren Ort „als Einheit der Wissenschaften“ zu verlieren begonnen habe. (S. 24f.) Dem entspreche die seit Freges und Peirces Skepsis gegenüber der tradierten Philosophie eingetretene Ablösung des Rationalitätsverständnisses von der Begriffslogik. Die Autoren konzentrieren sich darum entgegen der den Begriffsgeschichten eingeschriebenen Tendenz theoretischer Immanenz auf die „Schnittstellen verschiedener Ansätze“, „in denen es um gesellschaftlich, beziehungsweise kulturell relevante Veränderungen von Semantiken und Begriffen geht.“ (S. 18) Sie sehen in diesen gesellschaftstheoretischen Bezügen die Voraussetzung, dass die aus dem konservativen und modernekritischen Milieu stammenden begriffshistorischen Projekte zu den wichtigsten Erfolgen der bundesdeutschen „Geisteswissenschaften“ werden konnten, „die, mit den Insignien Selbstreflexivität und Pluralität versehen, der demokratischen Moderne theoretische Legitimation verschafften.“ (S. 24)

Der erste Teil zur Reflexion der philosophischen Terminologie in der neuzeitlichen Philosophie (S. 150) behandelt die Bewegung der Thematik von der Aufklärung bis zu Wittgenstein und zur Sprachpragmatik. Es ist ein aufschlussreicher problemgeschichtlicher Abriss vor allem durch die gewählte Doppellinie vom aufklärerischen Postulat der einheitlichen Menschenvernunft in England und Frankreich und der deutschen Bewegung von Wolffs idea-Begriff und Kants Zweiteilung von Verstandesbegriffen und Vernunftideen hin zu Hegels Verbindung von Phänomenologie der Begriffe und logifizierter realer Geschichte. Vielleicht hätten hier kulturtheoretische Überlegungen zur begriffsgeschichtlichen Thematik Platz finden können. Denn die Begriffsgeschichten zeichnen chronologisch nacherzählend. Sie berücksichtigen kaum die jeweilige Wertigkeit der Begriffe in den Sprachfeldern, in denen sie nur Abbreviaturen von Mentalitäten darstellen. Jede Theorie konzentriert sich, insbesondere bei Beginn neuer Periode, um wenige Grundbegriffe. Das sind dann hoch projektive Begriffe für die weitere Geschichte der Disziplin, deshalb mehr oder weniger dessen bewusst intensiv zwischen den Autoren umkämpft. Vor allem aber stellen Begriffe mit ihren periodenweise bewährten Bedeutungen eine außerordentliche konservative Macht in der jeweiligen Disziplin, in einer Kulturperiode überhaupt dar. Die Begriffsgeschichten lassen das über der bloßen Chronologie zurücktreten. Aber das der Begriffsgeschichte zu Grunde liegende reale Begriffsgeschehen kann aktuellen Kampf-Modus erreichen, so etwa in Hegel-Schellings Kritischem Journal der Philosophie (1802/03), im Briefwechsel Fichte – Schelling von 1799 und selbst in der Geschichte der Physik.4

Instruktiv stellt das Kompendium die  weniger behandelte Philosophie-Linie dar: Begriffsgenese als Ausbildung ideelle Figuren unter Einbeziehung der Metaphorologie bei Sulzer, Lambert, in der deutschen Frühromantik, eingehend für den eigenständigen Ansatz Lamberts.  (S. 37ff.) Die ausschlaggebende Begründung der philosophischen Begriffsgeschichte sei aber aus dem Bruch der idealistischen Tradition durch die getrennte Entwicklung der Naturwissenschaften (von einer „äußeren“ Natur) und der Anthropologie und Psychologie als Basis der Humanwissenschaften entstanden. (S. 48ff.) Aus dem Zerfall der idealistischen Wissenschafts-Synthesen „entsteht das Bedürfnis nach Begriffsgeschichte, d. h. „nach diachronen Syntheseversuchen in einer zersplitterten Welt.“ (S. 47) Hier wird das eigentliche Problem der Begriffsgeschichte gefasst, das hinter den schulmäßigen Wörterbüchern stand (Eisler, Mauthner, Clauberg / Dubislav u. a.).

Darauf beginnen interessante Darstellungen zur Geschichte der philosophischen Sprachthematik in der deutschen Linie bei Nietzsche, Heidegger, Cassirer, Rothacker, Wittgenstein, Blumenberg. Philosophiehistorisch gelungen ist hier vor allem der historische Bogen, den die Autoren ziehen. Beginnend mit der Sprachpragmatik bei Peirce, der die Begriffe nicht mehr als Repräsentationen von Objekten, sondern immanent als Bedeutungen setzende Sprachhandlungen fasst, geht die Darstellung zur Psychologie der Sprechhandlungen (K. Bühler) und weiter zur Sprechakttheorie (der späte Wittgenstein ausführlich S. 170ff, Austin, Searle), zur Sprachspieltheorie Ophirs und zu Lübbes funktionaler Sprachtheorie. Lübbes Ansatz zeichne sich dadurch aus, „dass er … Begriffe, Ideen, Worte und ihre Differenz selbst als Momente ideenpolitischer Kämpfe sieht; damit überschreitet er die fachphilosophische Praxis des HWPh. Gut geschult an C. Schmitt und als einer der wenigen, der für die Verbindung des philosophischen und des historisch-sozialen Projekts von Begriffsgeschichte stehen könnte …“. (S. 176) Die Autoren vermögen eigene Bahn zu ziehen, ferne von vordergründig bleibenden Wiederholungen stehender Geltungen, „Wessen Geschichte erzählt die philosophische Begriffsgeschichte?“ fragen sie am Schluss des Philosophiekapitels, und behandelt wird die eingetretene Ernüchterung über den ausgebliebenen Erneuerungsversuch der systematischen Philosophie durch deren Historisierung. (S. 179) Vor allem W. Schröder, zuletzt Mitherausgeber des HWPh, habe von Argumentationen der Cambridge School her gegen das Konzept von Ideengeschichte schlechthin die traditionelle Begriffsgeschichte als in sich widerspruchsvoll gezeigt. Modifikationen von Begriffen durch neue „Merkmale“ setzten neue Begriffe, nicht Begriffswandel. Außerdem vermöchten sich hinter gleichen Worten verschiedene Begriffe verbergen. Doxographie, der „wortgeschichtliche Fesseln angelegt werden“. ersetze die Problemgeschichte. Mit den idealtypischen Begriffskonzepten sei die Tendenz verbunden, „ganze Felder interdisziplinärer Kontexte auszugrenzen.“ (S. 180f.) H. Lübbe ging in seiner Kritik über die Argumentation der analytischen Philosophie hinaus: Die Logik der Philosophie gehorche „nicht einer geheimen Entelechie des Begriffs, sondern der Provokation durch reale Widersprüche, mit denen es fertig zu werden galt.“ (S. 183) Offen lassen die Autoren, ob Lübbe vielleicht die konservative Philosophie-Tendenz der Weimarer Zeit wieder aufgenommen habe, Begriffe auf den realen Boden des Zeitgeschehens durchschlagen zu lassen.

Vier Tendenzen hätten sich seit den Anfängen in der deutschen Linie beim Umgang mit der philosophischen Begriffsgeschichte abgezeichnet: (a) Disziplinäre Fachterminologien erfassen, (b) Verbindungen zur Kulturwissenschaft herstellen, z. B. über die Metaphorologie (Blumenberg, Konersmanm), (c) die Modernisierung der Ideengeschichte durch deren Anschlüsse an die historische Semantik für funktional differenzierte Gesellschaften innerhalb der umfassenden Gesellschaft (sog. Konstellationsforschung, Henrich, Luhmann, Mulsows „Prekäres Wissen“, 2012) und schließlich (d) die generelle interdisziplinäre Öffnung der Begriffsgeschichte. (S. 184f.)

Im Kapitel zu den Geschichts- und Sozialwissenschaften und zur politischen Ideengeschichte (II) wird die Kritik des elementaren begriffsgeschichtlichen Rahmens verlassen. Es beginnt mit dem Problem der politischen Ideengeschichte in Deutschland, geht zur Theorie sozialer Begriffe bei M. Weber, Mannheim,  Schmitt über, schließt Probleme der historischen Semantik an und behandelt eingehend die Historiographie Kosellecks mit guten Aufschlüssen über dessen Anfänge unterm Einfluss Schmitts (S. 209ff.), danach aber dessen Schlüsselbegriffe der europäischen „Sattelzeit“ (1750 – 1850), also „Kollektivsingulare“, „Grundbegriffe“ „asymmetrische Gegenbegriffe“. Die anderen Theoretiker, wie Skinner, Luhmann, treten hinter der Koselleck-Analyse zurück. Sie ist fast der Grundriss einer nach Leitbegriffen gegliederten Koselleck-Monographie. Danach nimmt die Diskussion der Theorie der geschichtlichen Grundbegriffe des 20. Jh. von Geulen das Thema auf. Geulen ersetzte zentrale Begriffe Kosellecks (Verzeitlichung, Ideologisierbarkeit, Demokratisierung, Politisierung) durch vier umgreifende Aspekte der geschichtswissenschaftlichen Begriffsbildung: Einfluss der Fachwissenschaften, Einfluss der auf breite Öffentlichkeit bezogenen neuen Medien, räumliche Ausdehnung mit neuen Aspekten und Termini der historiographischen Themen, schließlich immer vielseitiger werdender Begriffsgebrauch. (S. 384f.) Hier kommen in einer neuen, gesellschaftstheoretisch geprägten Phase der Historiographie über die traditionelle Begriffsgeschichte hinaus die realen fließenden Bedingungen für Begriffsbildungen zur Sprache. Die Autoren referieren und beurteilen ebenso die Polemik Sarasins, der bei Gelegenheit seiner Geulen-Kritik von Foucaultscher Position her die gesamte begriffsgeschichtliche Tradition in Frage stellt. (S. 388ff.)  Damit öffnet sich der Blick hinaus über ihre wissenschaftshistorische Semantik im engeren Sinne.

Die geschichtswissenschaftliche Thematik findet sich, dem nach Disziplinen gliedernden Darstellungsprinzip der Autoren entsprechend, noch einmal und grundlegender im IV. Kapitel (Wissenschafts- und Wissensgeschichte) behandelt (S. 512-614). Hier kommen die Grundlagenkrise der Physik im frühen 20. Jh., das Thema der Denkstile (Fleck), Paradigmenwechsel der Fragestellungen (Kuhn), soziale Grundlagen der Epistemologie (Foucault) zur Sprache. Die Frage nach den Leitbegriffen in den regulären historiographischen Werken bleibt für die spezielle Historie der Begriffsgeschichte natürlich aufschlussreich. Die Unterscheidung der Begriffsgeschichten im realen Gang der Disziplinen und die Beurteilung spezieller begriffsgeschichtlicher Dispute ergeben zwei unterschiedliche Fragerichtungen. Die Autoren lassen das zurücktreten zugunsten der Frage nach den Ursachen und dem Verlauf der begriffsgeschichtlichen Thematik in den unterschiedenen Wissenschaften. Es könnte sich als ein Folgethema ergeben, angeregt von diesem Handbuch. Denn die Einschnitte in der Geschichte der Disziplinen werden in der Regel von der Einführung neuer Leitbegriffe oder vom Streit um die Disziplin tragende Begriffe begleitet. Dieses elementare Begriffsgeschehen steht hinter den reflektierten Begriffsgeschichten, weil sich die Perioden der Disziplinen und die Auseinandersetzungen zwischen deren Richtungen im Medium der sie konstituierenden Leitbegriffe vollziehen. Der Neueinsatz einer kulturhistorischen Mythenforschung gegenüber der altphilologisch geprägten wurde z. B. über markante neue Bestimmungen bestehender Begriffe geführt.5 Interessant ist hier, dass die unterschiedenen Richtungen mit den gleichen Worten verschiedene Begriffe verbinden. Der Unterschied von Wort und Begriff – die Autoren bezeichnen das Thema, es gehört nicht direkt in ihr Buch – trennt oft Welten des Denkens. Man denke an Haupt-Worte, wie etwa ‚Person’, ‚Gewissen’, ‚Wahrheit’, in den Begriffen der Philosophie, der Theologie, der Psychologie.

Zu den Vorzügen des Buches gehört, dass es die Thematik im doppelten Gang von Spezialisierung auf neue Disziplinen und dabei als Erweiterung des bereits Dargestellten behandelt. Die begriffshistorischen Grundthemen werden durch die den verschiedenen Disziplinen gewidmeten Kapitel in einkreisender Bewegung dargestellt, oft mit Erwähnung der aufkommenden zeitgeschichtlichen Faktoren. Schon für Philosophie und Historiographie, weit mehr noch bei Sprach- und Kommunikationswissenschaften und bei der Wissenschaftsgeschichte zeigt dieses Kompendium, dass im Grunde bereits eine ganze Epoche bürgerlicher Kulturwissenschaften zum Ende gekommen ist. Die Dynamik der Disziplinen bildet neue interdisziplinäre Grundlagen für das Verständnis der theoriehistorischen Konzepte. Grundlage sind die Schübe der realen Kommunikationen der ihre Strukturen immer neu vernetzenden Gesellschaften. Das war vom Buch nicht in den Details mit zu behandeln. Es wäre ein zweites Folgethema, angeregt vom vorliegenden Kompendium. Eingehend wird hier allerdings gezeigt, dass das theoriehistorische Element mit der je aktualen Evolution der Disziplinen verbunden ist. Zugleich verliert das klassische begriffshistorische Konzept durchgehender Genealogien am Leitfaden von Termini die Zugriffsmöglichkeit. Die Autoren akzentuieren die gegenüber der Philosophie ganz andere, flächenhafte Sicht der Linguistik auf die wissenschaftsgeschichtliche Thematik. (S. 402ff.) Hier kommen die Tiefenschichten der Thematik zur Sprache. Sie sind schon in der Frage enthalten: Welche Bedeutung wird einem durchgehenden Begriff, der doch eigentlich nur ein Wort ist, in welchem bestimmten Kontext zuzusprechen sein?

Eine grundsätzliche Dimension der gesamten Thematik wird mit dem Linguistik-Kapitel erreicht. Überhaupt erweist sich nun der Fortgang der Kapitel als ein Konkretisierungsprocedere der Thematik hin zu generellen Fragen des Verstehens vergangener sprachlicher – und auch bildlicher – Bedeutungen. Mit dem Romanisten W. Krauss wird gezeigt, dass es gar keine isolierte monographische Wort- und Bedeutungsgeschichte geben könne. Auch würden durch Anlagerung neuer Bedeutungen an Begriffe die zuvor bestehenden keineswegs außer Kraft gesetzt. (S. 441ff.) Identische Bedeutungen seien doch immer eine praktisch-kulturell motivierte Konstruktion idealer Gegenstände. In dieser (Husserlschen) These gelangen die unterschiedlichen Linien der geisteswissenschaftlichen (führend die Romanistik, Auerbach, Vossler), der naturwissenschaftlich orientierten (die „Junggrammatiker“, Leskien u. A. unterm Einfluss du Bois-Reymonds) und der strukturalistischen Sprachforschung (de Saussure) in ein diskutierbares Verhältnis zueinander. (S. 407ff., S. 443ff.) Das Kapitel IV zur Wissenschafts- und Wissensgeschichte erweitert das für die Physik, deren Gegenstandskonstitutionen sich ebenfalls als von historisch relativen Prämissen abhängig erwiesen hätten. (S. 512ff.) Die sprachwissenschaftlich geführte Semantik vermöchte dann die Bezüge zwischen Wort, Begriff und Bedeutungsfluss von den gemeinsprachlichen Begriffsquellen her analytisch aufzulösen. Von ihr kommt die Zurücksetzung der traditionellen Beziehung von Wort, Begriff und Sache (sog. „semiotisches Dreieck“) zugunsten der Funktion der Sprache als Artikulation der Verständigung über konkrete soziale und kulturelle Vorgänge. Das Kompendium bietet im dritten, dem sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Kapitel eine die kontrastreichen Konzepte nachzeichnende Einführung in die Geschichte der sprachwissenschaftlichen Semantik. Ein nicht sozialhistorisch vermittelter, sondern rein fachtheoretisch eintretender Krisenbegriff der geltenden Begriffswelt in den Disziplinen Physik, Mathematik wird in Kapitel IV (Wissenschaftsgeschichte) eingeführt.

Dazu kommt ein Thema historischer Semantik: Erzeugt die Krise einer Disziplin theoretischen Fortschritt oder nur eine veränderte Weise der Fragestellung? Die Autoren belasten ihr konzentriertes Projekt nicht mit der weit hinaus lenkenden Thematik. Aber sie schließt sich dem vorgelegten Werk an. Benjamin notierte sich in den „Passagen“: „Wovor werden die Phänomene gerettet? Nicht nur, und nicht sowohl vor dem Verruf und der Missachtung in die sie geraten sind als vor der Katastrophe wie eine bestimmte Art ihrer Überlieferung, ihre „Würdigung als Erbe“ sie sehr oft darstellt. – Sie werden durch die Aufweisung des Sprungs in ihnen gerettet. – Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist.“6 Ich füge das an, nicht zur Belehrung, sondern ebenfalls zur durchs Kompendium angeregten Überlegung für darauf aufbauende Projekte. Es haben ja ohnehin die verschiedenen Disziplinen ihre ihnen immanenten, eigenen Begriffsgeschichten. Ganz allgemein zeigte das bereits die vielbändige „Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit“ (S. 1870ff., München, R. Oldenbourg). Das beleuchtet die Frage, in welchem Verhältnis eigentlich die formelle begriffsgeschichtliche Programmatik stehe zum generellen Historismus, dessen jede Epoche bedarf, und den sie sich verschafft.

Das Kapitel „Kulturwissenschaft, Cultural History, Cultural Studies“ (V) führt das Kompendium endgültig von den thematisch spezielleren ersten Kapiteln aufs freie Feld umfassender Einbettung von Wissenschaftsgeschichten in die Kultur der unbewussten und später partiell reflektierten Kollektivsymbole. Der Gang der Darstellung von Freud, Warburg, Wind, Kracauer u. A. zur neuen cultural history als einer „zweiten Kulturwissenschaft“ mit einer Vielzahl aktueller Theoretiker bereitet hohen theoretischen Genuss. Merkwürdig, dass ein großer Kulturhistoriker auf Basis der Bildsymbole, dass W. Fraenger ausgespart bleibt. Zum ersten Schluss resümieren die Autoren „Begriffsgeschichte im globalen Zeitalter“ und die spezifischen Probleme der erforderlich gewordenen interdisziplinären Begriffsgeschichte. (S. 801-842) Ein außerordentlicher formeller Schluss verzeichnet und beurteilt Institutionen, Zeitschriften, große Lexika zur Thematik. Ein Fachbuch ist hier geschrieben worden, in einem Universitätszeitalter, das dabei angelangt ist, dass selbst einfache Handbücher über einen einzelnen Philosophen oder Romancier meist nur noch von fünf oder mehr eilig Position beziehenden Autoren vorgelegt werden.

Die Autoren haben auf einem zentralen Feld der Wissenschaftshistoriographie, denn das sind die Begriffsgeschichten, ein außerordentliches Kompendium geschaffen. In seinem analytischen Bestand zeichnet es sich durch reiches Material und durch dessen kritische zeitgeschichtliche Charakteristik aus. Der Nutzer erhält einen zuverlässigen Überblick für jede der begriffshistorischen Disziplinen. Die synthetisierende Methode der Darstellung mehrerer fachwissenschaftlicher Disziplinen öffnet dann die Thematik zur kritischen Historiographie der verschiedenen Fächer. Die an sich eingrenzende Methode der Begriffsgeschichte gelangt in den erweiterten vergleichenden Horizont. Dadurch gewinnt das Buch seinen übergreifenden kulturhistorischen Charakter. Die selbstreflexiven Zeugnisse der Disziplinen werden in ihren kultur- und gesellschaftstheoretischen Bezügen erkennbar. Mit nüchternstem Urteil den Rang des Buches anerkannt: Es wird sich für lange Zeit als ein Nachschlagewerk bewähren.


Fußnoten

1 Knappe Grundrisse der begriffsgeschichtlichen Thematik erschienen bereits in Sonderheften des „Archivs für Begriffsgeschichte“: Scholz, G., (2000): Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg, Verlag Felix Meiner; Müller, E. (Hg.) (2004): Begriffsgeschichte im Umbruch?, Hamburg: Verlag Felix Meiner. 2 Grimm, Jakob (1848): Geschichte der deutschen Sprache, Leipzig: Weidmannsche Buchhandlung, S. XIII. 3 Adorno an W. Benjamin 1935, in: Adorno – Benjamin (1994), Briefwechsel 1928 – 1940. Frankfurt /M.: Suhrkamp Verlag, S. 144. 4 „Es gehört mit zu den schmerzlichsten Erfahrungen meines wissenschaftlichen Lebens, dass es mir nur selten, ja ich möchte sagen niemals gelungen ist, eine neue Behauptung, für deren Richtigkeit ich einen vollkommen zwingenden, aber nur theoretischen Beweis erbringen konnte, zur allgemeinen Anerkennung zu bringen." Zu seiner neuen Theorie der Verbindung von Wärme und Gewicht: „… gegen die Autorität von wie W. Ostwald, G. Helm, E. Mach war eben nicht aufzukommen.“ (Planck, M. (1948), Wissenschaftliche Selbstbiographie, Leipzig: Johann Ambrosius Barth, S. 19.) 5 Der Ton des Umbruchs konnte recht entschieden werden, wie es z. B. von der 1907 begründeten Reihe der in der Leipziger J. C. Hinrichs’schen Buchhandlung erscheinenden Mythologischen Bibliothek formuliert wurde. „Wem aber gewisse Ausführungen darin zu scharf klingen, der möge nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft Anschauungen und Forschungsweisen zur Geltung bringen will, die bisher in den allerschärfsten Ausdrücken … bekämpft worden sind.“ (Lessmann, H., 1908, Aufgaben und Ziele der vergleichenden Mythenforschung, I. Bd., , H. 4, S. IV; die Begriffsthematik in der Mythenforschung kommt speziell im Abschnitt 5, Mythen-Systeme, S. 31ff.) 6 Benjamin, W. (1982): Das Passagen-Werk, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, Erster Band, S. 591.