Hans Kruschwitz: Agon und Desengagement. Über liberale Mimikry und linkes Renegatentum
Abstract: This article describes the liberal mimicry of the New Right and the attitude of disengagement that springs from it as an essential point of contact for leftist renegades. Using the example of a volume of stories by the writer Botho Strauß, who was originally considered more of a leftist, he shows how important set pieces of this attitude – from the rejection of the concept of progress to the pose of the aestheticist spectator – recur in his work. In addition, he outlines the extent to which Strauß’ ›aesthetic mobilization‹ against the alleged ›left-wing mainstream‹ was inspired by the latter’s reception of Foucault – and the extent to which Foucault can thus be understood as a ›bridge-builder‹ between right and left, even if he himself was not a right-winger and can hardly be claimed by the New Right.
Keywords: new right, liberal mimicry, disengagement, aesthetic mobilization, renegacy
1. Liberale Mimikry
Obwohl der Liberalismus ihr erklärter »Hauptfeind« ist,1 kokettiert die Neue Rechte gerne mit ihrer Liberalität. Die Operation, die sie dabei durchführt, ist die des mathematischen Vorzeichenwechsels. Wie die Linke unterzieht die Neue Rechte die Zentrismen, die die europäische Kolonialgeschichte, seine Rassismen und seine Genozide getrieben haben, mittlerweile einer scharfen Kritik,2 allerdings tut sie es nur, um deren Geschichte bis zur Erklärung der universellen Menschenrechte fortzuschreiben3 und damit den liberalen Egalitarismus der Gleichmacherei anzuklagen. Denn bewirke der liberale Egalitarismus, so fragen die Vertreter der Neuen Rechten unter Berufung auf Ernst Jünger4, nicht das Gegenteil der Anerkennung kultureller Differenzen? Schaffe die ›Doktrin‹ von der Universalität der Menschenrechte nicht lediglich eine neue, willkürliche eurozentrische Norm?
Insbesondere Armin Mohler, den man mit Recht als Gründungsvater der Neuen Rechten bezeichnen darf,5 hat das so gesehen und den westlichen Egalitarismus, den seine Epigonen als »Sozialdemokratismus« verschreien, dem alle Differenzen »für schlechthin unerträglich gelten«6, programmatisch einen ›rechten Sinn‹ für das Mannigfaltige entgegengesetzt. Der Rechte oder Faschist, so erläutert Mohler, wolle die Dinge nämlich gerade nicht gleichmachen, »die Welt« nicht »in ein vorgefaßtes Schema pressen«, sondern einfach wahrnehmen, »was da ist«7. Er verzichte auf umfassende Welterklärungs- und Ordnungssysteme, um das »Einzelne« und »Besondere« in den Blick zu bekommen.8 Die einzige starre Dichotomie, die er anerkenne, sei die von »Form und Formlosigkeit« als die zwischen dem Geformten und dem Chaotischen oder Gleichgemachten. »Einheit in der Vielfalt (und umgekehrt)«, so Mohler, sei dem Rechten »Selbstverständlichkeit.«9
Zentrale Grundwerte des Liberalismus wie Sinn für Toleranz, Freiheit (gegenüber generalisierenden Ansprüchen) und Selbstbestimmtheit, so endet die Operation des Vorzeichenwechsels, würden demnach gar nicht vom Liberalismus selbst, sondern von den Rechten vertreten. Martin Lichtmesz, einer der umtriebigsten von Mohler beeinflussten Publizisten, erklärt in seinem Traktat über die Vielfalt entsprechend selbstbewusst: »Die Idee der Vielfalt als Wert hat in Wirklichkeit ihre legitime Heimat auf der Rechten, während ihre Beschlagnahme durch den politischen Gegner ihre Orwell’sche Verkehrung ins Gegenteil zur Folge hat.«10 Ähnliches kann man, wenn man möchte, auch bei Alain de Benoist, dem Vordenker der französischen Nouvelle Droite lesen.11
Der philosophische Fluchtpunkt dieses ›rechten Pluralitätsdenkens‹ ist Friedrich Nietzsche. Mohler hat ihn schon in seiner Dissertation Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932 (1950), mit der er den Mythos von einer deutschen Rechten gestiftet hat, deren Denker man nach 1945 allzu undifferenziert dem Nationalsozialismus zugeschlagen hätte, obwohl sie in vielem seine Antipoden gewesen wären, als spiritus rector seines Denkens markiert.12 Die beiden wichtigsten Schlagworte, die er von ihm übernimmt, sind schnell benannt. Sie lauten »Nihilismus« und »Ewige Wiederkehr«, und ihr Ineinandergreifen sei im Folgenden kurz skizziert:
Mohler verbindet Nietzsches Einsicht in den Konstruktionscharakter metaphysischer Begriffe, seinen Ruf vom ›Tod‹ Gottes als jener Instanz, die diesen Begriffen allein ein Zentrum gegeben habe, kurz: Nietzsches Übergang zum Nihilismus,13 richtig mit dessen Rückwendung von der linearen zur zyklischen Zeitvorstellung. Hatte das Christentum die antike Ansicht vom Kreislauf des Natürlichen durch die Lehre vom (heils)geschichtlichen Fortschritt verdrängt, der einen klaren Anfang und ein klares Ende hat, so wandte sich Nietzsche im Anschluss an den von ihm verkündeten ›Tod‹ Gottes tatsächlich wieder einem Kreislaufdenken zu: »Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. / Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins.«14
Bei der Neuen Rechten erhält sich diese Ablehnung der Fortschrittsidee einerseits in der ausdrücklichen »Bejahung der Welt, ›wie sie ist‹«15, in der »tragischen Zustimmung« zu ihr und allem, »was in ihr geschieht«16, sowie andererseits in der Ablehnung bestimmter Denkfiguren, die gleich noch näher erläutert werden sollen. An die Stelle der ›Linie‹ setzt die Neue Rechte den ›Kreis‹, an die Stelle des ›Begriffs‹ setzt sie das ›Bild‹, und an die Stelle des ›Systems‹ die ›Kunst‹.17 Häufig liest man bei ihren Vertretern, dass der Rechte »eher eine ästhetische Sicht« auf die Welt habe, ähnlich »wie sie Künstlern eigen ist.«18
Die Angst der Neuen Rechten vor dem ›Systemischen‹ – das sie in der Theoriebildung gleichwohl anstrebt19 – ist dabei mit der Vorstellung verbunden, dass Systematisierung immer Funktionalisierung und Entfremdung bedeutet. Der Mensch, der in einer ›systemischen Welt‹ lebt, ist für sie immer schon ein gleichgemachter, aufs bloße Funktionieren reduzierter Mensch. Wirklich hervortreten kann der Mensch in seiner Einzigartigkeit aus Sicht der Neuen Rechten nur in einer ›organischen‹, das heißt von geschichtlichen Auslese- und Differenzierungsprozessen ›natürlich‹ gegliederten Welt oder im Kampf. Denn hier, in der ›organischen Welt‹, wäre der Mensch eben ein von ganz spezifischen Traditionsbeständen geprägtes, vom liberalen Konstrukt des ›allgemeinen Menschen‹ scharf unterschiedenes Subjekt – und dort, im Kampf, würde er durch den Schock der existentiellen Erfahrung alles ›aufgesetzte Allgemeine‹ schnell abstreifen. Wo das »rein Agonale« hervortritt20, verschwindet nach Mohler nämlich alle Ideologie. »Das geformte Gebilde, in das man sich, angesichts des Chaos, zurückzieht«, so schreibt er, sei die gerade »noch überschaubare kämpfende Einheit«,21 die oft genug nur vom Charisma ihres Führers zusammengehalten werde.
Mit der Idee des Kampfs, der den Menschen aus allen falschen Allgemeinheiten befreit und zur ›Wahrheit‹ des ewigen Kreislaufs zurückführt, stößt man ins Zentrum des neurechten Denkens vor. Das »rein Agonale«22 ist die Brandmauer der Neuen Rechten gegen die ›soziale Maschinerie‹23, deren Entstehung sie überall dort wittert, wo sich »der Typus ›Herdentier‹«24 ausbreitet, angeführt von den, wie Mohler sie verunglimpft, politischen »Mechanikernaturen«25, die im beständigen Eifer, die Welt besser zu machen, alles immer nur gleichmachen. Carolin Amlinger hat diesen ins Technikfeindliche übergehenden Affekt der Neuen Rechten treffend beschrieben:
Die vollständige Erfüllung moderner Prinzipien – Fortschrittsdenken, Rationalisierung und Naturbeherrschung – generiert auf der Ebene der politischen Ordnung, so die einhellige Ansicht der Neuen Rechten, eine neue Form postpolitischen Regierens, das die Bürger durch technokratische Kontrolle verwaltet.26
Es ist an dieser Stelle, dass das von Nietzsche abgeleitete ›rechte Pluralitätsdenken‹ seine Grundlage erhält: Hier ist das vermeintlich realistische, am ›Kreis‹ der ewigen Wiederkehr orientierte Denken, das – frei nach Mohler – die Einzigartigkeit jeder Kultur und ihres Versuchs würdigt, diesem »rätselhafte[n] Ineinander von Vernichtung und Geburt« etwas wie auch immer Geformtes entgegenzuhalten, das »dem Chaos standhält«27. Dort ist das angeblich utopische, an der ›Linie‹ des Fortschritts orientierte Denken, das den vermessenen Versuch unternimmt, das Tragische aus der Geschichte zu bannen, und nicht erkennt, dass der ›sogenannte Fortschritt‹ immer auf Homogenisierung, das heißt auf dem Abbau des Einzigartigen beruht. Der heroische ›Kampf gegen das Chaos‹ wird damit gegen das ›Automatenleben‹ in Stellung gebracht, das den Menschen – so schließt man an eine Denkfigur der Romantik an28 – angeblich zur Maschine herabwürdigt. Entsprechende Vorwürfe, die sich ganz explizit auch gegen den Ausbau des Fürsorge- und Wohlfahrtsstaats richten, finden sich unter anderem in den Schriften von Ernst29 und Friedrich Georg Jünger30. Von ihnen führt eine gerade Linie zu Rolf Peter Sieferle, der in seiner Nachlassschrift Finis Germania (nicht: Germaniae) (2017) aus demselben Geist gegen Ulrich Beck polemisiert:
Nietzsche hatte von der Herde gesprochen, deren Moral die moderne Welt kennzeichne – er hatte dabei die Schafherde vor Augen, die vielleicht sogar von einem (mehr oder weniger guten) Hirten geweidet wird. Heute scheint sich für die Beschreibung solcher moralischen Ordnung eher das Bild des Hühnervolks anzubieten. Sein erstes Merkmal ist die rasche Bereitschaft zur Furchtsamkeit, zur Panik vor allem, was auch nur im entferntesten nach einem Fuchs aussieht. Nur ein Deutscher konnte auf die Idee kommen, den Zustand der Herde, die bis ins Letzte sozial-, kranken-, hausrat-, unfall- und feuerversichert ist, mit dem Begriff einer »Risikogesellschaft« zu belegen.31
Wesentlich ästhetisch ist das neurechte Ideal vom ›heroischen Kampf‹, weil dieser Kampf sich in letzter Konsequenz von Nietzsches Denken, wonach »das Dasein und die Welt« »nur als ästhetisches Phänomen« auf »ewig gerechtfertigt« sind32, gar nicht sachlich, sondern nur stilistisch fundieren lässt. Sieferle bringt das völlig klar auf den Punkt, wenn er schreibt: »Es gibt keine natürliche Grenze« des Nietzscheanischen Nihilismus. »Er macht nicht vor der Unterscheidung von Kultur und Kultur, von Epoche und Epoche, von Gruppe und Gruppe halt. […] Die eigene Kultur […] wird zu einer Möglichkeit unter unendlich vielen«33. Das Einzige, das einer Kultur im Widerstand gegen den ununterbrochenen Strom von Werden und Vergehen noch besonderen Wert verleiht, ist die Einzigartigkeit der Form, die sie ihrem Betrachter darbietet. Folgerichtig beantwortet Sieferle die Frage, was am Ende des Relativismus, »d.h. nach Abstreifung der letzten normativen Elemente« noch übrigbleibt34, auch unter Reverenz an »Ernst Jünger als Erzieher«3536: »Es bleibt allein ein wechselvolles Spiel der Musterbildung, und es bleibt die Möglichkeit, dieses mit interesselosem Wohlgefallen zu betrachten […] als die letzte und radikalste Form des Erhabenen.«37
Entscheidend kann für die Neue Rechte im Nachraum Nietzsches damit nicht mehr sein, dass sich das Eigene im Kampf tatsächlich behauptet, sondern nur, dass es bis zuletzt unverwechselbar bleibt. Die Gegnerschaft des Eigenen zum Fremden braucht nicht auf Geringschätzung, gar auf einem essentialistischen Hierarchiedenken, aufgebaut zu werden. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade das Bewusstsein vom Fehlen absoluter Maßstäbe macht die Niederlage des Eigenen im Kampf – wenigstens prinzipiell – genauso erträglich wie den Sieg. Darum kann Mohler in seinem Traktat über den »Faschistischen Stil« schreiben, dass der Faschist für den »Kampf an sich« brennt – dass es ihm im Kampf aber »wenig darauf ankommt, daß der Angesprochene […] auf der anderen Seite« steht.38 Mohlers Faschist soll frei von Essentialismus sein. Keine Idee soll ihn zum Kampf treiben, sondern das Bewusstsein, dass Distinktion im ewigen Wechsel von »Vernichtung und Geburt«39 nur durch Widerstand gegen das Zurücksinken ins Ungeformte gewonnen werden kann. Welcher konkrete Inhalt sich mit dem auszufechtenden Kampf verbindet, ist für Mohler ausdrücklich nachrangig, »der Stil tritt vor die Gesinnung, die Form rangiert vor der Idee.«40 Und weil das auf beiden Seiten einer Auseinandersetzung so ist, schreibt Mohler, könne zwischen miteinander Kämpfenden sogar »eine besondere« Art der »Brüderlichkeit« entstehen.41 Oft, so behauptet er, stünden sich die Kontrahenten auf dem Schlachtfeld näher »als dem ›Bürger‹, dem ›Spießer‹ im eigenen Lager«,42 und zwar um so mehr, wenn der Kampf bereits aussichtslos, das heißt strategisch sinnlos oder reine Gebärde geworden sei. Denn im Übergang zur bloßen Gebärde kommt der Faschismus für Mohler zu sich selbst:
Faschistische Gewalt ist direkte, […] sichtbare, demonstrative Gewalt, die immer zugleich auch symbolisch wirken soll: […] das Aufpflanzen der eigenen Fahne auf dem feindlichen Hauptquartier oder etwa das Halten eines als sinnbildlich geltenden Gebäudes um jeden Preis, auch wenn es militärischen Fachleuten als sinnlos erscheint und sinnlose Opfer kostet. Wobei der Sinn solcher Opfer eben gerade in ihrer offensichtlichen Sinnlosigkeit liegt.43
Was bei Mohlers Feier des Kampfes und seiner Konturierung des Faschismusbegriffs auffallen muss, ist zweierlei – nämlich erstens, wie richtig Walter Benjamins und Susan Sontags Hinweise auf die Ästhetisierung des Politischen im Faschismus waren. Man sieht, dass Benjamins Urteil, nach dem die »Selbstentfremdung des Menschen« im Faschismus einen »Grad erreicht«, der ihm noch »seine eigene Vernichtung« zum »ästhetischen Genuß ersten Ranges« macht44, von Mohlers Kult um das sinnlose Opfer exakt bestätigt wird. Man sieht auch, dass Sontags Erinnerung an Joseph Goebbels, der den Politiker mit einem Künstler verglich, der Staat und Volk distinkte Formen verleiht,45 in Sieferles Klage über die allgemeine Stillosigkeit der politischen Nachkriegskultur in Deutschland, die man als Konsequenz der Massendemokratie wohl oder übel zu ertragen habe,46 ein entlarvendes Komplement besitzt.
Wichtiger im hiesigen Zusammenhang ist jedoch das Zweite, das auffallen muss, nämlich die merkwürdige Tatsache, dass die neurechte Feier des »rein Agonalen«, so vitalistisch sie daherkommt, im Grunde ein Plädoyer für Desengagement ist. Der Kampf wird nicht gelobt, weil er das Schicksal in Machsal verwandeln würde. Damit bliebe man hinter Nietzsches Nihilismus zurück. Die Hingabe an ihn ist vielmehr Ergebung ins Schicksal. Seine Grundlage ist, um noch einmal Mohlers Anschluss an Nietzsche zu zitieren, die »Bejahung der Welt, ›wie sie ist‹«47. Er basiert, wie Benoist formuliert, auf dem amor fati, der »tragischen Zustimmung« zu dieser Welt und allem, »was in ihr geschieht«.48 Denn das Leben ist nun einmal Konflikt.49
Die vorgebliche Liberalität der Neuen Rechten, ihr Sinn für die »Vielfalt als Wert«50, gibt sich damit – im Kern – als ungeheure Gleichgültigkeit zu erkennen, und zwar dem Eigenen genauso wie dem Fremden gegenüber. Mohlers Verzicht auf umfassende Welterklärungs- und Ordnungssysteme mag darauf zielen, das »Einzelne« und »Besondere« in den Blick zu bekommen51 – aber dieser Blick ist durch und durch kaltblütig. Er mag vieles verzeichnen, emotionale Bindungen erzeugt er nicht. Wieder ist es Sieferle, der das völlig klar artikuliert, wenn er – weiterhin an »Ernst Jünger als Erzieher«52 orientiert – als die einzige heute noch mögliche Haltung gegenüber der Welt die des teilnahmslosen, ganz und gar ästhetizistischen Zuschauers bestimmt:
Es kommt […] darauf an, hinter den Zerstörungen die Muster der Ordnung zu sehen, wobei es sich nicht um eine Ordnung handeln kann, die kommen wird (oder soll), sondern allein um eine Ordnung, die sich im Prozeß der Zerstörung offenbart. Die Geschichte der Menschheit ist bis in ihre finale Krise hinein als ein grandioses Naturschauspiel anzusehen. Die letzte ästhetische Möglichkeit liegt in der Radikalität einer solchen neutralen Beobachterposition, die sich jenseits von Gejammer, von Kritik und Praxiswut ansiedelt.53
2. Das Beispiel Botho Strauß54
Fragt man danach, wie linke Intellektuelle ihren Weg zur Neuen Rechten finden, muss eine Antwort lauten: nicht zuletzt über diese Brücke des ästhetischen Desengagements. Als Beispiel für einen, der sie begangen hat, darf der Schriftsteller Botho Strauß gelten, der als Adorno-Adept lange Zeit als eher linker Schriftsteller galt, bevor er sich spätestens 1991, mit der Veröffentlichung des sofort heftig umstrittenen Spiegel-Essays Anschwellender Bocksgesang, dezidiert rechts positionierte.
Unter den jüngeren Veröffentlichungen von Strauß befindet sich u.a. der 2019 erschienene Erzählband zu oft umsonst gelächelt, dessen großes Thema die Liebe ist. Ein alter »Romancier« hebt darin an, dem »jungen Kollegen«55, den er zum Abendessen eingeladen hat, von den »ausgestorbene[n] Liebesarten«56 der Menschen zu erzählen, indem er sagt:
Was bleibt mir von der Welt als nur die Episode? Von Mann und Frau, von Gott und Mensch? Die Episode. Es folgt nun eine auf die andere, narratio continua. Ein Wort gibt das andere… Der Personen Schreien, Weinen, Befehlebrüllen, ihr Beten und Schmeicheln, ohne jeden Zusammenhang, nur Stöße, Reize, Sprünge, Wirbel: immerzu auf den Spuren ausgestorbener Liebesarten.57
Was auf diese Einleitung folgt, ist eine Reihe von Prosaskizzen, die tatsächlich allein vom Thema Liebe lose zusammengehalten und nur dann und wann von einer in Kursivschrift eingeschobenen Metareflexion des Romanciers unterbrochen werden. Der Band widerspricht damit, ähnlich wie das schon frühere Bände von Strauß getan haben, bereits formal der Idee von Zusammenhang und Fortschritt. Aber nicht nur das, er verdeutlicht überdies, was es heißt, die »Geschichte der Menschheit« mit Rolf-Peter Sieferle als »grandioses Naturschauspiel anzusehen« – oder anders formuliert: Er führt vor, was es bedeutet, zur ›ästhetischen Mobilmachung‹ der Neuen Rechten beizutragen. Drei Charakteristika des Bandes sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig.
Da ist zunächst das Motiv der Liebe, dem Strauß sich bereits so häufig gewidmet hat, dass Stefan Willer geradezu von einer »Liebestheorie« des Autors hat sprechen wollen.58 Seine Besonderheit soll darin bestehen, dass der Wunsch und die Bereitschaft, sich einem anderen mit Urvertrauen hinzugeben, immer wieder mit der Erfahrung von »Fremdheit, Zufall« und »Plötzlichkeit« verspannt wird.59 So ist es bereits in Paare, Passanten (1981) und in Niemand anders (1987), und so ist es auch hier. Gleich in einer der ersten Skizzen des Bandes tritt ein Paar auf, über dessen männliche Hälfte der Romancier sagt, dass er »der größte Unordnungsstifter von allen«60 sei. Sie, so ergänzt er, stehe ihm allerdings in nichts nach. Die Wohnung der Freunde, in der sie übernachten, verwandeln sie darum innerhalb kürzester Zeit in ein Schlachtfeld, und als zwischen ihnen ein Streit ausbricht, wer an dem Chaos schuld sei, einigen sie sich zur beiderseitigen Entlastung schnell auf die Formel: »Nichts, wo Menschen am Werk sind, befindet sich am rechten Fleck. In der gesamten Weltgeschichte gibt’s weltweit ein ständiges Suchen, Verlegen, Vergessen, Verwechseln und Liegenlassen.«61 Das ist offenbar eine traurige Einsicht für sie. Darum rufen sie sogleich mit einer Stimme: »Halt, […] [n]icht weiterschweifen! Am Ende plagt uns Ernüchterung, und nichts zum Verlieben können wir je wieder aneinander entdecken.«62 Ihre Liebe soll sich also als beides erweisen: einerseits als das weitgeöffnete Tor, durch das das Chaos (in Gestalt des Partners) in ihr Leben einbricht, andererseits als die Rettung (ebenfalls in Gestalt des Partners) vor der ernüchternden Einsicht in eben dieses immer wieder einbrechende, nicht auszumerzende, vernichtende Chaos.
Das zweite Charakteristikum des Bandes steht unmittelbar mit dem so umrissenen Doppelcharakter der Liebe in Zusammenhang und äußert sich als Vorstellung, dass Weltgeschichte eigentlich nur als Aggregat zusammenhangloser Bruchstücke verstanden werden kann. Aus einer höheren Perspektive ist die Liebe, wenn man sich dafür eines Zitats aus Strauß’ Essay Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (1991) bedienen möchte, lediglich der Sprengsatz, der das »scheinbar undurchdringliche Geflecht von Programmen und Prognosen, Gewöhnungen und Folgerichtigkeiten«63, das die Menschen gesponnen haben, um die Weltgeschichte als eine zusammenhängende erscheinen zu lassen, zerreißt und uns auf diesem Wege daran erinnert, »daß es der Geschichte sehr wohl beliebt, Sprünge zu machen, ebenso wie der Natur.«64
Wie sehr Strauß gegen dieses »scheinbar undurchdringliche Geflecht« ankämpft, offenbart sich insbesondere an jenen Stellen des Bandes, wo er seinen Romancier daran gehen lässt, die »liberalen Sicherungen unserer Moral«65 als wesentlichen Teil jenes Geflechts außer Kraft zu setzen. Das ist zum Beispiel in der kleinen Skizze vom Maler Vescor der Fall, den Strauß’ Romancier nicht nur als Sohn eines »tapfere[n]« holländischen »Widerstandskämpfer[s] und Antifaschist[en]« vorstellt66, sondern auch als Abkömmling eines »eitle[n]« und »kalte[n]« Manns, den er stets als »widerwärtig«67 empfunden hat. Anstatt mit dem Vater hält Vescor es Zeit seines Lebens eher mit der Mutter, obwohl diese ihren Mann ausgerechnet in der schwierigsten Zeit seines Widerstands betrog. In der Erinnerung an sie und an ihre Untreue ist Vescor der »Entwurf einer gestaltenreichen, frei erfundenen Mythologie«, »einer dunklen, gewalttätigen Alptraumgesellschaft« gelungen68 – wofür er indes nicht nur Anerkennung erringt, sondern gerade im Bekanntenkreis seiner Freundin, einer jungen Kunststudentin, auch unter Druck gerät. Der offenkundige Bruch mit dem Vater, der sich ausgehend von der Ästhetik bis aufs Feld der Politik zu erstrecken scheint, wird nämlich sozial sanktioniert. »Reaktionärer Kitsch!«69, schallt es der Referentin entgegen, die es wagt, Vescors Werke an der Staatlichen Kunstschule in den Rang großer zeitgenössischer Malerei zu erheben. Sein Credo: »Ich bin dabei, alles Neue mit feurigem Altem zu zertrümmern«70 wird von den Kommilitoninnen und Kommilitonen seiner Freundin als Salafismus auf ästhetischem Gebiet gerügt.
Dass politische Ansprüche an die Kunst gestellt werden, soll offenbar als Skandal empfunden und die Erzählung von der Liebe zwischen Vescor und seiner Freundin als Sprengsatz wahrgenommen werden, der das politisch korrekte »Geflecht von Programmen und Prognosen, Gewöhnungen und Folgerichtigkeiten« auflöst, um kenntlich zu machen, worum es sich bei diesem Geflecht in Wahrheit handelt: nämlich um ein verfestigtes ideologisches Gerüst, das der Disparatheit der politischen, privaten und ästhetischen Bruchstücke, die es zu verbinden sucht, nicht im Ansatz gerecht wird.
Noch deutlicher wird Strauß’ Abneigung gegen solche angemaßte ideologische Deutungshoheit über die disparaten Bruchstücke der Wirklichkeit, wenn Strauß seinen Romancier in einem jener wenigen Prosastücke, die eigentlich gar nichts mehr mit Liebe zu tun haben, kaum verhüllt gegen die ›rot-grüne Meinungsdiktatur‹ vom Leder ziehen lässt, die – insbesondere nach neurechter Ansicht – in Deutschland herrscht. Es soll dies eine Meinungsdiktatur sein, die darauf aus ist, es jedem mutmaßlich Benachteiligten oder Zukurzgekommenen recht zu machen, indem man ihre Geschichte in einen allgemeinen Opferdiskurs einbettet, und in der es darum unmöglich ist, (wie Vescor) noch irgendeinen eigenen, abweichenden Standpunkt zu vertreten:
Gisbert, ein Mann, der sich in Gegenwart jedes Menschen, der eine feste Behauptung aufstellt, geradezu windet vor Zustimmung, der’s voller Bestätigungsdrang gar nicht erwarten kann, in ein erlösendes Nicken und Bejahen zu verfallen, sich von ganzem Herzen sinken läßt in die Zustimmung. Bestätigen als Daseinsform. Dagegen schlingernd, vorbehaltlich, verschämt und unterwürfig, was er selbst als Urteil oder Meinung beisteuert, der offenen Behauptung eher ausweichend.
Der kleine Gisbert, Begründer der Gisbertologie, der Lehre vom Zustimmen. Am Beispiel des Gisbert, der zart und mitfühlend ist und sich auch an Hitzetagen stets eine rot-grün karierte Decke über die Beine legt, lernt man, wie man bekräftigend wirkt auf seinen Nächsten.
Seit jeher vermeidet er, eine abweichende Meinung zu vertreten. Der moralische Anspruch des Abweichens und Andersseins überfordert ihn.71
Gegen solche Neigung, sich zur Geisel der Ansprüche anderer zu machen,72 aus den vereinzelten Ansprüchen gar eine zusammenhängende »Lehre vom Zustimmen« zu entwickeln, lässt Strauß seinen Romancier offen für einen Umgang mit Geschichte plädieren, in dem Vergangenheit und Gegenwart ohne ›ideologische Scheuklappen‹ angesehen werden und das Geschehene in seiner Bruchstückhaftigkeit erhalten bleibt. Wie das funktionieren soll, scheint wiederum ein anderes Prosastück erklären zu wollen, in dem von einem ganz besonderen Fenster die Rede ist, nämlich einem solchen, das dem, der hindurchsieht, gleichsam in Anverwandlung von Ernst Jüngers ›stereoskopischem Blick‹73, eine doppelte Perspektive auf die davorliegende Straße bietet. Einerseits sieht man diese Straße dadurch nämlich »so, wie sie gewöhnlich« ist, dann aber auch »in einer virtuellen ›historischen‹ Perspektive«:
Narzissen im Regen und ein Fenster im Treppenhaus, von dem man die Straße gesondert in zwei Versionen sah. Einmal so, wie sie gewöhnlich war, nüchtern gegenwärtig. Und einmal in einer virtuellen ›historischen‹ Perspektive. Kolonnen von behelmten Motorradpolizisten waren in beiden, also gegenläufigen Richtungen unterwegs. Sie eskortierten eine nicht abreißende Folge von Aufmärschen, jeweils in Fahrtrichtung, so daß sie den gesamten Straßenverkehr verdrängten, zwar nur den virtuellen, aber man fand sich auch in seinem ›realen‹ Auto im fiktiven Gedränge. In der Mitte der Fahrbahn wechselten Revolutions-Szenen, gab es eine Hinrichtung, umgeben von dichter Volksmenge, schnell geschehen, dann im raschen Wechsel Volksredner, Brände, Lagerkämpfe, Erschießungen, Führerovationen, Attentate – immer begleitet von den rollenden Kolonnen behelmter (heutiger) Polizisten. Das Fenster zum Aufruhr.74
Man darf vermuten, dass Strauß mit diesem kurzen Text ein Bild davon entwerfen will, was es heißen soll, »die Übermacht einer Erinnerung zu erleben«75, wie seine Formel für den vermeintlich richtigen Umgang mit Geschichte im Essay Anschwellender Bocksgesang lautet. Entscheidend ist in diesem Bild selbstverständlich, dass die »Kolonnen behelmter (heutiger) Polizisten« darin als Störfaktor empfunden werden. Denn die behelmten heutigen Polizisten sind natürlich die, die die Geschichte, anstatt sich von ihr überwältigen zu lassen, lieber ›ordnen‹, ›regeln‹ und ›bewältigen‹ wollen. Sie sind die Fehlgeleiteten, die das Vergangene gleichsam nach Kolonialherrenart den politischen Maßstäben ihrer Gegenwart unterwerfen, dergestalt jene »Totalherrschaft der Gegenwart« inaugurierend,76 gegen die Strauß schon 1989 eine seiner Stimmen aus den Fragmenten der Undeutlichkeit hat wettern lassen:
Wir stürzen unsere Zeit über alle anderen nieder. Kolonialherren der Vergangenheit! Die siegreiche Gegenwart unterwirft sich, was allemal anders gewesen ist, zerstört die Wildnis, die Regenwälder der Geschichte. Warum haben wir nicht gelernt, dies alles unverständiger zu betrachten, die Fremde zu ehren, statt sie zu erobern und mit unbefugten Begriffen zu beherrschen. Wann endlich dient die Methode dem helleren Nicht-Verstehen?77
Dieses Zitat ist deshalb wichtig, weil es die Alternative zu dem Bemühen, dem Vergangenen irgendeinen Sinn oder irgendeine politische Lehre für die Zukunft abzuringen, klar benennt. Sie besteht im programmatischen Nicht-verstehen-wollen der Geschichte – was endlich zum dritten Charakteristikum des Bandes überleitet, nämlich der Konsequenz, die aus der Gegenüberstellung wilder »Regenwälder der Geschichte« hier und der vermeintlich fehlgeleiteten Ordnungsversuche »behelmter (heutiger) Polizisten« dort gezogen wird: Es ist das Plädoyer fürs ästhetische Desengagement.
Etwa in der Mitte des Bandes lässt Strauß seinen Romancier unumwunden erklären: »Dasein heißt keine Rolle spielen«78. Die mittlerweile säkularisierte christliche Überzeugung, dass Geschichte Heilsgeschichte sei, Geschichte also auf irgendeinen Fortschritt zuhalte, sei, so erklärt er, eine Mär. »Nackt, bedürftig, verirrt und einsam unter gleißender Sonne durch den Staub schleichen« ist »des Menschen Los von Anbeginn.«79 »Ewig fortgesetzt wird einzig die Vertreibung« aus dem Paradies.80 Walter Benjamins Glaube daran, so darf man ergänzen, dass »uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben« sei, auf »welche die Vergangenheit Anspruch« hat,81 erscheint ihm also als Irrglaube. Der Versuch, vergangene Geschlechter zu erlösen, indem man – wie Gisbert – ihre Opfer anerkennt, ist bestenfalls wirkungslos und schlimmstenfalls kontraproduktiv, weil das zu nichts als zur Produktion neuer Opfer führt. Erlösung gibt es in diesem Teufelskreis für niemanden. Allenfalls gibt es eine ästhetische Konsequenz.
Was der Romancier noch unmittelbar vor seiner Erzählung von den »Kolonnen behelmter (heutiger) Polizisten« meinte beklagen zu müssen, die schwindende Zeugkraft der Worte,82 erneuert sich nun nämlich. Wiederbelebt und geradezu archetypisch verkörpert kehrt sie – so viel Stereotype müssen sein – in den Worten einer Frau wieder, die der männlichen Vernunft ganz und gar unzugänglich bleiben:
Mit ihrer Scheu vor eindeutigen Worten, vor jedem »Klartext« zurückzuckend, aber flink und unverfolgbar in verschlungenen Ornamenten sprechend, bleibt sie ihrem Liebsten, bleibt sie männlicher Vernunft an sich oft unzugänglich und wird nur selten so verstanden wie erwünscht. Niemals wird sie etwas sagen können, ohne sich in Abschweifungen zu verlieren. Was sie selber glaubt offen dargelegt zu haben, bleibt für ihre Umgebung eine dichte Verästelung von einander widerstrebenden und sich überlagernden Botschaften, gleichsam ein Glossenwerk, überfüllte Ränder eines letztlich unerschließbaren Haupt- und Grundtextes. Doch schön ist es, wie jedes ihrer Geistesgewächse, jede ihrer sich rankenden Umschreibungen die natürliche Wildnis verdichtet, der zwei Menschen ihre erhöhte Wachsamkeit wie auch ihr blindes Vertrauen zueinander verdanken.83
Als wesentlich auf Desengagement gerichtet gibt sich diese ›Ästhetik des Wilden‹, die dem linearen Erzählen, der Herstellung kohärenter Geschichte gegenübergestellt wird, insofern zu erkennen, als Mann und Frau mit diesen Worten, wie es in einem nicht weit entfernten Prosastück heißt, in den »Garten der Beunruhigung«84, entlassen werden, in dem es wenig darauf ankommt, was sie mit ihren Worten wirklich ausdrücken oder bewirken wollen. Viel wichtiger als das ist die Erfahrung, dass sie »auf einmal ohne Zusammenhang, ungehemmt, von allem zugleich sprechen, von Lüsten, Armut, Schmerzen und Religion«85– ja, dass ihre Worte »in ein freies Entgleiten übergeh[en],« in »ein Abschwirren und Drunter-und-Drüber, in ein dämonisches Allerlei, das schließlich der Wind der Beliebigkeit vollends zerstreut.«86
Das ›dämonische Allerlei‹, das am Ende der Aufzählung steht, sollte natürlich hellhörig machen. Es kann im Kontext des Urteils, wonach das Dasein der Menschen »keine Rolle« spielt, eigentlich nur auf jene Unordnung bezogen werden, die unseren Alltag immer wieder gewaltsam erschüttert – und in deren Gewaltsamkeit der Romancier mehrheitlich etwas Positives erkennt. So ist es in dem Prosastück, in dem ein enttäuschter Liebhaber aus Rache zum Mord schreitet und der »Gewaltakt«87 gelobt wird, weil er einen »Krater in den Alltag« schlägt. Der Mord verhindert nämlich, dass der Alltag »irgendwann nichts Unalltägliches mehr zu[lässt]«88. So ist es zudem im Text über Vescor, in dem die allzu langweilige ›politische Korrektheit‹ des Vaters, dieses »tapfere[n] Widerstandskämpfer[s] und Antifaschist[en]«89, von der »dunklen, gewalttätigen Alptraumgesellschaft«90 des Sohnes in schöne Unordnung gebracht wird; und so ist es erst recht in der Eloge des Romanciers auf Shakespeare, in der er seinen Vorgänger lobt, weil er es verstanden habe, »den Konflikt stets bis zum Eklat des Humanums zu führen, so daß nichts mehr von einem Menschen übrig bleibt als die heiße Welle seines Bluts«91. Stets weist das ›Dämonische‹ in seinen Erzählungen über das Ästhetische hinaus, bleibt also nicht Metapher für das wilde Gestöber der Worte, sondern schlägt um in konkrete Gewaltfaszination. Wofür sich der Romancier stets begeistert, das ist – wenn man eine seiner eigenen Formulierungen mit einer von Rolf Peter Sieferle verbinden möchte – der rasche »Wechsel« der »Volksredner, Brände, Lagerkämpfe, Erschießungen, Führerovationen« und »Attentate«92, die historische Blutspur also und das Muster, das sie im »grandiose[n] Naturschauspiel« der Menschheitsgeschichte hinterlässt.
3. Strauß’ Foucault und Foucaults Flaubert
Kann man das ästhetische Desengagement derart als Brücke beschreiben, die von links sehr weit nach rechts zu führen vermag, sollte man auch die Beschaffenheit ihrer Auflager in Augenschein nehmen. Im Fall von Botho Strauß wird das zu der Entdeckung führen, dass seine Kritik an der Neigung, gleichsam als »Kolonialherr[] der Vergangenheit« aufzutreten und die »siegreiche Gegenwart« über alle anderen Zeiten niederzustürzen,93 nicht unwesentlich von Michel Foucault und dessen ›archäologischer Methode‹ inspiriert worden ist. Christoph Parry hat deutlich herausgearbeitet, dass Strauß den Begriff und das Konzept der ›archäologischen Methode‹ schon im Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken (1970) von Foucault übernimmt. Er versteht sie als vergleichende historische Analyse, der es nicht darum zu tun ist, die »Unterschiedlichkeit« der vergangenen »Rede- und Denkweisen zu vermindern«, sie gar auf eine »einheitliche Gesamtheit« zu bringen, sondern sie im Gegenteil in ihrer Unterschiedlichkeit zu erhalten. »Das archäologische Vergleichen«, so paraphrasiert Strauß, »geschehe nicht im Bewußtsein des Vereinheitlichens, sondern des Vervielfältigens.«94 Es ist genau diese Position, von der sich auch seine spätere Invektive gegen die »Totalherrschaft der Gegenwart«95 – verstanden als Versuch, die Unterschiede der historischen Rede- und Denkweisen hegemonial zu vereinheitlichen – herschreiben wird.
Sollte man Strauß’ Rechtswende darum mit seiner Foucault-Rezeption in Verbindung bringen? Spätestens seit Jürgen Habermas’ Kritik am Poststrukturalismus und seinem bösen Wort von den »Jungkonservativen«, mit dem er ab 1980 nicht zuletzt gegen Bataille, Foucault und Derrida zu Felde zog, weil sie sich nicht – wie man polemisch formuliert hat – »bei drei«96 zu den emanzipatorischen Potentialen der Moderne bekennen wollten, erscheint jeder solche Versuch wie ein Griff in die Schlangengrube. Habermas ist für seinen Kritik am Poststrukturalismus schwer gescholten worden. Nicht wenigen gilt seine Vorlesungssammlung Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), in der er seine Position breit zu entfalten versucht hat, bis heute als das schlechteste Buch, das er je geschrieben hat. Dennoch soll hier eine solche Verbindung hergestellt werden. Es soll gezeigt werden, warum die deutsche Foucault-Rezeption unabhängig davon, wie falsch oder richtig Habermas’ Einschätzung des Poststrukturalismus gewesen ist, immerhin zur Entwicklung eines ›Jungkonservativen‹ wie Strauß hat beitragen können.
Festzustellen ist dafür zunächst, dass es die eine richtige, überzeitlich konstante Foucault-Rezeption schon darum nicht geben kann, weil sich Foucaults Denken im Laufe der Zeit erheblich veränderte. Philipp Sarasin hat erst kürzlich nachgezeichnet, wie sehr sich Foucault erst gegen Ende der 1970er Jahre für das Konzept der Freiheit zu interessieren und mit ihm das liberale Regierungssystem zu verteidigen begann. Das Konzept der Freiheit, aufgefasst als Vermögen der »Entunterwerfung«97 unter ein Machtregime, tauchte auf, ohne dass sich dessen Möglichkeit in seinen vorangegangenen Schriften irgendwie abgezeichnet hätte. Foucaults linke Anhänger hatten erwartet, dass seine Analyse der Disziplinartechniken in Überwachen und Strafen (1975), die allesamt auf dem Prinzip der Internalisierung beruhen, ihn dahin führen müssten, auch in der liberalen Gouvernementalität nichts anderes als »eine besonders raffinierte Form der Dressur«, »ein ausgefeiltes Dispositiv der Macht im Innern der bloß angeblich freien Subjekte« zu erkennen.98 Als Foucault das nicht tat, wurden sie um so mehr überrascht, als sie längst im Begriff waren, ihre kritische Energie mehr gegen den »Liberalismus selbst als gegen die damaligen totalitären Regime« zu richten.99
Mit Blick auf diesen Bruch in Foucaults Denken und die Überraschung seiner linken Anhänger kann Habermas’ Urteil, wonach Foucaults Projekt weniger darauf ziele, das emanzipatorische Potential der Moderne zu verteidigen, als vielmehr darauf, sich in »die reflexionslose Objektivität einer teilnahmslos-asketischen Beschreibung von kaleidoskopisch wechselnden Praktiken der Macht« zurückzuziehen,100 kaum als völlig unbegründet zurückgewiesen werden. Das Urteil lag bis in die 1970er Jahre nicht nur sachlich, sondern insofern auch epistemologisch nahe, als kaum zu sagen war, mit welchem normativen Anspruch seine Arbeiten eigentlich auftraten. Wenn es wahr sein sollte, dass jeder Wissensanspruch in der Machtwirkung aufgeht, die er entfaltet, musste das selbstverständlich auch noch für die von dieser Einsicht inspirierte Forschung gelten.101 Einen normativen Anspruch darf sie, ohne sich selbst zu diskreditieren, eigentlich kaum erheben.
Wer in derselben Zeit überdies nach einer Bestätigung suchte, dass Foucault seine Diskursanalysen gleichsam im Anschluss an Nietzsches Nihilismus durchführte, konnte sie, wenn er unbedingt wollte, zudem in einem kleinen Aufsatz entdecken, der nicht lange vor der Archäologie des Wissens (1969) erschienen war – nämlich in Foucaults Nachwort zur Neuausgabe von Gustave Flauberts Versuchung des heiligen Antonius (1966), dem Text eines Autors, den Karl Löwith zusammen mit Charles Baudelaire zu den bedeutendsten Vertretern des europäischen Nihilismus gerechnet hat.102
Flauberts Roman ist das Produkt einer langen, mindestens 25-jährigen Beschäftigung des Autors mit der Antoniuslegende. Der Text gliedert sich in sieben Kapitel, von denen die ersten beiden den Weg nachzeichnen, den der Heilige gegangen ist, bis er zum Einsiedler wurde. Man erfährt aus ihnen, dass das Gefühl der Öde, das Antonius nun plagt, wesentlich aus dem Gegensatz zu seinem früheren Leben herrührt, und man versteht, dass die Erinnerungen und Fantasien, die ihn heimsuchen, diese Bilder intensiver erotischer, kulinarischer und kriegerischer Gelüste, ihn nicht zuletzt deshalb anfallen, weil sie die tief empfundene Leere in ihm zu füllen versprechen.
Die folgenden vier Kapitel legen den Fokus auf die Gegenwart. Hilarion, einer von Antonius’ ehemaligen Schülern, tritt auf und führt den Heiligen mit Hilfe unzähliger Beispiele die grundlegende Unsicherheit der Unterscheidung zwischen wahren und unwahren Glaubensvorstellungen vor Augen. Er will ihn wanken machen, indem er ihn auf zahlreiche Widersprüche im alten und neuen Testament hinweist. Überdies konfrontiert er seinen ehemaligen Lehrer mit einer Reihe von Häresirarchen, also Oberhäuptern vermeintlich abweichlerischer Kirchenlehren, sowie mit einer Reihe von Götzen, die – recht betrachtet – Christus alle verdächtig ähnlichsehen. Als der Heilige sich von diesen ‚falschen Göttern‘ abwenden will, ruft sein ehemaliger Schüler ihm nach: »Findest du nicht, daß sie … manchmal … dem wahren gleichen?«103
Lange wehrt sich Antonius dagegen, die erkenntniskritische Lektion, die ihm sein Schüler so aufdringlich erteilen möchte, anzunehmen, und es ist nicht vor dem sechsten Kapitel, in dem Hilarion als Repräsentant der Wissenschaft auftritt, dass der Heilige sie zu akzeptieren beginnt. Es bedarf buchstäblich der Einsicht in die jüngst erkannten Naturgesetze des Kosmos, um sein spätantikes Weltbild umzustürzen und ihn davon zu überzeugen, dass es bisher doch eher die »Forderungen [s]eines Geistes« waren, die »den Dingen ihr Gesetz« gaben104 als die Dinge selbst. Dann aber, im siebenten und letzten Kapitel, wendet sich Antonius von aller Metaphysik ab. Er erklärt seine Religion zum »Wahn«105, und was ihn ursprünglich zur Einsiedelei getrieben hat, der Wunsch nämlich, sich »von allem Vergänglichen [zu] lösen«106, verkehrt sich ins Gegenteil. Anstatt als »geistiges Wesen«107 will Antonius nun ganz und gar körperlich leben – oder richtiger: Er will als Materie existieren und die Metamorphosen der Materie im ewigen Strom von Wollust und Tod, von Werden und Vergehen, dessen Zeuge er durch Hilarion geworden ist,108 mitvollziehen:
Das Blut pocht zum Zerspringen in meinen Adern. Ich möchte fliegen, schwimmen, bellen, blöken, brüllen, hätte gern Flügel, einen Rückenschild, eine Rinde, möchte Rauch schnauben, einen Rüssel tragen, meinen Körper winden, mich teilen und in alles eingehen, mich in Gerüchen verströmen, mich entfalten wie die Pflanzen, fließen wie Wasser, schwingen wie der Ton, schimmern wie das Licht, jede Form annehmen, in jedes Atom eindringen, mich in den Grund der Materie senken – die Materie sein!109
Die unverhohlene Sympathie für diesen Entwicklungsgang, die Foucault in seinem Nachwort zur Neuauflage von Flauberts Roman bezeugt, hat mindestens zwei Gründe. Der erste liegt darin, dass Flaubert sich bei der Komposition des Romans eines gleichsam archäologischen Verfahrens bedient hat. Denn keine der Fantasien, die Antonius heimsuchen, so stellt Foucault fest, ist erfunden. Vielmehr hat Flaubert sie übernommen: »Der Text beschwört Bilder herauf, die völlig traumhaft zu sein scheinen, die große Diana von Ephesus z.B., mit Löwen auf den Schultern, vom Hals herabhängenden Früchten, Blumen und Sternketten, Trauben von Brüsten und einem Rock, aus dem Greifen und Stiere hervorquellen.« »Aber«, so setzt Foucault fort, »diese ›Phantasie‹ findet sich Wort für Wort, Zeile für Zeile im letzten Band von Creutzer[s]« Religionen des Altertums, »Tafel 88: man braucht bloß mit dem Finger den Einzelheiten des Stiches zu folgen, und es stellen sich getreulich dieselben Wörter ein wie bei Flaubert.«110 »Was nach Phantasmen aussieht«, sind tatsächlich »umgeschriebene Dokumente«111. Der Roman erweist sich als »Monument gründlichsten Wissens«112, das Phantastische darin als »Bibliotheksphänomen«113.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Foucault in diesem Kompositionsprinzip, das auf nichts anderes zielt, als darauf, im Durchgang durch das bibliothekarisch gesammelte ›Wissen‹ die »Allmacht des Irrtums« zu erweisen114, eine große Nähe zu seiner eigenen Archäologie der Wissensdiskurse gesehen haben muss, – und zwar um so mehr als Flaubert seine Auseinandersetzung mit der nie einzuholenden Historizität des Wissens bekanntlich fortgesetzt und dabei zu einer spezifischen Verhaltensform gefunden hat, mit dieser problematischen Historizität umzugehen:
Nachdem Flaubert Die Versuchung des heiligen Antonius beendigt hatte, worin diesen Heiligen aller Glaube und Aberglaube versucht, der je in unserer Welt erdacht worden ist, begann er mit der Ordnung und Analyse des wissenschaftlichen Bildungschaos des 19. Jahrhunderts. Er faßte den Plan, eine Aktensammlung der menschlichen Dummheit anzulegen, die eine ironische Verherrlichung alles dessen sein sollte, was im Laufe der Zeit als Wahrheit galt. Das Ergebnis dieses absurden Studiums war der Roman Bouvard und Pécuchet. Zwei ehrlich um ihre höhere Bildung bemühte, gutartige und verständige Spießbürger, die zuvor Büroschreiber waren, durchwandern auf ihrem glücklich erworbenen Landsitz den ganzen Irrgarten des angesammelten Wissens – von der Gartenkunst, Chemie und Medizin, zur Geschichte, Archäologie, Politik, Pädagogik und Philosophie –, um sich schließlich wieder an ihre Schreiberarbeit zu begeben und aus den vergeblich studierten Büchern Auszüge herzustellen. Das ganze Werk bewegt sich im Stil einer ›haute comedie‹ durch das Reich der entfremdeten Bildung, um bei dem absoluten Wissen zu enden, daß unsere ganze Bildung sinnlos ist.115
Diese Verhaltensform, auf die die Versuchung des heiligen Antonius vorausdeutet, ist der zweite Grund, warum Foucault dem Buch mit Sympathie begegnet. Er spürt, dass irgend »[e]twas im ›Heiligen Antonius‹« nach Bouvard und Pécuchet »verlangt«.116 »Die Elemente« beider Bücher, so stellt er fest, seien ja im Grunde »dieselben«: Sie entstünden jeweils aus anderen Büchern und bildeten aufgrund dieses Bauprinzips eine »gelehrte Enzyklopädie« der »Kultur«. Zudem finde der Durchgang durch das gesammelte ›Wissen‹ und mit ihr die »Versuchung«, seinen Ansprüchen zu erliegen, hier wie dort »inmitten der Abgeschiedenheit« statt117 – hier inmitten der Abgeschiedenheit des Einsiedler-, dort inmitten der Abgeschiedenheit des Gelehrtenlebens. Zuletzt, so Foucault, konvergierten beide Bücher darin, dass für sie die »Verbindung zwischen der Heiligkeit und der Dummheit«118 konstitutiv sei:
Bouvard und Pécuchet verbinden Heiligkeit und Dummheit im Modus des Machen-Wollens. Sie, die sich erträumt hatten, reich, frei, Rentiers und Hausbesitzer zu sein, und es auch wurden, sind unfähig, es schlicht und einfach zu sein, ohne in den Kreislauf des endlosen Werkelns einzutreten: die Bücher, die sie dem, was sie zu sein haben, näherbringen sollen, entfernen sie davon, indem sie ihnen vorschreiben, was sie zu machen haben: Stupidität und Tugend, Heiligkeit und Dummheit jener, die […] die übernommenen Vorstellungen in die Tat umsetzen wollen; die sich ihr Leben lang still abrackern, um in blinder Arbeitswut ihre Natur einzuholen. Der heilige Antonius dagegen verbindet Heiligkeit und Dummheit im Modus des Sein-Wollens: er wollte ein Heiliger sein in der reinen Trägheit der Sinne, des Verstandes und des Herzens und, über das Buch, eins werden mit dem Bild der Heiligkeit, das es ihm vermittelt. […] Aber erst angesichts der Materie triumphiert in ihm der Wunsch, das zu sein, was er sieht: er möchte blind sein, schläfrig, gefräßig, blöde wie der Katoblepas […]. Im Schlaf des Denkens, in der Unschuld der Begierden, die nur Bewegung wären, wäre er endlich wieder bei der stupiden Heiligkeit der Dinge angekommen.119
Der Witz von Foucaults Beobachtung besteht dabei selbstverständlich darin, dass die Verbindung von Heiligkeit und Dummheit die Protagonisten im Kreis herumführt – und zwar einem Kreis, der an Nietzsches ewige Wiederkehr gemahnt. Foucault formuliert das ganz ausdrücklich, wenn er in Bezug auf Antonius’ letzte Versuchung, nämlich den Wunsch, zum Moment der Entstehung von Leben und Welt zurückzukehren, schreibt:
Und noch weiter zurück, jenseits der ersten Zelle, jenseits des Ursprungs der Welt, der seine eigene Geburt ist, verlangt es Antonius nach der unmöglichen Rückkehr in die Bewegungslosigkeit angesichts des Lebens: […] Ein anderer sein, alle anderen sein – und alles soll von vorn anfangen wie das erste Mal – an den Beginn der Zeit zurückkehren, damit der Kreis der Wiederkehr sich schließe: das ist der Höhepunkt der Versuchung. Die Vision aus dem Engadin ist nicht weit entfernt davon.120
Allerdings ist damit noch nicht Schluss. Denn aus der Kreisbewegung der ›Ewigen Wiederkehr‹ schließt Foucault weiter auf das, was er für den Kern der von Bouvard und Pécuchet vorgeführten Verhaltensform hält: das Desengagement:
Auch Bouvard und Pécuchet fangen von vorn an: am Ende der Prüfungen verzichten sie darauf […] das zu machen, was sie unternommen hatten, um zu werden, was sie waren. Jetzt sind sie es schlicht und einfach: sie lassen ein großes Doppelpult anfertigen und knüpfen an dem wieder an, was sie aufgehört hatten zu sein, machen abermals das, was sie jahrzehntelang gemacht hatten – sie kopieren. Was kopieren sie? Bücher, ihre Bücher, alle Bücher und zweifellos auch das Buch ›Bouvard und Pécuchet‹. Denn kopieren heißt: nichts machen, heißt: die Bücher sein, die man kopiert, heißt: […] der Rücklauf der Rede in sich selbst sein […].121
Nur wenig später, in seiner Inauguralvorlesung am Collège de France vom 02.12.1970, wird Foucault genaue diese Verhaltensform übernehmen, wenn er gleich zu Beginn über sein Begehren spricht, »jedes Anfanges enthoben zu sein«122. Foucault möchte, wie er sagt, »nicht in jene gefährliche Ordnung des Diskurses eintreten müssen«, denn er möchte »nichts zu tun haben mit dem, was es Einschneidendes und Entscheidendes in ihm gibt«123 – und genau dazu dient ihm die ›Archäologie‹ als Verfahren, lediglich den Bestand des kulturellen Archivs historisch und phänomenologisch aufzunehmen. Denn einen Bestand lediglich aufnehmen heißt: eben nicht zum Autor des Archivs werden, heißt: sich im Geiste Nietzsches in »die reflexionslose Objektivität einer teilnahmslos-asketischen Beschreibung von kaleidoskopisch wechselnden Praktiken der Macht«124 zurückzuziehen. – In diesem Sinn brauchte Strauß Foucault wahrlich nicht falsch zu lesen, nicht grundlegend misszuverstehen, um im Anschluss an seine ›archäologische Methode‹ später zum Renegaten zu werden.
Was dieser – gewiss sehr knappe – Durchgang durch das Gedankengebäude zuerst der Neuen Rechten, dann von Strauß und zuletzt von Foucault zeigen soll, ist, dass Habermas’ Argwohn gegenüber dem Poststrukturalismus, sein Verdacht, dass viele seine Hauptvertreter, darunter Foucault, eben dadurch, dass sie sich nicht »bei drei«125 zu den emanzipatorischen Potentialen der Moderne bekennen wollten, durchaus begründet war. Dieses Zögern hat, wie man an jenen Linken sehen kann, die ihrem Idol Foucault vorauszueilen meinten, als sie den westlichen Liberalismus stärker als die tatsächlich totalitären Regime zu kritisieren begannen, mit den Boden dafür bereitet, dass eher linke Intellektuelle wie Strauß die Brecht’sche Devise: »Ändere die Welt, sie braucht es« guten Gewissens verabschieden und gegen offenes Desengagement eintauschen konnten. Die Neue Rechte hat sich dann nicht auf Foucault beziehen müssen, um ihnen mit ihrer liberalen Mimikry entgegenzukommen. Dafür reichten (und reichen) ihnen Jünger, Mohler, Benoist und Sieferle.
Literaturverzeichnis
Fußnoten
1 Benoist, Alain de (2017): Kulturrevolution von rechts. Dresden: Jungeuropa Verlag, S. 44. 2 Vgl. Benoist: Kulturrevolution von rechts, S. 83–103. 3 Vgl. Böhm, Michael (2017): Einführung: Die Eroberung der Geister. In: Alain de Benoist: Kulturrevolution von rechts. Dresden: Jungeuropa Verlag, S. 7–20, S. 11. 4 Vgl. Mohler, Armin (2020): Der faschistische Stil. Schnellroda: Antaios, S. 39ff. 5 Vgl. Weiß, Volker (2017): Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 39–40. 6 Sieferle, Rolf Peter (2020): Finis Germania. 2. Aufl. Berlin: Landtverlag, S. 28. 7 Mohler: Der faschistische Stil, S. 28. 8 Mohler: Der faschistische Stil, S. 29. 9 Mohler: Der faschistische Stil, S. 48. 10 Lichtmesz, Martin (2017): Die Verteidigung des Eigenen. Fünf Traktate. 7. Aufl. Schnellroda: Antaios. S. 52. 11 Vgl. Benoist: Kulturrevolution von rechts, S. 30. 12 Vgl. Mohler, Armin (1989): Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Bd. 1. 3. Aufl. Darmstadt: WBG, S. 29. 13 Die verbreitete Auffassung, dass Nietzsche den Nihilismus ›zu überwinden‹ trachtete, weist Werner Stegmaier mit klaren Worten zurück: »Der Nihilismus […] ist nach Nietzsche ›ein normaler Zustand‹. Er ist nichts, das zu ›überwinden‹ wäre […]. Bei Nietzsche gibt es dafür keinen Beleg.« (Stegmaier, Werner (2016): Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche. Berlin: de Gruyter, S. 33) »Auch dass der Nihilismus durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr überwunden werden könne […], sagt Nietzsche nicht. Der Nihilismus wird durch das Gedankenexperiment im Gegenteil bekräftigt, extremer gedacht«. (Stegmaier: Orientierung im Nihilismus, S. 33) 14 Nietzsche, Friedrich (1994b): Also sprach Zarathustra. In: ders.: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hg. von Karl Schlechta. Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg, S. 275–561, S. 463. 15 Mohler, Armin (2018a): Gegen die Liberalen. 4. Aufl. Schnellroda: Antaios, S. 60. 16 Benoist: Kulturrevolution von rechts, S. 45. 17 Vgl. Mohler: Die Konservative Revolution, S. 18–20 und 82–86; sowie Amlinger, Carolin (2020): Rechts dekonstruieren. Die Neue Rechte und ihr widersprüchliches Verhältnis zur Postmoderne. In: Leviathan, 48.2, S. 318–337, S. 323. 18 Böhm: Einführung: Die Eroberung der Geister, S. 16. 19 Vgl. Benoist: Kulturrevolution von rechts, S. 39. 20 Mohler: Der faschistische Stil, S. 59 21 Mohler: Der faschistische Stil, S. 60. 22 Mohler: Der faschistische Stil, S. 59. 23 Vgl. Benoist: Kulturrevolution von rechts, S. 57. 24 Benoist: Kulturrevolution von rechts, S. 137. 25 Mohler, Armin (2018b): Notizen aus dem Interregnum. 3. Aufl. Schnellroda: Antaios, S. 47. 26 Amlinger: Rechts dekonstruieren, S. 324. 27 Mohler: Notizen aus dem Interregnum, S. 10. 28 Vgl. Frank, Manfred (1989): Brauchen wir eine ›Neue Mythologie‹? In: ders.: Kaltes Herz. Unendliche Fahrt. Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 93–118, S. 99. 29 Vgl. Jünger, Ernst (1960a): Über die Linie. In: ders.: Werke. Bd. 5. Stuttgart: Klett, S. 245–289, S. 257; Jünger, Ernst (1960b): Der Waldgang. In: ders.: Werke. Bd. 5. Stuttgart: Klett, S. 291–387, S. 358ff. 30 Vgl. Jünger, Friedrich Georg (2010): Die Perfektion der Technik. 8. Aufl. Frankfurt a.M.: Klostermann, S. 163–164. 31 Sieferle, Rolf Peter (2020): Finis Germania. 2. Aufl. Berlin: Landtverlag, S. 65. 32 Nietzsche, Friedrich (1994a): Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Poesie. In: ders.: Werke in drei Bänden. Bd. 1. Hg. von Karl Schlechta. Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg, S. 7–134, S. 40. 33 Sieferle: Finis Germania, S. 42. 34 Sieferle: Finis Germania, S. 102. 35 Diese Kapitelüberschrift spielt deutlich auf Nietzsches dritte Unzeitgemäße Betrachtung Schopenhauer als Erzieher (1874) an. 36 Sieferle: Finis Germania, S. 101. 37 Sieferle: Finis Germania, S. 102. 38 Mohler: Der faschistische Stil, S. 25. 39 Mohler: Gegen die Liberalen, S. 45. 40 Mohler: Der faschistische Stil, S. 26. 41 Mohler: Der faschistische Stil, S. 25. 42 Mohler: Der faschistische Stil, S. 25. 43 Mohler: Der faschistische Stil, S. 52. 44 Benjamin, Walter (1989): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VII/1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 350–384, S. 384. 45 Vgl. Sontag, Susan (1981): Fascinating Fascism. In: dies.: Under the Sign of Saturn. New York: Vintage Books, S. 73–105, S. 92. 46 Vgl. Sieferle: Finis Germania, S. 20–28. 47 Mohler: Gegen die Liberalen, S. 60. 48 Benoist: Kulturrevolution von rechts, S. 45. 49 Vgl. Benoist: Kulturrevolution von rechts, S. 95. 50 Lichtmesz: Die Verteidigung des Eigenen, S. 52. 51 Mohler: Der faschistische Stil, S. 29. 52 Sieferle: Finis Germania, S. 101. 53 Sieferle: Finis Germania, S. 103. 54 Dieser Abschnitt folgt teils inhaltlich, teils wörtlich meiner Auseinandersetzung mit Botho Strauß in Kruschwitz, Hans (2023): »Dasein heißt keine Rolle spielen.« Liebe, Geschichte und keine Erlösung bei Botho Strauß. In: Hahn, Hans-Joachim/ Kruschwitz, Hans/ Waldschmidt, Christine (Hgg.): »Aggregate der Gegenwart«. Entgrenzte Literaturen und Erinnerungskonflikte. Bielefeld: transcript, S. 307–320. 55 Strauß, Botho (2019): zu oft umsonst gelächelt. München: Hanser, S. 9. 56 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 20. 57 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 20. 58 Willer, Stefan (2000): Botho Strauß zur Einführung. Hamburg: Junius, S. 104. 59 Willer: Botho Strauß zur Einführung, S. 105. 60 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 16. 61 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 16. 62 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 16. 63 Strauß, Botho (2020a): Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. In: ders.: Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern. Kritische Prosa. Hamburg: Rowohlt, S. 15–30, S. 15. 64 Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 15. 65 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 83. 66 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 36. 67 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 36. 68 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 36. 69 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 35. 70 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 35. 71 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 115. 72 Der Name Gisbert wird zuweilen auf die ahd. Wurzel »gîsal«, Geisel, zurückgeführt. 73 Vgl. Spits, Jerker (2009): Waldgänger und Außenseiter-Heros. Ernst Jünger und Botho Strauß als Dichter der Gegenaufklärung. In: Białek, Edward (Hg.): Ein Gedenkband zum 10. Todestag von Professor Konrad Gajek. Dresden: Neisse Verlag, S. 231–252, S. 243–251. 74 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 13. 75 Strauß, Botho (2020b): Anschwellender Bocksgesang. In: ders.: Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern. Kritische Prosa. Hamburg: Rowohlt, S. 225–244, S. 230. 76 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, S. 230. 77 Strauß, Botho (1989): Fragmente der Undeutlichkeit. München: Hanser, S. 57–58. 78 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 107. 79 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 107. 80 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 107. 81 Benjamin, Walter (1980): Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 691–704, S. 694. 82 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 12. 83 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 167. 84 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 144. 85 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 145. 86 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 145. 87 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 97. 88 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 97. 89 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 36. 90 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 36. 91 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 47. 92 Strauß: zu oft umsonst gelächelt, S. 13. 93 Strauß, Botho (1987): Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. In: ders.: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Texte über Theater, 1967–1986. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, S. 50–76, S.51. 94 Strauß: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, S. 51. 95 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, S. 230. 96 Biebricher, Thomas (2021): Eine Verirrung des Geistes? In: DIE ZEIT, 22.04.2021, S. 56. 97 Sarasin, Philipp (2019): Foucaults Wende. In: Marchart, Oliver/ Martinsen, Renate (Hgg.): Foucault und das Politische. Politologische Aufklärung – konstruktivistische Perspektiven. Wiesbaden: Springer, S. 9–22, S. 14. 98 Sarasin: Foucaults Wende, S. 11. 99 Koschorke, Albrecht (2018): Linksruck der Fakten. In: ZMK Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 9.2, S. 107–118, S. 112 100 Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 324. 101 Vgl. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 328. 102 Vgl. Löwith, Karl (1990): Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur geistigen Vorgeschichte des europäischen Krieges. In: ders.: Der Mensch inmitten der Geschichte. Philosophische Bilanz des 20. Jahrhunderts. Hg. von Bernd Lutz. Stuttgart: Metzler, S. 49–114, S. 68–69. 103 Flaubert, Gustave (1966): Die Versuchung des heiligen Antonius. Frankfurt a.M.: Insel, S. 138. 104 Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, S. 167. 105 Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, S. 169. 106 Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, S. 46. 107 Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, S. 46. 108 Vgl. Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, S. 176. 109 Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, S. 189. 110 Foucault, Michel (1966): Nachwort. In: Flaubert, Gustav: Die Versuchung des heiligen Antonius. Frankfurt a.M.: Insel, S. 215–251, S. 220–221. 111 Foucault: Nachwort, S. 243. 112 Foucault: Nachwort, S. 220. 113 Foucault: Nachwort, S. 222. 114 Foucault: Nachwort, S. 242. 115 Löwith: Der europäische Nihilismus, S. 68. 116 Foucault: Nachwort, S. 245. 117 Foucault: Nachwort, S. 245. 118 Foucault: Nachwort, S. 248. 119 Foucault: Nachwort, S. 249–250. 120 Foucault: Nachwort, S. 238. 121 Foucault: Nachwort, S. 250–251. 122 Foucault, Michel (1970): Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 9. 123 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 10. 124 Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 324. 125 Biebricher: Eine Verirrung des Geistes?, S. 56.