Solvejg Nitzke: Prekäre Natur – Schauplätze ökologischen Erzählens zwischen 1840 und 1915 – Eine Forschungsskizze .
Abstract: During the second half of the long 19th century „precarious nature” moves to the center of a variety of popular discourses. The increasing visibility of and reflection on the human manipulation and destruction of nature is equally important for an understanding of precarious nature as is the publicly received progress of science and the social transformation caused by industrialization and accompanying processes. All these fields create versions of human-nature-relations and of ‘natural’ lifestyles and -forms under increasingly precarious conditions. Precarious nature provides a perspective which allows for the recognition of the dual conditioning of nature in literature, popular science and personal as well as travel narratives and the analysis of its part in the production of affective, discursive and material environments. Ecological story-telling is a vital force which produces a specific proto-ecological knowledge in representations of village-home and forest-wilderness. Liminal spaces between nature and culture thus can be recognized as privileged sites of the negotiation of human-nature-relationships.
Keywords: Ökologie, Dorfgeschichte, Wald, 19. Jahrhundert, Erzählen, Natur
Einleitung
Um 1840 nimmt die Industrialisierung in den deutschen und österreichischen Ländern langsam, aber sicher Fahrt auf: Die Städte wachsen, die Reichweite der Transformation von Lebensformen und -räumen wird augenfällig. Gleichzeitig richtet sich die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit mit ungekannter Intensität auf Dorf und Wald. Geschichten vom ‚natürlichen‘ Leben entwerfen idyllische Alternativen zu der sich rasant verändernden Gegenwart, lassen sie jedoch nur in seltenen Fällen ungebrochen. Genau aus diesen Brüchen generieren sie produktive Energie. Denn die Kritik an der „Veränderung der Landschaft“ (Rosegger 1903) ist nicht automatisch fortschrittsfeindlich, vielmehr stellt sie ‚Natürlichkeit‘ zunächst als solche infrage. Ihr kulturkritischer Impetus gewinnt im Laufe der Zeit enorme Schlagkraft, bis er sich in der Diagnose einer endgültig zerstörten Beziehung von „Mensch und Erde“ (Klages [1913] 1926) entlädt, die sich schließlich in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs expliziert (Sloterdijk 2002).
Im populären Diskurs über die Schwellenräume zwischen Natur und Kultur bildet sich zwischen 1840 und 1915 eine Erzählweise aus, deren Bedeutung als Produktions- und Reflexionsmedium einer spezifisch modernen Konstellation erst langsam Beachtung findet: Das Verhältnis von Mensch und Natur wird zunehmend prekär. Die scheinbar unaufhaltsame „Eroberung der Natur“ (Blackbourn 2006) produziert gleichermaßen Freiheitsgewinne und Gewissheitsverluste, sie eröffnet neue Möglichkeiten im Umgang mit Natur und erweist sich als zerstörerische Kraft. Naturzerstörung ist somit Effekt, nicht Ursache prekär gewordener Natur. Anstelle verlässlicher Ordnungen provoziert die Einsicht in die intrikaten Abhängigkeitsverhältnisse von Mensch und Natur eine Dynamisierung von Mensch-Natur-Konstellationen. Die Geschichten dieser Transformation erschöpfen sich trotzdem nicht in einer nostalgischen Verklärung vergangener Zustände. Im Gegenteil, aus der Perspektive prekärer Natur werden die differenzierten und komplexen diskursiven Prozesse sichtbar, aus denen konkrete Mensch-Natur-Verhältnisse hervorgehen.
Prekäre Natur benennt eine Konstellation, die zugleich Chancen und Gefahren des flexibilisierten Weltverhältnisses umfasst. Dieses bildet sich in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts, so die grundlegende These, eben nicht in den Zentren aus, sondern in der vermeintlichen Peripherie der Modernisierung. Wald und Dorf stehen dabei nicht als empirische Orte, sondern als Räume im Fokus, deren materielle Aspekte nicht von ihren imaginären zu trennen sind. Als Dorf-Heimat und Wald-Wildnis werden sie zu paradigmatischen Schauplätzen ökologischen Erzählens. Welche Aspekte von Modernisierung und ihrer Kritik werden aber in und anhand solcher programmatisch ‚abseitiger‘ Schauplätze aufgenommen? Welche narrativen Verfahren plausibilisieren Konstellationen prekärer Natur und wie werden sie in Bezug auf eine außertextuelle Wirklichkeit positioniert? Welche Textsorten, Erzählverfahren und Diskurse werden eingesetzt oder ausgeschlossen? Wie wird die Teilnahme an Debatten und Diskursen bzw. ihre Ablehnung inszeniert? Im Folgenden sollen die Grundzüge eines Projekts skizziert werden, das anhand zweier zentraler ‚Schauplätze‘ ökologischen Erzählens – der Dorf-Heimat und der Wald-Wildnis – prekäre Natur, zunächst mit einem Schwerpunkt auf deutschsprachigen Diskursen diesen Fragen nachgeht. Das Projekt wird prekäre Natur als entscheidende Konstellation der Moderne sichtbar machen und ökologisches Erzählen als Modus ihrer Produktion untersuchen. Es zielt darauf, die konstitutive Verunsicherung zu verstehen, die Ursache und Folge ökologischen Denkens ist, und anhand dessen die Geschichte der Beziehung von Mensch und Natur als Problemgeschichte neu zu erzählen.
1 Was ist prekäre Natur? Historische Konstellationen
Die zeitliche Koinzidenz der zunehmenden Popularität von Dorfgeschichten und der „take-off“Phase der Industrialisierung (Rostow 1960) ist kein Zufall. Vielmehr handelt es sich um eigenständige Ausprägungen derselben Konstellation: prekärer Natur. Das heißt, das Verhältnis von Mensch und Natur wird nicht erst durch die Industrialisierung prekär und dann in populären Diskursen reflektiert, sondern beide Phänomene beruhen auf der Prekarisierung des Verhältnisses von Mensch und Natur. Sie ist notwendig, um Ressourcen zu mobilisieren, und zwar materielle wie immaterielle. Dass diese sich nicht sinnvoll voneinander trennen lassen, illustriert bereits Adalbert Stifters 1840 erstmals erschienene Erzählung Das Haidedorf. Die Konkurrenz verschiedener Wissensformen – traditionelles Bauernwissen vs. Meteorologie – wirkt sich direkt auf die Ernte, die Lebensgrundlage der Gemeinde, das Ansehen der Figuren innerhalb der Dorfgemeinschaft und die Position des Dorfes innerhalb eines größeren gesellschaftlichen Kontextes aus. Dieser Text ist exemplarisch für Reflexionen prekärer Natur, insofern seine Bearbeitungsgeschichte zwischen Journal- und Buchform, den regen Austausch verschiedener Diskurse – in diesem Fall über das Wetter – nachvollziehbar macht (Gamper 2018). Das Haidedorf setzt den Dichter gewordenen Felix ins Zentrum eines komplexen Netzes traditioneller und moderner Weisen Beziehungen mit Natur einzugehen. Obwohl die Erzählung dabei letztlich moderne Wissensformen bevorzugt, bleiben alternative und traditionelle Bezugnahmen präsent und wirksam. Sie erzählt also nicht allein linear von der Ablösung des einen durch ein anderes Verhältnis, sondern verknüpft narrativ Menschen und Natur und zeigt sie in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, ohne sie katastrophisch oder idyllisch aufzuheben. Vielmehr erzählt sie ökologisch, insofern sie anhand (proto-)ökologischer Wissensbestände beobachtet, wie Figuren und Text(e) Umwelten herstellen. Dabei zitiert sie zeitgenössisches Wissen nicht bloß an, sondern plausibilisiert es innerhalb der Erzählung. Indem hier die Figur des Dichters zum Medium dieses Wissens wird, betont der Text einerseits die Rolle der Literatur als wissensvermittelnde Instanz, stellt andererseits allerdings auch aus, wie sehr dieser spezielle Vermittlungsweg das Wissen überhaupt erst in Form bringt. Es ist also die Verbindung aus der Diskussion von außen an die kleine Welt des Dorfes herangetragenen Wissens und seiner poetischen Formung, die prekäre Natur sichtbar macht und sie als Bedingung der Produktion von Umwelt setzt. Am Haidedorf lässt sich auch zeigen, dass es ein komplexes Gefüge aus neuem Wissen, neuen Regeln und neuen Technologien ist, welches die Lebenswelten aufbricht. Die Einführung von Erntemaschinen (z.B. in Marie von Ebner-Eschenbach Das Gemeindekind), des Versicherungswesens (z.B. in Ludwig Anzengruber Der Sternsteinhof) und zentralisierter bürokratischer Ordnungen (z.B. in Berthold Auerbach Schwarzwälder Dorfgeschichten, vgl. Twellmann 2012) verändern in den Erzählungen gleichermaßen Landschaft und Menschen, welche wiederum auf die Neuerungen zurückwirken und damit selbst zu Akteuren des Komplexes ‚Industrialisierung‘ werden. Prekäre Natur wird also sowohl auf der Ebene des Erzählten (Themen, Figuren, Motive, Konflikte) als auch in Form der Verfahren auf der Ebene der Erzählung wirksam. In Stifters Erzählung treffen sich diese Ebenen in der Figur des Dichters, der als Vermittler eines fremden Wissens die Rolle der Erzählung selbst innerhalb des Diskurses einnimmt. Das Haidedorf setzt dabei diese Rolle selbstbewusst als eine, die eigenes Wissen herstellt. Damit schreibt dieser Text Literatur als Akteur in die historische Konstellation ein. So ruft er aber auch ein Problem auf, das als weitere Ebene prekärer Natur begriffen werden muss: Literatur hat anders als die technologischen, bürokratischen und wissenschaftlichen Akteure keine direkt beobachtbare materielle Seite und damit keine empirisch belegbare Handlungsmacht. Durch Literatur lassen sich weder verbindliche Verhaltensregeln aufstellen, noch kann ein literarischer Text nachweislich eine physische Landschaft verändern.
Dieses Problem verschärft sich hier, weil Dorf- und Waldgeschichten sich besonders in populären Diskursen etablieren, wo die Authentizitätsbezeugung der Erzählung eine so große Rolle spielt1, dass sie zur Negation der eigenen Literarizität führen kann. Das heißt nicht, dass ihre Fiktionalität infrage steht, aber die Ablehnungshaltung, die viele „Volksdichter“ (Wagner 1991) gegenüber dem ‚städtischen‘ Literatur- und Kunstbetrieb kultivieren, ist konstitutiv für die Ausprägung prekärer Natur. Denn sie reproduziert die Verunsicherung des Verhältnisses von Mensch und Natur. Die Zuordnung zu einem modernen System (dem Literaturbetrieb) gefährdet zwar die eigene ‚Bodenständigkeit‘, dennoch müssen die Autoren und ihre Texte den Anforderungen des Systems genügen, um ihre Texte veröffentlichen und ihren Unterhalt zu sichern.2 Die Souveränität, mit der Stifter Elemente solcher populären Geschichten aufgreift und trotzdem einem Literaturdiskurs einschreibt, bleibt dabei eine Ausnahme (Hein 1972). Die Bedingungen des Literaturbetriebs, insbesondere der Zeitschriften, in denen nicht nur Stifters Texte vielfach erstmalig und in publikumsorientierter Form erscheinen, strukturieren also maßgeblich, welche Konstellationen von Mensch und Natur zum Ausdruck kommen und in welchem Umfeld sie erscheinen (Frank 2017; Stockinger 2018).
Die Ausbreitung der Modernisierung führt ab den 1840ern zu einem intensivierten Interesse an den Räumen in ihrer Peripherie – insbesondere an solchen, die von ihr vermeintlich unberührt geblieben sind oder sich in einem ‚ursprünglichen‘ Zustand erhalten haben. Dieses Interesse generiert ein Natürlichkeitsparadigma, dessen Anliegen, Mensch und Natur in einem genealogischen Zusammenhang zu zeichnen, implizit die wissenschaftlichen Neuerungen der Zeit verarbeitet und explizit die Ursprünglichkeit spezifischer Lebensweisen zur Norm erhebt. Die frühen Dorfgeschichten Josef Ranks (aus dem Böhmerwald) und Berthold Auerbachs (aus dem Schwarzwald) ähneln dabei in vielerlei Hinsicht den beliebten Berichten von Expeditionen zu den ‚Urvölkern‘ in den Kolonien.3 Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied: die erzählende Erforschung und Aufzeichnung der Sitten und Gebräuche im eigenen Hinterland folgt weniger exotistischen Interessen, sondern ist im Kontext republikanischer Bestrebungen zu lesen, die Idee der Nation zu naturalisieren (Reiling 2015; Baur 1978). Solche narrativen Verwurzelungsstrategien bilden ein Kernelement der zur Untersuchung stehenden Dorf- und Waldgeschichten. Sie bilden sich zu einer Schablone, durch die schließlich nicht nur die Nation, sondern auch die Welt im Dorf bzw. im Wald zu sehen ist (vgl. Stockinger 2018; Reiling 2015; Twellmann 2015). Nach der gescheiterten 1848er-Revolution scheint sich die Qualität des Interesses an der Peripherie gewandelt zu haben. Sie kommentiert weiterhin und keinesfalls aus bloß restaurativer Haltung Reformen und Transformationen, die besonders in Österreich-Ungarn mit ungekannter Härte vorangetrieben werden. Gerade hier wird die Frage, wer die eigentlichen Bürger des Habsburgerreiches sind, gleichsam auf dem Lande verhandelt. Dabei geht es sowohl um Fragen der Nationalität als auch um Klassenfragen. Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie wird hier in Konstellationen prekärer Natur(en) verlagert und so zu einer Natürlichkeitsfrage stilisiert. ‚Heimat‘ wird spätestens in den 1870ern (nicht nur in Österreich-Ungarn) zu der Markierung einer verlorenen Einheit von Mensch und Natur.
Um die Jahrhundertwende wird vermehrt der Versuch unternommen, dieses nostalgisch verklärte Ideal in die Tat umzusetzen und sich in der Wildnis des Waldes durch Arbeit eine neue Heimat zu schaffen. Lebensreform- und Jugendbewegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts setzen sich, wenn man so will, selbst an die Stelle derer, die seit den 1840ern Beobachtungsgegenstand und Erzählanlass wurden. Sie machen sich im Versuch, die ‚Unnatürlichkeit‘ des modernen Lebens zu überwinden, zu Naturmenschen, ohne dabei jedoch die Prekarität ihres Naturverhältnisses aushebeln zu können. Liest man sie mit Jost Hermand als „grüne Utopien“ (Hermand 1991), überrascht es in der Tat wenig, warum Ludwig Klages Rede vor dem „Ersten Freideutschen Jugendtag“ einen so apokalyptischen Ton anschlägt: „Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Mensch und Erde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft“ (Klages 1926). Die Prekarität des Mensch-Natur-Verhältnisses scheint um 1915 nicht nur erwiesen, sondern gilt – damit beginnt, hier stellvertreten durch Klages, eine neue Phase des Diskurses um Mensch-Natur-Verhältnisse.
Parallel zu den skizzierten Aushandlungen von Mensch-Natur-Verhältnissen zwischen Dorfgeschichte und Lebensreform etabliert sich in den Wissenschaften ein ökologisches Paradigma, das Naturwissenschaften – allen voran die Biologie – und Ökonomie zusammenbringt. Die Rezeption der Evolutionstheorie Charles Darwins führt in Verschränkung mit der weitaus ‚stilleren‘ Revolution der Geologie nicht nur zu einer massiven Ausweitung des erdhistorischen Horizonts, sondern erzeugt auch einen massiven Legitimationsdruck (Breidbach 2014; Braungart 2007). Ernst Haeckel, der Darwin begeistert rezipierte, führt zwar den Begriff der Ökologie ein, führt jedoch im engeren Sinne keine ökologischen Studien durch (Töpfer 2011). Vielmehr wird er als Verfechter des Monismus bekannt (Hermand 1991) und als Wegbereiter des Sozialdarwinismus berühmt und berüchtigt. Darwins Evolutionstheorie vollendet in gewisser Hinsicht die mit der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert begonnene Emanzipation natürlicher Prozesse von metaphysischen Regeln. Das heißt, es geht nunmehr darum, Natur zu verstehen und zu kontrollieren. Haeckels Interpretation der Evolutionstheorie unterwirft den nun naturalisierten und den allgemeinen Naturgesetzen unterworfenen Menschen der gleichen Logik der Disponibilität und Manipulierbarkeit, die den Umgang mit allen anderen ‚natürlichen Ressourcen‘ bestimmt. Das ist im Sinne der Zeit konsequent. Neben Darwins evolutionsbiologischen Arbeiten ist es vor allem Marx’ ökonomische Theorie, die die Dynamisierung des Mensch-Natur-Verhältnisses vor Augen führt und beschreibbar macht. „Marx’ Ökologie“ (Bellamy Foster 2000) geht von ‚Stoffwechselprozessen mit der Natur‘ einerseits und von materieller Entfremdung von der Natur andererseits aus. Die bei Marx beobachteten Tendenzen zu einer Rationalisierung des Menschen im Sinne des Kapitals lassen sich als Komplement zu Darwins evolutionsbiologischen Thesen verstehen. Beide, Marx und Darwin, liefern gleichzeitig Analyseinstrumente und Möglichkeitsbedingungen für die Konstellationen prekärer Natur, die im Fokus stehen.
Als historische Konstellation reicht prekäre Natur zwar über die Schwellenräume 1840 und 1915 hinaus. Aber in diesem Zeitraum, so wird das Projekt zeigen, verdichten sich historische Konstellationen um prekäre Natur als ihr gemeinsames leeres Zentrum. Aufbauend auf den bereits seit dem 17. Jahrhundert sich ausdifferenzierenden Nachhaltigkeitskonzepten der Forstwissenschaft (Grober 2013; Radkau 2007) entwickeln sich hier materielle, epistemologische und narrative Praktiken des ‚Managements‘ von natürlichen Ressourcen. Im Rahmen des gestiegenen Bedarfs gerät allerdings der Nachhaltigkeitsgedanke zugunsten von Wachstumsbestrebungen ins Hin-
tertreffen. Die vielfach kritisierte Rationalisierung von Landschaften4 zu Ressourcen stellt einerseits die materielle Grundlage der Industrialisierung und Modernisierung dar, provoziert andererseits aber auch Forderungen nach ihrem Schutz. Natur ist kein autonomes Gegenüber mehr. Sie ist nicht mehr metaphysisch begründbar und für immer weniger Menschen Teil einer unhinterfragten Erfahrungswelt. Die an vielen Stellen sichtbare Möglichkeit ihrer Zerstörung und Manipulation macht die technologische und wissenschaftliche Beherrschbarkeit der Natur paradoxerweise gleichzeitig evident und unglaubwürdig. Wo die Unterdrückung von Natur – z.B. durch die Begradigung von Flüssen, Trockenlegung und Anlage von Seen etc. (Blackbourn 2016) – offensichtlich möglich ist, tritt nun auch die Möglichkeit ihrer irreversiblen Zerstörung auf den Plan und mit ihr das mögliche Ende der Menschheit. Das moderne Paradigma einer „Zukunft als Katastrophe“ (Horn 2014) wird durch Verfahren ökologischen Erzählens als Folge prekärer Natur popularisiert und tritt um 1915 in eine neue Phase ein. Zugespitzt heißt das, in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts bildet sich ein Modell der Plausibilisierung und Popularisierung ökologischer Konstellationen heraus, dass erstens weder rein katastrophisch noch rein utopisch zu verstehen ist und dessen spezifische Prozesse der Dynamisierung, zweitens, zu einem Modell für alle folgenden Epochen politischer Ökologie werden.
2 Störung und Wirklichkeitsbezug. Methodische Konstellationen
Aus einem praktischen Impuls heraus zeichnen sich die Texte, die im Fokus des Projekts stehen – neben Dorfgeschichten auch Journalartikel, literarisierte Reflexionen von Natur, populärwissenschaftliche Abhandlungen und politische Pamphlete früher Naturschützer –, durch die populäre Fiktion einer authentischen Naturerfahrung aus. Sie unterlaufen damit sowohl Unterscheidungen wie Schillers naives und sentimentalisches Naturverhältnis als auch das romantische Ideal einer Identität mit Natur (Bühler 2016; Braungart 2005). Gerade in dieser Hinsicht wurde das Potenzial der populären Erzählungen von Mensch-Natur-Verhältnissen bisher unterschätzt: Ihre Ablehnung ästhetischer Lösungen sowie die Aussetzung poetischer Inszenierungen des Scheiterns von Naturbegegnungen ist gerade nicht Zeugnis ihrer unterkomplexen Struktur oder einer reduktiven Heimat-Ideologie, sondern – das wird im weiten Blick auf eine große Zahl unterschiedlicher Texte deutlich – Ausdruck eines Bedürfnisses, ‚einfache‘ Formen für ein existenzielles und komplexes Problem zu finden. Im Einzelfall besteht also immer die Gefahr einer apodiktischen Reduktion. D.h. es lässt sich eine Tendenz zur Setzung ‚gelingender‘ Mensch-Natur-Beziehungen beobachten, die jedoch so idealisiert und individualisiert sind und meistens räumlich oder zeitlich so abgelegen sind, dass sie nicht ‚realistisch‘ zu Modellen gesellschaftlicher Verhältnisse werden können. Wo also, wie programmatisch in vielen Erzählungen Peter Roseggers, gelingende Mensch-Natur- Beziehungen unwiederbringlich in idyllische Kindheits- und Heimatsphantasmen verlagert werden (Baur 1988; Wagner 1991), scheint Protest oder Widerstand gegen ungewollte Veränderungen – oder eben „Naturschutz“ – aussichtslos. Es reicht aber nicht aus, solchen ‚falschen‘ Narrativen nachzuweisen, dass sie potenziell schädlich werden.5 Es geht hier darum, zu untersuchen, inwiefern die Texte ökologisch erzählen, welche kulturökologische Funktion sie erfüllen und inwiefern sie so zum Teil der letztlich wiederum ökologischen Erzählung einer Problemgeschichte der Beziehung von Mensch und Natur werden.
Nicht nur der ökonomische Erfolg solcher Erzählungen, auch ihr Erfolg hinsichtlich der Produktion und Formung affektiver, epistemologischer und materieller Umwelten hängt von ihrer Vernetzung ab. Keine Dorfgeschichte, kein Heimatroman, kein Naturschutzpamphlet steht für sich allein. Weder Autonomieästhetik noch Originalität der Form – darin unterscheiden sich ökologische Erzähltexte von romantischen und modernistischen – sind wünschenswerte Merkmale derjenigen Texte, die an der Produktion prekärer Natur maßgeblich beteiligt sind. Vielmehr sind sie Teil eines Marktes (Wagner 1991), dessen Bedingungen die Texte massiv beeinflussen. Gerade Texte, die in Reihen, Kalendern und Periodika erscheinen, „interferieren“ mit anderen Artikeln und werden Teil einer seriellen Konversation (Stockinger 2018). Selbst also dort, wo keine direkten Bezüge aufgerufen werden, müssen Versionen prekärer Natur immer mit einem weiten Blick auf zeitgenössische Diskurse – wissenschaftlich, politisch, gesellschaftlich – bezogen werden. So ist bspw. die populäre Diskussion naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (z.B. Forstwissenschaft, Evolutionstheorie, Geologie, Meteorologie) oft erst dann als Hintergrund scheinbar weltabgewandter Heimat-Narrative erkennbar, wenn sie auf diese Weise kontextualisiert und als „universale Publikumsfiktion“ (Stäheli 2005) gelesen werden.
Modelle ganzer Natur – z.B. als göttliche Schöpfung – stehen oft eklektisch neben rationalistischen Modellen einer regulierbaren Natur, die dann wiederum mit gesellschaftlichen Entwicklungen analogisiert werden. So oszillieren beispielsweise Roseggers publizistische Arbeiten zwischen den Diskursen: „Veränderung der Landschaft“, ein kulturkritischer Kommentar, der 1903 in Roseggers eigener Zeitschrift Der Heimgarten erschien, greift zwar geologisches Wissen über tiefenzeitliche Dimensionen der sichtbaren Landschaft auf und entwirft anhand dessen ein an gegenwärtige Anthropozändebatten erinnerndes Verständnis der Menschen als geologischer Kraft, verfängt sich dann jedoch in den Überblendungen von biografischen und geologischen Dimensionen. Die Dynamik wird dennoch evident. Durch sein technologisch verstärktes Handeln wird „der Mensch“ zur Naturkraft, die in den fünf Dekaden von Roseggers Leben Veränderungen bewirkt, die auf ‚natürlichem‘ Wege Jahrtausende und Jahrmillionen dauerten. Am Ende des Textes stellt er die Bewegung jedoch still, indem er ein überzeitliches Schicksal aufruft und die menschliche Hybris in die Theorie verlagert:
Ihr Schicksal [das der wilden Tiere und Pflanzen, SN] steht bei den Sternen, denn diese bestimmen das Klima. Der Mensch jedoch, trotz seiner Unbeständigkeit, er überdauert und überspannt alles – sei es schon nicht mit seiner Leiblichkeit, so doch mit seinem Gedanken, der mit heißer Ewigkeitssehnsucht die Jahrtausende mißt (Rosegger 1903).
Rosegger nimmt hier nicht nur „Meteorologie“ wörtlich, insofern er Klima als Effekt astronomischer Konstellationen darstellt, er überblendet es auch noch mit der Astrologie. Das ließe sich mit einigem Recht als missglückter poetischer Versuch verstehen oder auf Zeitnot bei der Textproduktion zurückführen (Wagner 1991). Allerdings lässt sich im Zusammenhang mit anderen Texten Roseggers zeigen, dass diese Ambivalenzen produktive Elemente der Erzählungen werden und sich aus ihnen spezifische Wissensbestände generieren (Nitzke 2017).
Brüche und Widersprüche innerhalb einzelner Texte und zwischen unterschiedlichen Texten sind nicht nur bei Rosegger virulent. Lässt man die Qualitätsdebatte außen vor, wird klar, dass hier ein Verfahrensproblem realistischer Literatur auf den Plan tritt: „Kern des realistischen Erzählens [ist] ein aporetisches Verfahren in Form einer semiotischen Kippfigur“ (Baßler 2013). Der Versuch, mit „poetischem Blick“ den Kern der Wirklichkeit zu erkennen und im Text wirklicher erscheinen zu lassen, als sie sich selbst darstellt, muss am Fehlen eines allgemein akzeptierten Metacodes – hier: Natur – scheitern (Baßler 2013):
Auf der Verfahrensebene führt das dazu, dass jedes Phänomen der Diegese zwar verklärt werden, also symbolisch für einen übergeordneten Code stehen soll, dass aber immer dann, wenn solche Phänomene tatsächlich mit Bedeutsamkeit aufgeladen werden, der realistische Charakter der Diegese (und damit automatisch auch der des Textes) bedroht ist und der Text sofort wieder in eine metonymische Bewegung kippt (Baßler 2013, 8).
Prekäre Natur ist Ergebnis und Ursache dieser Unfähigkeit, einen Metacode als gültig zu etablieren.
Ganze Natur erweist sich aus dieser Perspektive als Störung. Wie das biblische Paradies existiert sie außerhalb der erreichbaren Wirklichkeit und wird nur als geschlossene Erzählung wirksam, die aber im Vergleich mit der prekären wirklichen Natur fremd und ‚unrealistisch‘ wird. Damit disqualifiziert sie sich in der Moderne als Bezugsrahmen realistischer Aussagen und Ansprüche (Baßler 2013), bleibt aber ein umso effektiveres Instrument, um Ansprüche, Sehnsüchte und Ängste zu wecken und zu steuern.6 Idylle und Heimat werden dann zum Teil einer „Pastoral Ideology“ (Buell 1995), die sich vor die dynamische Bewegung der Auseinandersetzung mit prekärer Natur setzt und bestimmt, was Natur eigentlich ist und was eigentlich natürlich ist. Gerade in dieser Hinsicht sind die Studien von Gerhard Kaiser (1991) und Leo Marx (1964) nach wie vor wegweisend. Sie verfolgen den Einsatz literarischer Motive und Tropen in der Aushandlung von Mensch-Natur-Beziehungen angesichts der einsetzenden Industrialisierung und liefern damit wichtige Grundlagen für das vorliegende Projekt. Besonders Marx beobachtet die narrative Inszenierung einer Störung intakter Natur durch die technisierte ‚Außenwelt‘.7
Die Kippfigur wird also im Falle gestörter Natur zu einem Perpetuum mobile. Unabhängig davon, aus welcher Richtung die Störung jedoch kommt, ihre offenbarende Funktion bleibt in beiden Fällen enorm.8 Ökologische Erzählungen, die „Imaginationen der Störung“ (Koch/Nanz/Pause 2016) auf diese Weise einsetzen, finden sich auch in der deutschsprachigen Literatur. Gerade das Geräusch von Eisenbahnen oder Sägen dient oft nicht nur dazu, die Idylle zu brechen, sondern sie als solche überhaupt erst kenntlich zu machen und gleichzeitig die ‚Außenwelt‘ als Gegenteil der Idylle zu offenbaren. Damit bricht aber die vorgebliche Geschlossenheit des abgelegenen Schauplatzes und erweist sich in seiner prekären Natur. Dort, wo ganze und gefährdete Natur einander in ihrer Prekarität gegenübergestellt werden, vermischen sich die Wissens- und Redeweise auf eine Art, die einem Denken in getrennten Systemen zuwiderläuft. Die Konkurrenz zwischen Narrativen gefährdeter und ganzer Natur ist nicht ‚sachlich‘. Vielmehr vermischen sich hier „Denkkollektive“ (Fleck 1980) mit „emotional communities“ (Rosenwein 2016) auf eine Weise, die (rationale) Differenzierungen, wie wahr/falsch, nützlich/schädlich und produktiv/destruktiv, ihrer analytischen Energie beraubt, aber umso mehr rhetorische und affektive Energie/Gewalt (force) erzeugt.9 Dieses Verhältnis von Ordnung und Störung inszeniert Mensch-Natur-Verhältnisse als ständiges Kippen idyllischer Illusion in prekäre Wirklichkeit und liefert damit auch ein Modell populärer Selbstbeschreibung (Koch 2014). Die Analyse prekärer Natur stellt also immer auch die Frage nach der Rückkopplung von Störung und Ordnung, dem potenziellen Machtgewinn, den die Existenz und der Schutz prekärer Natur bedeutet, sowie nach den Akteuren, die davon profitieren.
Das wird besonders dort deutlich wo, wie bspw. bei Franz Michael Felder, traditionelle und religiöse Glaubenssysteme nebeneinander existieren. Figuren und Text ringen dann, ähnlich wie in Stifters Haidedorf, um die Vereinbarkeit widersprüchlicher Beziehungsmodelle. Oft mit dem Ergebnis, dass sie abbrechen, ohne einen übergeordneten ‚Sinn‘ bestimmen zu können – Baßler nennt das „Entsagung“ – oder eben einen Metacode setzen, der dann durch die Verlagerung in eine diffuse Vergangenheit („früher“) plausibilisiert wird. In Felders Nümmamüllers und das Schwarzokaspale (1862) greifen beide Strategien: Die Handlung spielt im Bregenzer „Hinterwald“ zu einer Zeit, „wo die ‚Wälder‘ nach einer beinahe tausendjährigen Abgeschlossenheit von der Welt in etwas lebhafteren Verkehr mit derselben kamen, indem die ärmeren Leute häufig auswanderten und dann mit fremdem Geld und fremden Sitten wieder in die Heimat zurückkehrten“ (Felder 2013). Die Möglichkeit eines Wandels der ‚natürlichen‘ Sitten bei den Bregenzern wird in Felders Roman dadurch vermittelt, dass es einer, wenn man so will, natürlichen Auslese unterliegt, welche Figuren am Ende Teil der ‚Heimat‘ bleiben können. Die der Außenwelt allzu sehr zuneigenden Brüder und Schwestern sterben entweder in der Fremde oder werden ganz an sie abgegeben. Das lässt sich als Moment prekärer Natur deuten, weil hier die Fragilität des Gleichgewichts ‚natürlich‘ gewachsener Mensch-Natur-Gemeinschaften deutlich hervortritt. Zu viel Neues bedroht die alte Ordnung unmittelbar mit dem Verschwinden, zu wenig Neues oder Fremde aber ebenso, denn die Lebensweise der Bregenzer ist ohne den „Verkehr mit der Welt“ nicht mehr überlebensfähig.
Prekäre Natur kann als Markierung der so sichtbar werdenden Leerstelle dienen, vermag aber nicht, diese zu füllen. Vielmehr offenbart sie den Verlust der Möglichkeit eines stabilen Metacodes bzw. eines metaphysisch begründeten Sinns (Baßler 2013). Die zunehmend sichtbare Verletzbarkeit von Natur – ob als Lebenswelt, (endliche) Ressource oder ästhetisches Konstrukt – ist also nur eine Seite dieses Konzepts. Ihr Komplement ist die markierte Instabilität umfassender Deutungsmodelle. Prekäre Natur ist kein positiv beobachtbares Phänomen, sondern ein begriffliches Instrument, das den Zusammenhang scheinbar getrennter Handlungen, Phänomene und ‚Sphären‘ sichtbar macht. Es geht somit nicht um die (Neu-)Besetzung einer Leerstelle oder die Benennung eines ‚eigentlichen‘ Grundes, sondern darum, eine spezifische Dynamik, die sich aus der Instabilität des Mensch-Natur-Verhältnisses generiert, beobachtbar zu machen. Die Untersuchungsperspektive dieses Projekts zielt darauf ab, solche Ambivalenzen und Ausweichmanöver genauer in den Blick zu nehmen und auf ihre Funktion in der Produktion und Reflexion von Umwelten zu befragen. Lücken und auf Dauer gestellten Störungen, zeichnen die Transformationen von Landschaften, von Arbeits- und Besitzverhältnissen sowie Denkmodellen im 19. Jahrhundert aus und werden Gegenstand populärer Diskurse. Sie sind die entscheidende Ressource derjenigen Leiterzählung, die trotz aller Versuche sie zu diskreditieren, kaum an Attraktivität bzw. Wirkungsmacht verloren hat: die des Fortschritts. Denn erst prekäre Natur macht Fortschritt durch ihr spezifisches Verhältnis von Latenz und Evidenz denkbar und realisierbar (Jäger 2015; 2004). ‚Prekäre Natur‘ bezeichnet eine Doppelkonditionierung von Natur als vollständig vom Menschen durchdrungen und zugleich als vollständig den Menschen durchdringend. Sie erlaubt es, die Asymmetrie der Natur-Kultur-Debatte auszuhebeln, ohne sie ihrer produktiven und aufschlussreichen Polarität zu berauben (Vgl. Malm 2018). Der Analyse prekärer Natur geht es nicht um die Aussetzung von Dichotomien. Daher unterscheidet sie sich von einem Konzept wie Donna Haraways naturecultures, weil es durchaus von Interesse ist, Anteile und Verhältnisse von Natur und Kultur in ihrer jeweiligen Gegenüberstellung im Text zu identifizieren. Die Prekarität von Natur und Naturen wird nämlich gerade durch diese Zuweisungen – das ist Natur! Das ist nicht Natur! – sichtbar. Die Feststellung einer hintergründigen Natürlichkeit (Essentialisierung bzw. Naturalisierung) bzw. eines umfassenden Konstruktivismus führt an dieser Stelle nicht weiter. Stattdessen bezieht sich ‚prekäre Natur‘ auf die Popularisierung eines Verständnisses der Mensch-Natur-Beziehung als gegenseitige Abhängigkeit, die aufgrund der Industrialisierung in Richtung einer potenziellen Dominanz des Menschen kippt. Dadurch wird die Frage nach der Prekarität der Natur, gleichsam ökologisch, zu einer Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Menschen und seiner Lebensweisen. Prekäre Natur ist also ein Moment historischer „environmental reflexivity“ (Locher/ Fressoz 2012).
3 Ökologisches Erzählen als Modus der Umweltproduktion
Das Projekt geht von der Annahme aus, dass sich im Zeitraum zwischen 1840 und 1915 ‚ökologisches Erzählen‘ als eigenständiger Modus entwickelt, der prekäre Natur erfahrbar macht und damit letztlich an der Produktion materieller, formativer und affektiver Umwelten beteiligt ist. Die Schauplätze der Dorf-Heimat und der Wald-Wildnis dienen dabei als Fixpunkte, um Texte zu versammeln, die ökologisch erzählen und Teil ökologischer Erzählungen sind. Der Schwellenraum um 1840 als Beginn des Beobachtungszeitraums ist in Abgrenzung zu Natur-Reflexionen der Romantik gewählt. Deren „Absolutheitsanspruch“ an die Möglichkeit einer Einheit von Natur und Subjekt (vgl. Wanning 2005) bzw. das poetische „refashioning of reality“ (Rigby 2004) lehnt die Prosa der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts mehr oder weniger explizit ab. Während auch romantische Literaturen rege an wissenschaftlichen Diskussionen partizipieren und mit ihrer engen Anbindung an die Naturphilosophie gerade im deutschsprachigen Raum fraglos richtungsweisend für die Darstellbarkeit von Mensch-Natur-Beziehungen sind, richtet sich der Fokus bei der Untersuchung prekärer Natur auf ökologisches Erzählen als populäre Praxis. Dabei geht es nicht nur um die ‚volksthümliche‘ Sprache, die so unterschiedliche Autoren wie Auerbach, Stelzhamer, Rosegger, Riehl, Rudorff u.v.m. ausstellen, sondern um die Absage an eine ästhetische Apotheose des Mensch-Natur-Verhältnisses.
Fraglos schließt diese Perspektive an die literaturwissenschaftliche Richtung des Ecocriticism an.10 Die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Umwelt steht wie im Ecocriticism im Zentrum des Projekts und bestimmt sowohl die betrachteten Motive als auch Strukturen. Das Projekt untersucht prekäre Natur als Effekt und Motivation ökologischen Erzählens. Damit ist ein Verfahrensbündel bezeichnet, das im Anschluss an aktuelle Forschungen aus dem Bereich des Ecocriticism zwischen „Ecological Thought“ (Dürbeck et al. 2017), „environmental narrative“ (Weik v. Mossner 2017) und „ökologischem Genre“ (Zemanek 2018) angesiedelt ist. Alle drei Konzepte stellen Versuche dar, mediale Darstellungen von Mensch-Natur-Beziehungen inklusiv zu betrachten und nicht auf Selbstbeschreibungen oder spezifische Ausdrucksformen zu reduzieren. Unter Ecological Thought, „defined in the polarity between potentially infinite connectivity and potentially idefinite diversity“ (Dürbeck et. al. 2017), versammeln die Herausgeber*innen literarische, politische, philosophische und kulturwissenschaftliche Ökologien aus dem deutschsprachigen Raum. Environmental Narrative ist ein verwandter Versuch zwischen nahezu unbegrenzter Verbundenheit und Diversität zu vermitteln, um die affektive Lenkung ebensolcher Narrative unter Zuhilfenahme von Theorien der „embodied cognition“ zu untersuchen (Weik v. Mossner 2017). Der Sammelband Ökologische Genres betrachtet stärker, aber nicht exklusiv, literaturwissenschaftlich ausgerichtet das „ökologische Potenzial“ einer ebenso diversen Zahl von Genres und Schreibmodi. Die hier betonte Offenheit ökologischer Genres und Schreibweisen gegenüber unterschiedlichen Gegenständen, Anliegen und Wirkungszielen erfordere eine Untersuchung der „Verschränkungen des Ökologischen […] auf der semantisch-diskursiven als auch auf der ästhetisch-strukturellen Ebene“ (Zemanek 2018). „Das Ökologische“ wird dadurch, so ließe sich aus der Perspektive dieses Projekts anschließen, somit selbst zu einem Genre. Allerdings nicht im Sinne eines fixen Sets von Gattungsregeln oder -konventionen, sondern als transmediales Wanderphänomen (Ritzer/Schulze 2016). Als „Gegenstand unabschließbarer prozessualer Zuschreibungen“ (Ritzer/Schulze 2016) verstanden, lassen sich auf diese Weise Ecological Thought, Environmental Narrative und Ökologisches durch einen verfahrensbasierten Genrebegriff verbinden. Ökologisches Erzählen lässt sich so als „Modus der Formgebung betrachten“, anhand dessen transmediale Aneignungsprozesse und intermediale Grenzziehungsprozesse sichtbar werden (Prokić 2016).
Das Projekt antwortet also auf ein mehrdimensionales Desiderat. Denn nicht nur bilden, erstens, Dorfgeschichten, insbesondere die österreichischen, eine auffällige Lücke in der ökologisch orientierten Literaturwissenschaft; die Perspektive des Ecocriticism ist, zweitens, auch in der jüngst erstarkten Forschung zu Dorf und Ländlichkeit unterrepräsentiert.11 Ökologisches Erzählen liefert, drittens, einen methodischen Zugang, der die Verfahren untersucht, mithilfe derer Mensch und Natur auf den benannten Schauplätzen verknüpft, skaliert und austariert werden. Damit ist es zugleich ein Modus der Reaktion auf sichtbare Transformationen der Landschaft, auf messbare und denkbare Veränderungen in Hydro-, Litho- und Atmosphäre, auf den Wandel von Arbeits- und Lebensbedingungen und als Modus der Formgebung auch einer der Umweltproduktion, insofern er entscheidend zum Fortschritt dieser Transformationen beiträgt.
Hier macht das Projekt mit dem Umwelt-Begriff Jacob von Uexküll ein biologisches Konzept fruchtbar, das sich schon aufgrund seines ambivalenten institutionellen Status’ in besonderer Weise für die vorgeschlagene Perspektive eignet: Umwelt ist ein Konzept, das erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts als biologisch-ökologische Kategorie etabliert wurde. Diese Umwelt ist allerdings ein Spezialfall ökologischer Wissensbildung über das Verhältnis von Organismus und Umgebung. Uexküll, der u. a. vermittelt durch ökokritische Heidegger-Lektüren derzeit eine Renaissance erlebt, entwirft Umwelt nicht wie „environment […] als natürliche[n], biologische[n] Gegenpart von organism“, sondern als durch einen Organismus autonom ausgewählten Teil der Umgebung (Sprenger 2014). Die Untersuchung der Umwelt und Innenwelt der Tiere sucht nach einer Antwort auf die Frage, wie der Organismus „durch sein Verhältnis zur Umwelt seinen Bezug zur Welt gewinnt und damit – im Falle des Menschen – seine Subjektivität geprägt wird“ (ebd.). Die Uexküll‘sche Umwelt positioniert sich durch ihren Bezug auf Menschen als (Um-)Welt produzierende Wesen zwischen Kultur- und Naturwissenschaft. Seine Überlegungen machen sich ökologische Erzählverfahren zunutze, um Umwelt und Umgebung in dynamischen Austausch mit dem Organismus zu bringen und dabei dessen Autonomie herauszustellen. Diese narrativen Verfahren sind es, die einerseits seine letztlich vitalistische Grundhaltung offenbaren12 und andererseits sein biologisches Konzept zu einem so fruchtbaren Ausgangspunkt für die Erforschung prekärer Natur machen.
Denn diese lenkt die Aufmerksamkeit auf paradigmatische Zwischenräume des Wissens, die nicht die gerichtete und unumkehrbare Bewegung einer Entdeckung oder Explikation – von unbekannt zu bekannt, von latent zu evident – kennzeichnen, sondern die Oszillation zwischen diesen Polen. In Anschluss an Uexküll lässt sich ökologisches Erzählen also als ein Verfahrensbündel begreifen, das ‚Umwelt‘ produziert. Das Verhältnis von Mensch und Natur muss dadurch nicht ausgehend von einer Diagnose der Entfremdung oder mit dem Ziel einer Hybridisierung betrachtet werden, sondern kann als kreativer Prozess gleichzeitiger Produktion von Umwelt und Subjekt in den Blick genommen werden. Zwischenräume des Wissens zu untersuchen, bedeutet, nicht Mensch-Natur-Verhältnisse in der Literatur (der Romantik, des Realismus, der Moderne) zu verstehen, sondern vielmehr mit der Literatur. Dazu eignen sich die populären Diskurse, die sich um Dorf- und Waldgeschichten der deutschsprachigen, aber auch europäischen und US-amerikani schen Literatur bilden, in besonderer Weise, weil sie den Anspruch auf wirkliche Natur zuzugreifen so prominent ausstellen. Natur wird besonders dort in ihrer Prekarität sichtbar. Denn, wo der Anspruch verfolgt wird, Aussagen über Wirklichkeit ohne metaphysische Gewähr zu treffen, erweist sich der Bezug auf die Wirklichkeit selbst als prekär (Koschorke 2012, 2015). Damit kann die vormoderne Natur auch nicht prekär sein, weil sie Teil einer sinnhaften Ordnung ist, auch wenn diese sich ihren menschlichen Beobachtern nicht erschließt.
4 Verfahren des ökologischen Erzählens
Ökologisches Erzählen ist weder motivisch noch diskursiv gebunden, zeichnet sich aber durch thematische und verfahrenstechnische Schwerpunkte aus. Das heißt, ökologisches Erzählen ist nicht notwendig ‚grün‘ und nicht notwendig literarisch, aber es wird besonders dort produktiv, wo Mensch-Natur-Verhältnisse zur Debatte stehen und vor allem dann, wenn es um ihre (Dis-)Kontinuität mit Vergangenheit und Zukunft geht. Ökologisch wird das Erzählen dieser Verhältnisse demnach nur zum Teil wegen seiner strukturellen und thematischen Orientierung an zeitgenössischem (proto-)ökologischem Wissen. Entscheidend sind die narrativen Verfahren (Baßler 2015) des Verknüpfens, Austarierens und Skalierens von Mensch-Natur-Beziehungen, mithilfe derer Erzählungen entscheidend zur Produktion dieses Wissens beitragen. Diese Verfahren ähneln Figuren ökologischen Denkens bzw. stellen heraus, wie viel Ähnlichkeit zwischen diesen Figuren und narrativen Verfahren besteht. Keinesfalls soll so eine inhärente narrative Qualität nicht-menschlicher Natur behauptet werden.13 Vielmehr werden die ökologische Qualität des Erzählens und die narrative Qualität der Produktion ökologischen Wissens sichtbar.
Verknüpfend verfährt ökologisches Erzählens dort, wo es Beziehungen (Mensch-Mensch-Natur/ Nicht-Mensch, Mensch-Natur/Nicht-Mensch) thematisiert und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit sowie als Teil eines gemeinsamen Haushalts (Haeckel; vgl. Töpfer 2011) darstellt. Das kann unterschiedliche Grade von Komplexität annehmen. Entscheidend ist hier die Darstellung voneinander abhängiger und sich gegenseitig beeinflussender Beziehungen. Austarieren bezieht sich auf die Herstellung von Gleichgewichten zwischen den Akteuren des (Beziehungs-)Netzes bzw. die Darstellung ihres Scheiterns (Bühler 2014; Sullivan 2011). Auch hier ist es nicht die Komplexität per se, die von Interesse ist, sondern die Frage, ob und welche Rolle die Vorstellung von Gleichgewicht für das Fortbestehen eines (Öko-)Systems, einer Gemeinschaft oder sogar der ganzen Welt hat und ob es durch Aushandlung, ‚intelligent design‘ oder einen auf Dauer gestellten Kampf um die eigene Existenz zustande kommt. Das Verfahren der Skalierung stellt schließlich Verknüpfungen und (Un-)Gleichgewichte in einen größeren Kontext. Hier kann im Guten wie im Schlechten ein, mit Ursula Heise gesprochen, „Sense of Place“ mit einem „Sense of Planet“ (Heise 2008) in Berührung kommen. Dieser kann zeitlich oder räumlich konnotiert sein. Skalierung ist insofern das schwierigste Verfahren, als bereits ein scheinbar simpler Verweis auf die ‚ganze Welt‘ oder die ‚Naturgeschichte‘ raumzeitliche Größenordnungen aufrufen kann, die eine Erzählung potenziell sprengen – insofern sie bspw. völlig unplausibel oder unverständlich wird –, werden sie nicht erfolgreich eingehegt (Clark 2012; Coen 2016; Braungart 2007). Praktiken der Einhegung sind ein integraler Bestandteil des Verfahrens der Skalierung. Trotz und gerade wegen ihrer Neigung zum Klischee (z.B. die Rede von der „Welt da draußen“ oder „dem Anbeginn der Zeiten“) lässt sich gerade hier der Grad der „Environmental Reflexivity“ (Locher/Fressoz 2012) einer ökologischen Erzählung besonders gut ablesen. Alle drei Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie in hohem Maße reduktions- wie komplexitätsfähig sind, d.h. sie können Mikro- und Makroebene darstellen und damit Komplexität nahezu unbegrenzt reduzieren oder erhöhen.14 So erweist sich erweist sich ökologisches Erzählen als Spezialfall narrativer „Weisen der Welterzeugung“ (Goodman 1990), nämlich als narrative Weise der Umweltproduktion. Mit Blick auf Uexkülls Unterscheidung zwischen Umgebung (allen Aspekten, die den Kontext eines gegebenen Wesens bilden) und Umwelt (den für das Wesen relevanten Aspekten der Umgebung, die seinen Handlungsrahmen bilden) wird deutlich, dass dieser Modus des Erzählens ökologische Verfahren aus der Transformation biologischer Umweltproduktion in epistemologische und ästhetische gewinnt. Die Untersuchung ökologischen Erzählens versteht also narrative Verfahren als Weisen der Welterzeugung, die Umwelten produzieren, die Produktion von Umwelten beobachtet und wiederum auch die Beobachtung selbst beobachten können. So gefasst, bildet ökologisches Erzählen eine Quelle für proto-ökologisches Wissen, die Etablierung oder Diskreditierung spezifischer Mensch-Natur-Verhältnisse und die Frage danach, wie prekäre Natur als inhärent instabile Konstellation so akzeptiert, und produktiv werden konnte. Ein Teil der Antwort findet sich an den Schauplätzen ökologischen Erzählens, den Räumen, anhand derer Mensch-Natur-Beziehungen mit besonderer Intensität infrage gestellt, als gefährdet oder natürlich-ursprünglich empfunden und dargestellt werden. Hier zeigt sich, dass eine Analyse ökologischen Erzählens notwendig komparatistisch verfahren muss. Denn unabhängig davon, ob sich ein direkter Bezug nachweisen lässt, kann wiederum nur ein weiter Blick Gemeinsamkeiten und Unterschiede unterschiedlicher Ausprägungen prekärer Natur erkennen.
5 Schauplätze: Dorf-Heimat und Wald-Wildnis
Ökologisches Erzählen konzentriert sich dort, wo Mensch-Natur-Beziehungen neu ausgehandelt werden müssen. Daher sind seine Gegenstände nicht in erster Linie spektakuläre Extreme, sondern gerade die Phänomene, Räume und Praktiken, die nicht fremd sein dürfen. Dieser Imperativ ist wichtig, denn erst die Begegnung mit fremd gewordener Natur bzw. die Erfahrung prekärer Natur erzeugt das Bedürfnis (re-) aktiver Umweltproduktion. Dorf und Wald sind die zentralen Schauplätze dieser Erfahrung und ihrer Darstellung in den Dorfgeschichten und der Heimatliteratur der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts. Hier werden die materiellen, sozialen und organisatorischen Folgen der veränderten Wirtschafts-, Arbeits- und Organisationsbedingungen sichtbar, erfahrbar und, vor allem, erzählbar. Die Komposita Dorf-Heimat und Wald-Wildnis markieren die Spannung, innerhalb derer sich Wald und Dorf als Schauplätze realisieren. Heimat und Wildnis stehen gleichsam für ideale, ‚natürliche‘ Zustände und umstrittene Visionen (Garrard 2012; Kirchhoff/Trepl 2009; Costadura/Ries 2016; Gebhard/Geisler/Schröter 2007). Als Heimat „des Menschen“ und gewollter Wildnis stehen Dorf und Wald als zentrale Narrative zur Untersuchung, die prekäre Natur inszenieren und hervorbringen, weil sie nicht von ihrer materiellen, sozialen und historischen Erfahrbarkeit zu trennen sind. Das heißt, im untersuchten Zeitraum lassen sich massive Änderungen in der Wahrnehmung und Darstellung von Natur beobachten, die sich sowohl auf physische als auch auf epistemologische und affektive Transformationen beziehen. Für die Analyse prekärer Natur bedeutet das, nicht allein stattgefundene Zerstörung ist ausschlaggebend, sondern die Tatsache, dass ihre Verletzlichkeit festgestellt wird. Es ist nicht die Rodung eines Waldes für eine Fabrik, sondern die Möglichkeit der Rodung jedes Waldes, die Natur in ihrer Prekarität erfahrbar macht. Ebenso ist es nicht das leere Dorf, dessen junge Leute sämtlich in die Stadt gezogen sind, sondern die Möglichkeit, dass sie es tun werden, die die Verletzlichkeit dieser Lebensweise sichtbar und erfahrbar macht.
Dabei zeigt gerade die Untersuchung von Wald und Dorf als Schauplätzen spezifischer Aushandlungen von Mensch-Natur-Verhältnissen auf, dass die Zeitgenossen sich zu den beobachtbaren und befürchteten Veränderungen ihrer sämtlichen Umwelten umfassend und kritisch äußerten. Die umfangreiche Verbreitung von neuen Theorien der Biologie, Geologie und Klimatologie, die Diskussion von technischen Entwicklungen und neuen Umgangsformen mit Natur fanden vor allem in Europa über Gesellschaftszeitschriften ein großes Publikum (vgl. Stockinger 2018). Mit der sichtbaren Veränderung der Landschaft, der Lebensweisen und des Wissens über Naturgeschichte geht im Positiven wie im Negativen eine Erneuerung individueller und kollektiver Bezugnahmen auf Natur einher. Natur tritt außerhalb wissenschaftlicher und künstlerischer Spezialdiskurse überhaupt erst als prekäre Natur hervor. Aus den Zentren der Modernisierung gehen dabei, nur scheinbar paradox, Impulse zur Wertschätzung wie zur totalen Ausbeutung der Natur aus (und das meint gerade in dieser Zeit Menschen und Nicht-Menschen). Gerhard Kaiser spricht von einer „Dialektik des Naturverhältnisses“, in der die Natur zum „Gegenbild der Gesellschaft mit ihren Zwängen [wird], die doch diese Polarität erst ermöglicht und erzeugt“ (Kaiser 1991). Der Bedarf an natürlichen Ressourcen beschränkt sich also nicht auf Kohle, Holz und Landwirtschaftsprodukte, sondern umfasst auch Landschaften, Klima und Lebensweisen, die – ob als Bild oder touristisches Ziel – von Städtern wie Landbewohnern konsumiert werden können. Die gegenseitige Durchdringung dieser zunehmend als getrennt markierten Sphären (Stadt/Land, Natur/Kultur, Produktion/Konsumption) erzeugt eine Art Gleichgewichtssehnsucht und ein Bild ganzer Natur, das von vormodernen wie von romantischen Vorstellungen zehrt. Ihr Negativ, prekäre Natur, wird also auch und gerade dort sichtbar, wo es geleugnet wird.
Die Schauplätze ökologischen Erzählens, auf denen prekäre Natur verhandelt wird, befinden sich programmatisch in der Mitte: zwischen Natur und Kultur, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Wirklichkeit und Erfindung (Schubenz 2017; Neumann/Twellmann 2014a, 2014b; Harrison 1992). Dorf und Wald sind (nicht nur) für das 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht vor allem aus einer europäischen Perspektive paradigmatisch: Sie bilden keine geographischen, strukturellen oder räumlichen Einheiten per se, sondern Fixpunkte, an denen sich Konstellationen prekärer Natur bilden.
Weder ‚Dorf‘ noch ‚Wald‘ sind natürliche bzw. anthropologische Konstanten, d.h. sie sind weder synchron noch diachron einheitlich definierbar (Marszałek/Nell/Weiland 2015; Harrison 1992). Vielmehr entstehen sie als Zusammenhänge erst im Erzählen – fiktionalem wie nicht-fiktionalem. Dass es keine fixe Zahl von Bäumen und Häusern, Tieren und Menschen oder Flächenmaßstäbe gibt, die Wald und Dorf respektive bestimmen, ist jedoch kein Defizit, sondern die Bedingung ihrer Produktivität. Beide Räume sind als materiell-ideelle Umwelten zu verstehen, die Naturräume, -phänomene und -erwartungen verbinden. Dorf und Wald bilden also Zentren vielfältiger Konstellationen von Mensch-Natur-Beziehungen, deren Bewertungen (natürlich/unnatürlich, alt/neu, ablehnens-/erstrebenswert) Aufschluss über (proto-) ökologisches Wissen und ebensolches „Bewusstsein“ geben.15 Es sind insbesondere die Erwartungen an den Naturraum bzw. die Natürlichkeit eines Raums, die sie als Schauplätze ökologischen Erzählens auszeichnen. Denn ihre Bestimmung ist trotz ihrer Abhängigkeit von historischen, sozialen und epistemologischen Verhandlungen auf bemerkenswerte Weise evident. Sie erscheinen als Konstanten in der Beziehung von Mensch und Natur und haben damit das Potenzial in fernste Vergangenheiten und Zukünfte zu reichen. So wie mithilfe von Dorfgeschichten Lebensformen (re)aktiviert und archiviert werden (Langthaler 2014), die in die älteste Menschheitsgeschichte zurückreichen sollen, lassen sich anhand von Bäumen und Wäldern Geschichten erzählen, die die Gegenwart mit einer Welt vor unserer Zeit verbinden.16 Solche zeitlichen und außerzeitlichen Inszenierungen prägen die Erwartungen, die an Wald und Dorf als Umwelten gestellt werden. Zu Schauplätzen ökologischen Erzählens werden sie, weil Dorf und Wald nie nur sie selbst sind, sondern als Natur übercodiert sind. Dieser Effekt verstärkt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, da sie als Lebens- und Arbeitsräume gegenüber den prominenten ‚neuen‘ Räumen der (Groß-)Stadt und den ihr angeschlossenen Gebieten industrieller Produktion an Bedeutung zu verlieren scheinen. Dorf und Wald bieten sich auch in dieser Hinsicht an, um die Veränderungen von Mensch-Natur- Beziehungen zu beobachten. Anders als die wachsenden (Groß-)Städte der Zeit können sie nicht beanspruchen, vollkommen neue Lebensweisen hervorzubringen. Das Gegenteil zeichnet sie aus. Sie rücken als Gegenprogramm zur Modernisierung (Urbanisierung, Industrialisierung und frühe Globalisierung) aus dem Hintergrund des Selbstverständlich-Natürlichen in den Vordergrund des Prekär-Schützenswerten. Die unkontrollierbare und fremde Wildheit der neuen Welten und Sitten wird der bekannten und wünschenswerten Wald-Wildnis und Dorf-Heimat als idyllisches Gegenbild gegenübergestellt. Es steht zu untersuchen, ob Dorf-Heimat und Wald-Wildnis als Schauplätze und Narrative nicht ihren eigenen Gegenstand überhaupt erst in einer Weise hervorbringen, die heute noch erkennbar und vertraut ist. ‚Echte‘ Natur und die Möglichkeit gelingender Mensch-Natur-Verhältnisse siedeln sie dabei effektiv außerhalb von Moderne an und installieren einen Fatalismus, der Schutz und Rettung von menschlichen wie nicht-menschlichen Naturen gleichermaßen illusorisch erscheinen lässt. Die Erforschung prekärer Natur muss also die Frage stellen, inwiefern diese bemerkenswert haltbaren Narrative nach wie vor einen entscheidenden Beitrag zur fortschreitenden Zerstörung von Natur bzw. der Ohnmacht gegenüber zerstörenden Praktiken unter dem Banner des ‚Fortschritts‘ leisten. Es geht also auch um eine Bestandsaufnahme und Kontextualisierung potenziell schädlicher Imaginationen ganzer Natur. Das Projekt kann so über Dorfgeschichten, Heimatliteratur und ihre direkten Kontexte hinaus, ökologisches Erzählen als Modus der Umweltproduktion auch in den Schriften früher Naturschützer, Reformbewegungen um 1900 und den „grünen Utopien und Dystopien“ der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg untersuchen (Hermand 1991), ohne jedoch einen Maßstab der ‚richtigen‘ Haltung anzulegen, wie das in älteren Geschichten der Fall ist (vgl. auch Sieferle 1984, 1997). Auf diese Weise tritt nicht nur die strukturelle und motivische Nähe von ökologischen Untergangsvisionen und Heilsversprechen hervor, sondern auch eine entscheidende Facette der „Dialektik der Naturerfahrung“ (Kaiser 1991), die intensive Identifikation mit der Natur – etwa bei den Monisten, Neoromantikern, Anthroposophen – zum Ausgangspunkt und zur Rechtfertigungsoption umso brutalerer Ausbeutung von Ressourcen (menschlichen und natürlichen) macht.
Ökologisches Erzählen ist ein entscheidender Faktor in der Annahme, Lebensweisen im Dorf und mit dem Wald seien natürlich oder auch nur natürlicher als urbane, ‚naturferne’ Formen des Zusammenlebens von Menschen und Nicht-Menschen. Der Eindruck ist selbst eine Konsequenz der Erzählungen und Erzählweisen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuen. Insbesondere das wachsende Interesse am Schutz ‚natürlicher‘ Lebensweisen und Räume. Frühe Dorfgeschichten legen ihr Interesse, diese traditionelle Lebensform für die Zukunft zu bewahren, beispielsweise selbst offen (Neumann/Twellmann 2014a; 2014b; Baur 1978). Dialektale Sprache, Sitten und Gebräuche sind hier ebenso Indikatoren einer gewissen ‚Naturbelassenheit‘, wie die vermeintliche Einfachheit des dörflichen Denkens und Verstehens.17
Ihr realistischer Anspruch (und dessen Scheitern) positioniert sie in einem Umfeld, das auch für das im anglophonen Raum beheimatete Nature Writing und verwandte Formen in der europäischen Literatur von großer Bedeutung ist. Die bewusste Abwendung von den fantastischen und magischen, aber eben auch metaphysischen Dimensionen und Begründungen der Natur führte innerhalb und außerhalb literarischer Erzählformen zu einer Reihe von Versuchen, Natur (auch) als Gegenüber bzw. Menschen als Teil ökologischer Beziehungsnetze zu begreifen und so Authentizitätseffekte zu erzeugen. Diese sind aber nicht ohne die „romantische Reserve“ dieser Modernisierungsphase zu verstehen (Neumann et al. 2017). Die nun als Realität empfundene Beherrschung der Natur entzieht der romantischen Vision einer geheimnisvollen allumfassenden Natur die Grundlage, ohne die emotionale Lücke schließen zu können, die die Abschaffung dieser (gerade erst erfundenen) Natur hinterlässt. Sie liefert die Ganzheitsfantasien, die die neue Ressourcenpolitik der industrialisierten Welt als qualitative Veränderung erst spürbar machen. Jost Hermand streift wie auch Rolf Peter Sieferles einflussreiche „Geschichte der konservativen Zivilisationskritik“ (Sieferle 1984) viele dieser Verbindungen. Aber solcherart gerahmte Geschichten haben notwendig blinde Flecken hinsichtlich derjenigen Verfahren, die realistische Literatur – auch und gerade solche mit republikanischer oder progressiver Agenda – mit den Reformprojekten und Naturschutzbestrebungen der Jahrhundert wendezeit verbindet.
Nicht zufällig ist die zweite Hälfte des langen 19. Jahrhunderts voller „Entdeckung[en] der Natur“ (Goldstein 2013) und Versuchen, eine ‚reine‘ Naturerfahrung zu machen. Doch während Eroberungsnarrative wie Polarfahrten und Gipfelbesteigungen extreme Naturen – die des Eroberers und des Eroberten – als intakte Entitäten miteinander konfrontieren, lässt die Klarheit der Rollen beider in der Konfrontationssituation kaum Fragen offen. Die Erfahrung einer irreversibel fremd gewordenen oder zerstörten Natur hingegen hinterlässt nichts als Fragen und Unsicherheit. Als auf Dauer gestellte Störung kennt sie keine Gewinner oder Verlierer, Bezwinger oder Eroberte, sondern nur prekäre Naturen. Das heißt nicht, dass extreme und exotische Naturerfahrungen nicht Gegenstand ökologischen Erzählens werden können. Ganz im Gegenteil, die direkte Konfrontation von Extremen erzeugt schon strukturell die Dichotomien, deren narrative Dominanz selbst als Effekt der bzw. Reaktion auf die wachsende Erfahrung der zunehmend instabilen Beziehung von Mensch und Natur gelesen werden kann. Anders gesagt heißt das, die klare Gegenüberstellung, die solche Narrative vorantreibt, ist dem Versuch geschuldet, Kontrolle und Überlegenheit zu demonstrieren, die in bekannten Räumen nicht mehr plausibel ist. Mit Wald und Dorf stehen hier jedoch Schauplätze im Mittelpunkt, die schon im 19. Jahrhundert nur noch mit einigem Aufwand als extreme Orte der Gefahr oder des Anderen des Menschen gezeichnet werden können. Ihre prekäre Natur steht Pate für eine grundsätzliche Unsicherheit mit Blick auf die Zukunft des Menschen, die die Grundlage eines modernen Krisenbewusstseins bildet.
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Fußnoten
1 Z.B. durch die Betonung, dass die Herkunft des Autors und der erzählte Ort identisch oder zumindest sehr ähnlich sind. Vgl. Baur 1978. 2 Paradigmatisch ist in dieser Hinsicht Karl Wagners Rosegger- Studie. Vgl. Wagner 1991. 3 Nicht zuletzt darin, dass sie ähnliche Publikationsbedingungen haben und letztlich ein Interesse am Fremden das Interesse an der eigenen Natur spiegelt (Stockinger 2018). 4 Rolf Peter Sieferle führt z.B. Falladas Gedicht; „Die Verkopplung“ an, um diesen Umstand zu belegen (Vgl. Sieferle 1984). 5 Im Falle Rosegger bezieht sich das vor allem auf den Nachweis oder die Ablehnung der Behauptung, seine Texte haben ihrer Instrumentalisierung für die Blut-und- Boden-Ideologie der Nationalsozialisten zugearbeitet (vgl. Hölzl 1991). 6 In diesem Sinne führt bspw. Worster die fortdauernde Ausbeutung und Zerstörung natürlicher Ressourcen in Nordamerika (vor allem in den Vereinigten Staaten) auf den Glauben zurück, rechtmäßiger Herrscher über das irdische Paradies zu sein (Worster 1994). 7 Zum Beispiel am Geräusch der Lokomotive, die Nathaniel Hawthornes Naturbeobachtungen unterbricht, oder dem Dampfschiff, das in Huckleberry Finns Floßfahrt auf dem Mississippi buchstäblich einbricht (Marx 1964). 8 Zur offenbarenden Funktion der Störung in den Künsten vgl. Koch/Nanz 2014. 9 Das heißt letztlich, dass es kaum nützt, der „anderen Seite” ihr Unwissen vorzuwerfen. Vgl. Hulme 2009. 10 Vgl. hierzu die beiden deutschsprachigen Einführungen Dürbeck/Stobbe 2015 und Bühler 2016 sowie Zapf 2016 und Garrard 2014. 11 Axel Goodbodys Studien zu Pfisters Mühle (Goodbody 1999) und zu ‚Heimat‘ bei Jenny Erpenbeck (Goodbody 2015) gehen bereits in diese Richtung, auch Marcus Twellmann deutet jüngst diese Richtung an (Twellmann 2017). Anschlüsse ökologischer Orientierung und einer gestärkten Aufmerksamkeit für ‚rurale Topographien‘ finden sich auch in einer Reihe von Arbeiten im Umfeld des VW-Forschungsprojekts „Experimentierfeld Dorf“ (Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg), allerdings kommen auch hier der Untersuchungszeitraum des Projekts und seine Perspektive auf Natur-Mensch-Beziehungen nur in Ausnahmefällen zusammen (Nell/Weiland 2014, Marzałek/Nell/Weiland 2017, Weiland/Ehrler 2018). 12 Für die Biologie ergibt sich daraus eine große Schwierigkeit, Üexkülls einflussreiche Texte für aktuelle Wissenschaften fruchtbar zu machen. In diesem Sinne lässt sich der kritische Hinweis der Hrsg. von Uexkülls Umwelt und Innenwelt der Tiere verstehen, die anmerken, Uexküll unterscheide zwar deutlich zwischen Umgebung und Umwelt, „aber die Kriterien seiner Unterscheidung sind diffuse Begriffe und weltanschauliche Konstruktionen, in denen ein ‚Plan‘ auftritt, dem übergeordnete Akteurseigenschaft zugeschrieben wird“ (Mildenberger/Herrmann, in: Uexküll 2014). 13 Zur Kritik an dieser Behauptung vgl. Bergthaller 2018. 14 Üexküll demonstriert das am Beispiel der Zecke, deren Umwelt aus nur wenigen Reizen besteht, während sie gleichzeitig Teil einer weitaus komplexeren Umgebung ist (Uexküll/Kriszat 1956). 15 Ökologisches Bewusstsein ist hier im Sinne von „environmental reflexivity“ zu verstehen (Locher/Fressoz 2012). 16 Harrison zeigt das in seiner Kulturgeschichte des Waldes insbesondere an den Schriften Vicos auf (Harrison 1992). Ein treffendes Beispiel für dieses Verfahren findet sich jüngst in den Baum(art)portraits der Anglistin Fiona Stafford: „All at once, the remote age of the dinosaurs rushes closer. What places the familiar tree [the Holly] in a world before time began?” (Stafford 2017) s.a. Braungart 2007. 17 Prominent und z.T. beinahe karikiert finden sich solche Darstellungen z.B. bei Ludwig Anzengruber, dessen Realismus von Zeitgenossen scharf kritisiert wurde, weil hier selbst der „liebliche Bergbach“ stinken würde (Zeyringer/ Gollner 2012) Vgl. a., allerdings in Bezug auf Raabe, Wanning 2005.