Maximilian Priebe: Edgar Morin – Kosmologe der Komplexität. Porträt eines transdisziplinären Intellektuellen
Abstract: The following article is a portrait of the French sociologist, philosopher, Systems thinkers and public intellectual Edgar Morin. It aims to present the life and works of Edgar Morin to a German-speaking audience. Introductory in nature, it does not claim to offer more than a concise, contemporary, and, where needed, critical summary of Edgar Morin’s main theoretical tenets. It proceeds by offering, first, a brief overview of Morin’s biography and a loose sketch of his position in the landscape of French 20th century philosophy. Based on a close reading of Edgar Morin’s chief theoretical oeuvre, La Méthode, it subsequently reconstructs his thought in four steps, paying attention to a) to the context of Morin’s specific intellectual concerns and his new cosmological »method«, b) to his theory of nature, c) to his theory of society, and d) finally to his ethics. The profile which should emerge from this procedure is one of an intellectual who is grappling with a wide-spanning, holistic thinking; whose working style is transdisciplinary and directed against academic specialisation; and whose philosophical concerns centre around the normative expectations of classical humanism. Edgar Morin is a thinker who invites us to think with him through matters of the contemporary world, and his viewpoints are here discussed and critically evaluated with particular reference to the relevance of his thought for the ecological discourse, and for the current challenges of ›knowledge societies.‹
Keywords: Edgar Morin; Systems Theory; Ecology; Knowledge Society; Cybernetic Hegelianism; Philosophy of Nature; French 20th Century-Thought
Edgar Morin ist seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eine der beständigsten Stimmen in den französischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit einer konsistenten Werkgeschichte, die vom Ende des zweiten Weltkrieges bis in die Zeit der Covidkrise und des Ukrainekrieges reicht, kondensieren sich im Denken dieses vielseitigen Intellektuellen nicht nur mehrere Generationen frankophoner Philosophiediskurse, sondern auch ein beträchtliches Stück europäische Zeitgeschichte. Der französischen, spanisch- und portugiesischsprachigen Öffentlichkeit durch eine Vielzahl medialer Bezüge und Sekundärliteratur bekannt, ist Morins Stellung im deutschen Sprachraum bis heute nur marginal. Dabei nimmt sein Werk eine Schlüsselposition in einer Reihe von Debatten über Ökologie, Mensch-Maschinen-Interaktion, Massenkultur und neuzeitlicher Subjektivität ein, deren Aktualität global unbestritten sind. So fungieren die kybernetisch und systemtheoretisch aktualisierten Positionen von Edgar Morin beispielsweise als Bezugspunkte von so unterschiedlichen Denkern wie Niklas Luhmann, Roland Barthes, oder den zeitgenössischen Theoretiker:innen des Anthropozäns.1 Daneben hat Morin die sozial- und kulturtheoretischen Ansätze zum Verständnis von Massenmedien, Stars, Krisen und einem post-cartesianischen Naturbegriff in Frankreich entscheidend mitgeprägt.2 Im Folgenden soll deshalb das Werk Edgar Morins anhand einiger Hauptaspekte – Methodologie, Naturtheorie, Gesellschaftstheorie und Ethik – vorgestellt und kontextualisiert werden, um nicht zuletzt auch eine Rezeption seiner bereits ins Deutsche übersetzen Werke für ein Fachpublikum anzuregen.
I. Biographischer Überblick
Edgar Morin wurde 1921 in Paris unter dem Namen Edgar Nahoum als Sohn jüdischer Einwanderer aus Thessaloniki geboren. Nach seinem Abschluss am Lycée Rollin studierte er an der Sorbonne Philosophie und Jura (ein Studienfeld, welches damals auch Soziologie und Psychologie umfasste) und war ebenfalls an der École des Sciences Politiques eingeschrieben, womit er einem bereits sehr transdisziplinären Studienprogramm folgte.3 Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris flüchtet die Familie Nahoum nach Südfrankreich, um der Deportation zu entgehen. Edgar änderte seinen Nachnamen, setzte zunächst sein Studium in Toulouse fort und arbeitete kurzzeitig als wissenschaftlicher Assistent für Julien Benda in Carcassonne.4 Im Jahr 1943 brach er sein Studium ab und schloss sich der kommunistischen Widerstandsbewegung an. Das Kriegsende verbrachte er in Deutschland als Offizier der Forces Françaises Libres, wo er von 1945 bis 1947 als Leiter des Propagandabüros der französischen Militärverwaltung in Südwestdeutschland arbeitete. Diese Erfahrung bot schließlich auch die Grundlage für sein erstes Buch, L’an zéro de l’Allemagne.5 Während dieser Zeit machte Edgar Morin zunächst eine politische Karriere in der Kommunistischen Partei Frankreichs, entfremdete sich der Partei gegenüber jedoch aufgrund seiner Desillusionierung über deren Haltung gegenüber dem Stalinismus. 1951 wurde er aus der Partei ausgeschlossen.6 Morin wandte sich zunächst Versuchen in der Poesie und den schönen Künsten zu, fand letztlich aber besseren Anschluss an die sich zu dieser Zeit in Frankreich etablierenden Sozialforschung.7 Ohne jemals eine Doktorarbeit verfasst zu haben, nur mit Lizenzen in Geschichte, Geografie und Recht, wurde er 1950 mit der Unterstützung von Maurice Merleau-Ponty, Pierre George und Vladimir Jankélévitch in die soziologische Sektion des Centre National de la rechérche scientifique (CNRS) aufgenommen.8
Edgar Morins Weg durch das Universitätssystem ist von erstaunlichen Wendungen geprägt. Seine erste strikt akademische Veröffentlichung, noch vor seinem Eintritt in das CNRS, war eine ethnologische und anthropologische Untersuchung zum Problem des Todes, der – nunmehr unterstützt von Georges Friedmann – 1956 und 1957 soziologische Untersuchungen über das Kino und die Welt der Stars folgten.9 In dieser Zeit gründete er mit Roland Barthes, Jean Duvignaud und Colette Audry die Zeitschrift Arguments, die belegt, dass Morin trotz seines Parteiausschlusses das Interesse am Marxismus nicht verloren hatte. Zu dieser Zeit rezipiert er das Werk heterodoxer Marxisten aus dem deutschen Sprachraum, darunter Herbert Marcuse, Georg Lukács und Karl Korsch. In diesen Jahren werden von ihm schließlich auch die Revue française de sociologie und Communications mitgegründet.10 Barthes und Morin inspirieren sich seit den 60er Jahren gegenseitig. So bezieht sich Roland Barthes in seinem letzten Essay La chambre claire noch auf Morins Frühwerk über den Tod.11 Im Anschluss an Morins Hinwendung zur Welt der Zeichen und Erzählungen kommt es zu einer Kontroverse mit Pierre Bourdieu über die Massenkultur.12 Eine erste wirklich transdisziplinäre Studie, die Soziologie und Ethnologie miteinander verbindet, führt Morin 1967 in die Bretagne, wo er sich mit der Beziehung zwischen Modernität, Zeitwahrnehmung und sozialer Entwicklung im ländlichen Raum beschäftigt.13 Ein Jahr später folgt anlässlich der Studentenrevolte die mit Claude Lefort und Cornelius Castoriadis herausgegebene zeitdiagnostische Analyse: Mai 68, La Brèche.14 In dieser Zeit erleidet Morin eine schwere Krankheit und wendet sich verstärkt den Themen Körperlichkeit, Natur und Biologie zu. Forschungstätigkeiten und Reisen führen ihn in die Vereinigten Staaten, was ihn mit der Bürgerrechtsbewegung und der kalifornischen ›Counter-Culture‹ in Kontakt bringt.15 Nach seiner Rückkehr nach Frankreich orientiert er sich noch stärker transdisziplinär. Er schließt sich Forschern an, die an einem Dialog zwischen Wissenschaft und Politik interessiert sind: der ›Gruppe der 10‹, in der sich auch Michel Serres, Henri Atlan und André Leroi-Gourhan befinden.16 Der entscheidende Schritt in der Herausbildung seines Denkens über ›Komplexität‹ – ein Schritt, der ebenfalls 1969 stattfindet – ist jedoch eine Einladung als zeitweiliges Mitglied des Salk Institutes, ein biomedizinisches Labor in Kalifornien, interdisziplinärer Schmelztiegel und Bindeglied zwischen der damaligen französischen und amerikanischen Forschungslandschaft. Das Salk Institute ist der Ort, an dem Bruno Latour einige Jahre später mit der Anwendung soziologischer Forschung auf die Naturwissenschaften experimentieren wird, Ort, an dem Morin den Biologen Jacques Monod, den amerikanischen Lacan-Interpreten Anthony Wilden und nicht zuletzt eine der zentralen Figuren der amerikanischen systemtheoretischen Debatten, den Anthropologen und Kybernetiker Gregory Bateson, den Ehemann der Anthropologin Margaret Mead, kennenlernt.17 Er entdeckt dort ebenfalls die Schriften von Ludwig von Bertalanffy, Norbert Wiener und Claude Shannon; und trifft den Mathematiker Heinz von Foerster.18 Nach seiner Rückkehr nach Frankreich vertieft Morin diese Erforschung des wissenschaftlichen und philosophischen Diskurses; er studiert Physik und die Mathematik der Thermodynamik, trifft Ilya Prigogine, René Thom und Jean-Pierre Dupuy.19 Nach dieser äußerst intensiven Forschungsphase ist nicht nur Morins Position als Forschungsdirektor am CNRS gefestigt, sondern er ist nun auch in der intellektuellen Landschaft verwurzelt, die Frankreich nach der 68er-Revolution prägen wird; ein Zeitgeist, den Morin in einer transdisziplinären Art des Schreibens und Denkens zum Ausdruck bringt.20 Für diesen Neuanfang steht sein Buch Le Paradigme Perdu, der Start einer Schaffensperiode, die mit La Méthode und dem »Komplexen Denken« (pensée complexe) ihren Höhepunkt findet.21
II. Eine enzyklopädische Methode
Über sich selbst sagt Morin, »die Hauptbesessenheit [obession principale] seines Werkes beträfe die conditio humana.«22 Dies ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Betrachtet man La Méthode, so fallen zunächst allerlei naturwissenschaftlich-technische Termini auf, wohingegen ein klassisch humanistisches Vokabular, das eine solche Selbstbeschreibungen vermuten ließe, eigentlich abwesend ist. Bei genauerem Hinsehen lässt sich jedoch feststellen, dass Morins Wechsel von den Geistes- zu den Naturwissenschaften Anfang der 1970er Jahre in der Tat von einem tiefgreifenden Interesse am Menschen geprägt war. So beklagt Morin in Le Paradigme Perdu die Armut einer Beschreibung des Menschen, die nur auf seine soziale Einbettung schaut und nicht auch auf seine bio-physische Konstitution. In seinem Essay Pour une Crisologie (›Für eine Wissenschaft der Krise‹) versucht Morin schließlich zum ersten Mal, ein kybernetisches Vokabular auf eine Erklärung des klassischen Topos des Humanisten, auf die ›Krise des zeitgenössischen Bewusstseins‹, anzuwenden. Dieser Versuch führt Morin zu einer Charakterisierung moderner Gesellschaften anhand einer systemtheoretischen Rhetorik, wie man sie in Deutschland am ehesten von Niklas Luhmann kennen würden: »Moderne soziale Systeme sind als solche schwach integriert […] und die Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen, Klassen, Parteien, Ethnien schwanken auf unterschiedliche Weise zwischen komplementären und antagonistischen Aktivitäten.«23
Tatsächlich bietet dieser kleine Text, der genau ein Jahr vor Publikation des ersten Bandes von La Méthode erschien, bereits eine Verdichtung der meisten Themen, die Morin in den folgenden Büchern behandelt, und in denen sozial- und naturwissenschaftliche Fragen in Beziehung zueinander gesetzt werden. In seiner Einleitung zum Hauptwerk im Jahr 1977 findet diese Ausrichtung schließlich ihre programmatische Artikulation. Hier betont Morin unter Rückgriff auf die Unmöglichkeit, in der Quantenmechanik den Beobachter vom beobachteten System zu trennen, dass die Naturwissenschaften auf der einen Seite nicht vergessen dürfen, wie jede ›objektive‹ Erkenntnis der Natur auf der subjektiven Situierung des Forschers in einem Kontext beruht, wiederum die Geisteswissenschaften ihrerseits aber auch nicht vergessen dürften, dass ihre Forschungsgegenstände mit biologischen und physikalischen Tatsachen zu tun haben.24 Morin kommt zu dem Schluss, dass es an der Zeit ist, die Haltung eines neuen »enzyklopädischen Geistes« einzunehmen, die die bloße Anhäufung und Aufzählung von Wissensobjekten zugunsten eines »verflochtenen« Denkens aufgibt, das in der Lage ist, Wissenseinheiten aus verschiedenen Bereichen miteinander in Beziehung zu bringen, sie in Bewegung zu versetzen und in zirkuläre Argumentationsstrukturen zu verwandeln: »Es geht darum, zu enzyklopädieren, das heißt zu lernen, die disjunkten Gesichtspunkte des Wissens in einem aktiven Kreislauf zu artikulieren.«25 Was sich dann für Morin aus diesem enzyklopädischen Projekt ergibt, sind zunächst einige Leitfragen:
[...] Ich habe natürlich nicht versucht, die Anthropologie auf die Biologie zu reduzieren, noch wollte ich eine ›Synthese‹ des Wissens up to date erstellen. Ich wollte zeigen, dass die empirische Naht [soudure empirique], die seit 1960 über die Ethologie der höheren Primaten und die hominine Vorgeschichte zwischen Tier und Mensch, Natur und Kultur gezogen werden konnte, es erforderlich macht, den Menschen als ein dreifaches Konzept aus Individuum, Spezies und Gesellschaft zu begreifen, bei dem kein Begriff auf einen anderen reduziert oder einem anderen untergeordnet werden kann. Dies erforderte in meinen Augen ein komplexes Erklärungsprinzip und eine Theorie der Selbstorganisation [auto-organisation]. Eine solche Perspektive wirft neue, noch grundlegendere und radikalere Probleme auf, denen man sich nicht entziehen kann:
- Was bedeutet das radikale Auto der Selbstorganisation [auto-organisation]?
- Was ist Organisation?
- Was ist Komplexität?26
Es sind diese Leitfragen, denen Morin in den sechs Bänden seines Hauptwerks folgt. Die Behandlung reicht von der Kosmologie, der Metaphysik der Natur und der Integration lebender Phänomene in das physikalische Universum über das Phänomen des Lebens und den Ursprung des menschlichen Geistes im Gehirn bis hin zur »noologischen« Struktur des Wissens des Menschen über die Welt. Erst in den letzten beiden Bänden, La Société de la Société und L’Éthique: L’Humanité de L’Humanité – welche sich im Vergleich zu der etwas mehr als tausendseitigen Behandlung der Natur- und Lebensphänomene als recht kurz erweisen! – befasst sich Morin mit der Struktur der Gesellschaft und den sozialen Phänomenen. Dieses enzyklopädische Projekt von La Méthode liest sich daher eher wie der Versuch, eine Kosmologie zu entwickeln, wie Morin auch freimütig beteuert: »Die Frage der Kosmogenese ist […] die Schlüsselfrage der Genese der Methode.«27 Wer Morin durch sein Werk folgen will, muss sich also bemühen, sich mit der komplexen Beziehung zwischen der Erklärung der Natur und der ihr zugrunde liegenden Gesellschaftstheorie auseinanderzusetzen. Dies soll im Folgenden getan werden.
In dieser Hinsicht kann Morins ›humanistische‹ Selbstbeschreibung als Leitfaden dienen, denn bei seinem Streifzug durch die Grundstrukturen des Kosmos ist seine Aufmerksamkeit stets auf die Auswirkungen gerichtet, die die ›Natur der Dinge‹ auf unser eigenes Selbstverständnis hat – oder haben sollte. Darüber hinaus macht Morin nie einen Hehl daraus, dass er nicht als Physiker, sondern als ein Geisteswissenschaftler spricht, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, zerstreutes Wissen neu zusammenzufassen; und der seine ›Methode‹ nicht als formale Methodologie, sondern vielmehr als »eine forschende Anleitung für den Weg des Denkens«28 versteht. Es handelt es sich also, trotz der Priorität, die einem ganzheitlichen Ansatz des Kosmos eingeräumt wird, grundsätzlich um einen humanistischen Ansatz, und zwar, wie wir später noch besonders sehen werden, nicht nur in Bezug auf die Methode, sondern auch in Bezug auf den theoretischen Inhalt.
III. Eine Erklärung der Natur
Was ist also laut Morin die Natur der Dinge, was steht am ›Ursprung‹ des Kosmos? In seiner Antwort stellt Morin die klassische westliche Metaphysik auf den Kopf, die selbst in ihrer modernen, von der aristotelischen Ontologie der Substanz befreiten Variante noch vom Primat einer Entwicklungslinie ausgeht, die von einem ›einfachen Grundelement‹ zum ›komplexen Ganzen‹ führt. Denken wir dabei an die Geschichtsphilosophie der Aufklärung, in der ›komplexe‹, arbeitsteilige Gesellschaften in verschiedenen Stadien aus primitiven Gesellschaften hervorgehen; an Darwins Evolutionsbiologie, in der komplexe Biosysteme aus ›einfachen‹ Einzellern entstehen, oder an die moderne Physik, in der sich aus ›einfachen‹ Atomen komplexe Moleküle und noch komplexere Aggregate bilden. Genau gegen diese intuitive Annahme setzt Morin den Dreh- und Angelpunkt seiner Theorie: nämlich die Idee, dass »der Kosmos sich organisiert, indem er zerfällt.«29 Für Morin ist diese Vorstellung einer zerfallenden Grundenergie eingebettet in eine Kosmogonie, die alle Mikrostrukturen durch eine grundlegende Komplexität begründet, ja sogar in die Idee, dass das Phänomen der Komplexität niemals als Endpunkt eines Entwicklungsprozesses, sondern als Beginn jeder Einheit gedacht werden muss: »Das Atom ist komplexer als das Molekül.«30 Das, was grundlegend ist, ist komplexer als das, was sich daraus aufbaut. Komplexität ist kein Aggregatskonzept, sondern ein Grundkonzept. Morin nennt diese Grundannahme die Idee eines »Chaosmos«,31 und es ist diese Annahme, die in den verschiedenen Zusammenhängen und in vielen von Morin angeführten Beispielen immer wieder auftaucht.
In diesem Sinne kann man Morin durchaus als Chaostheoretiker beschreiben. Für ihn entspringen alle stabilen Strukturen, wie die symmetrischen Fraktale, die sich spontan bilden, aus Kraftzentren der Unordnung und Turbulenz. Und Morin bezieht sich in der Tat auf die Physiker, die die Chaostheorie später mathematisch präzisieren. Ihm geht es jedoch nicht darum, die Unberechenbarkeit des Chaos formalisierbar zu machen, sondern vielmehr darum, die Idee eines chaotischen, ungeordneten und damit paradoxerweise ordnenden »Strudels«32 als kosmisches Grundprinzip zu etablieren. Dabei veranschaulicht Morin den Ursprung von Ordnungsstrukturen in einer chaotische Kosmogenese auch durch explizit religiöse Vorstellungswelten:
Die archaische Idee des Schöpfergottes Elohim wird in keiner Weise in der Idee von Adonai, dem Gott-Herrn, oder von JHVH, dem Gott-Gesetzgeber, ausgedrückt. Der Singular Plural von Elohim beschreibt eine unitas multiplex von Genien, die in ihrer Gesamtheit eine Antriebskraft [un Générateur] bilden. Man kann sich diese Genien materialistisch als treibende Energie vorstellen [...]. So vereint die Idee von Elohim die Idee des genetischen Wirbels, die Idee der schöpferischen Kraft und die Idee des organisatorischen Prozesses und übersetzt sie in sich selbst, ohne sie zu unterscheiden. Wie sich der vor-sonnenartige Wirbel nach vollendeter Genese in eine organisatorische Ordnung verwandelt, aus der die scheinbar universellen Gesetze der Natur hervorgehen, so macht Elohim – der thermodynamische Wirbel – […] Platz für den Gott und Urheber des Gesetzes JHVH. JHVH ist kein Sonnengott, sondern ein kybernetischer Gott. JHVH schreibt das Gesetz ein, d.h. er setzt ein Informationsdispositiv zur Steuerung und Kontrolle der anthropo-sozialen Maschine ein. Er wird zum Programmgott. Das I-Ging oder Buch der Wandlungen der archaischen chinesischen Magier bringt das beispielhafteste Bild dieser Identität des Genetischen und des Generischen; Ying-Yang.33
Diese Passage ist trotz ihrer opaken Bildsprache aufschlussreich, da sich hier bereits alle Grundlagen abzeichnen, auf denen Morin seine Kosmologie aufbaut: zum einen die Idee von antagonistischen Kräften, die einander entgegenwirken und durch ihre Interaktion eine paradoxe Stabilität schaffen, und zum anderen die Auffassung, dass die Ausbreitung komplexer Strukturen auf eine Quelle zurückzuführen ist, die selbst viel komplexer ist als die von ihr ausgehenden Strukturen. Im ordnenden Zerfall einer ursprünglichen »kosmischen Katastrophe«34 breitet sich Komplexität durch das Universum aus und führt dazu, dass auf der Grundlage einer tiefsten souveränen Unruhequelle verschiedene Ebenen des Realen entstehen können, die eine höhere strukturelle Ordnung, aber eine geringere Grundkomplexität aufweisen. Komplexität, Chaos und Entropie fungieren also auf einer metaphysischen Ebene als verschlungene kosmische Grundkraft, auf deren Basis weniger komplexe, weniger chaotische, enthalpische (neg-entropische) Ordnungen entstehen können, die wiederum höhere Ebenen der Realität hervorbringen.35
Morins Gesellschaftstheorie ist eine Ableitung dieser Kosmologie. Um diese zu erreichen, rekonstruiert Morin zunächst die Entstehung selbststabilisierender Strukturen in der anorganischen und organischen Welt, führt die Konzepte des stabilen Zustands (steady state) und der Homöostase ein, und beschreibt, wie sich offene Strukturen in einem fließenden Gleichgewicht mit ihrer Umwelt stabilisieren und wie die Generativität physikalischer Strukturen das Konzept eines ›geschlossenen Kreislaufs‹ voraussetzt, der durch Zirkulationsprozesse Energie aus der Umwelt aufnehmen, speichern und schließlich wieder in das Objekt oder den Organismus einspeisen kann, so dass dieser sich selbst regeneriert. In einer provokanten Neuinterpretation von Norbert Wieners Kybernetik, die mit dem Konzept der unbelebten Maschine die Idee eines teleologischen Zwecks wieder in die Beschreibung natürlicher Prozesse eingeführt hatte, bezeichnet Morin dieses Konzept eines geschlossenen Kreises, der sich selbst zersetzt und dadurch regeneriert, als »Maschine«.36 Ebenso zentral ist für ihn der Abschluss dieser metaphysischen Rekonstruktion durch die Neudefinition und Wiedereinführung von Claude Shannons Informationsbegriff, den Morin – ganz im Sinne seiner Grundannahme einer Urkomplexität – bereits in der Grundstruktur des Lebens als Effekt eines Zufallswirbels ausmacht und zum spezifischen Merkmal aller Lebewesen erhebt: »Es gibt, […] keine extra-biologische Information. Information ist immer mit negentropisch organisierten Wesen verbunden […] und mit metabiotischen Wesen, die sich von Leben ernähren.«37 Auf der Grundlage einer informationsbasierten Selbststrukturierung können sich schließlich zerebrale Ordnungen bilden, die es dem Menschen, wie auch anderen Lebewesen, ermöglichen, Fähigkeiten zur Anpassung an die Umwelt zu erwerben, die zur Bildung der ersten genuin intersubjektiven Prozesse führen und auf diese Weise jede Untersuchung von ›Wissen‹ mit dem Phänomen ›Leben‹ verknüpfen:
Die Selbstpoiesis und das Subjekt hängen von der kognitiven Dimension der Rechenfähigkeit [computation] ab, die wiederum von der Selbstpoiesis [l’auto-poièse] des Subjekts abhängt. [...]. Sein, Tun, Erkennen sind im Bereich des Lebens ursprünglich undifferenziert, und selbst wenn sie differenziert werden, bleiben sie untrennbar. [...] Leben organisiert sich anhand von Erkenntnis [connaissance] selbst. Leben ist nur durch Erkennen lebensfähig und lebenswert. Geboren werden heißt erkennen.38
Morin zufolge ist der grundlegende Wandel in der Natur zur Erklärung des Sozialen jedoch nicht so sehr die Entwicklung und Selbstorganisation von zerebralen Lebewesen, sondern die Entwicklung der Sprache, die Morin unter Rückgriff auf seinen eigenen Begriff der ›Maschine‹ ebenso wie unter Bezugnahme auf Saussures strukturelle Semiotik und Chomskys Linguistik als »Doppelgelenkmaschine« [machine à double-articulation] definiert:
In der primatischen Evolution vollziehen sich mit dem Homo sapiens zwei Schlüsselmutationen einer eigentlich maschinellen Entwicklung [...]. Die erste ist charakteristisch für archaische Gesellschaften. Die Kultur taucht auf. Als generativer Speicher, der die Regeln der sozialen Organisation bewahrt, ist sie die reproduktive Quelle von Wissen, Know-how und Verhaltensprogrammen; d.h. die begriffliche Sprache ermöglicht eine prinzipiell unbegrenzte Kommunikation zwischen Individuen, die Mitglieder derselben Gesellschaft sind. Nun ist diese Sprache – und das ist unbemerkt geblieben, weil sie unsichtbar und scheinbar immateriell ist – eine echte Maschine, die natürlich nur funktioniert, wenn es einen Sprecher gibt. [...] Tatsächlich produziert die Sprachmaschine Worte, Äußerungen, Sinn, die ihrerseits in die anthropo-soziale Praxis eingreifen und dort Handlungen und Leistungen hervorrufen. Diese Sprachmaschine verbindet zwei schöpferische Eigenschaften: die nahezu unbegrenzte Schaffung (poiesis) von Äußerungen und die nahezu unbegrenzte Übertragung/Reproduktion von Botschaften. Sie ist sowohl eine repetitive als auch eine poietische Maschine. Daher kann man sagen, die große Revolution der Hominisation sei nicht nur die Kultur, sondern auch die Bildung dieser Maschine-Sprache, welche sich durch ihre hochkomplexe Organisation (einer doppelt phonetisch/semantischen Artikulation) vollständig mit der anthropo-sozialen Maschine und all ihren Kommunikations- und Organisationsprozessen verzahnt, [...] und für deren weiteren Entwicklungen notwendig wird.39
So gelangt Morin mittels einer kosmologischen Erklärung zu einer Theorie, mit der er soziale und kulturelle Phänomene erklärend in den größeren Kontext des Universums einbetten kann. Es ist daher nicht überraschend, dass Morins Gesellschaftstheorie eine Theorie der Emergenz ist. Es sei aber daran erinnert, dass Morins Ansatz geradezu konträr zu den meisten aus der Philosophie bekannten Emergenztheorien angelegt ist: es sind bei ihm eben nicht komplexere Eigenschaften, die aus einfacheren Strukturen hervorgehen, sondern vielmehr einfachere Strukturen, die aus komplexeren Strukturen hervorgehen.40 In diesem Sinne kann das Individuum komplexer sein als die Gesellschaft. Und dennoch gibt es eine stufenweise Entwicklung, die von ›unten‹ nach ›oben‹ verläuft. Dieses Aufsteigen wird immer durch die basale Komplexität der zugrundeliegenden Ebene ermöglicht: von einem Individuum zu einer Familie, von der Familie zu einem Dorf, und so weiter. Man kann sagen, dass Morin eine Art umgekehrte Dialektik betreibt, in dem Sinne, dass er die Entwicklung von Synthesen aus Gegensätzen nachzeichnet. Und dies passt gut zu der biographischen Notiz, nach der Morins philosophische Neugier aus seiner Lektüre der Werke Hegels entstand, dessen Grundansätze sich überall in Morins Werk wiederfinden:
[...] jeder Mensch trägt, wie der singuläre Punkt eines Hologramms, den Kosmos in sich. Man könnte auch sagen, dass jedes Individuum, selbst jenes, welches am meisten auf schier banales, organisches Leben reduziert wird, in sich selbst einen Kosmos bildet. [...]. Individuelle Einheit erzeugt eine Dualität und knüpft eine Vielheit. Das Eine trägt in sich tatsächlich Andersartigkeit, [...], Negativität, Antagonismen. Wie Hegel sagte, ist Identität die Vereinigung von Identität und Nichtidentität.41
IV. Eine Theorie der Gesellschaft
Diese Ansicht ist ein guter Ausgangspunkt, um Morin’s Gesellschaftstheorie näher zu skizzieren. Sie ermöglicht es Morin, die Besonderheiten eines sozialen Phänomens als ein ›für sich‹ (pour soi) zu behalten, auch wenn dieses Phänomen nur das Produkt eines grundlegenderen Prozesses ist. So führt Morin niemals die Existenz von Überstrukturen wie dem Staat oder der Spezies als Grund an, um den Handlungsspielraum von Entitäten auf niedrigeren Ebenen zu verneinen – wie es deterministische Sozialtheorien oft tun. In diesem Sinne bewahrt Morins Soziologie sorgfältig eine Theorie des Subjekts. Seine Emergenztheorie besteht nämlich gerade darin, dass er die Konzeption der Gesellschaft aus der Konzeption des Individuums entwickelt:
Was Gesellschaften von Organismen unterscheidet, ist nicht die Arbeitsteilung, die Spezialisierung, die Hierarchie oder die Informationsvermittlung, die es bei den einen wie bei den anderen gibt, sondern die Komplexität der Individuen. Eine Gesellschaft braucht hochentwickelte Individuen.42
Obwohl für Morin also das Individuum als methodologische Einheit auf der Mesoebene zwischen Makrostrukturen wie der Gesellschaft und Mikrostrukturen wie der Biologie seines Gehirns angesiedelt ist und potenziell unter erstere subsumiert oder auf letztere reduziert werden kann, bedeutet dies nicht, dass das Individuum als vollständig von einer dieser Ebenen bestimmt angesehen werden sollte: »Subjekt-Sein heißt, sich nicht nur zum Zwecke der Erkenntnis, sondern auch zum Zwecke der Handlung in das Zentrum der je eigenen Welt zu stellen.«43 Morin schreibt dem Individuum hier eine Sphäre der Freiheit (»Autonomie-Abhängigkeit«44) zu, die durch die biologisch-untergeordnete und die sozial-übergeordnete Ebene sowohl ermöglicht als auch eingeschränkt wird. Das Individuum wird als Träger unabhängiger Handlungen betrachtet, es bildet autonome soziale Beziehungen, es ist die Grundlage für die Reproduktion der Art, indem es Familienverbände und spontane soziale Strukturen auf der Mesoebene schafft, und es kann nun seinerseits auf die Gesellschaft zurückwirken, die ihrerseits nur durch die Vielzahl individueller Handlungen in ihrer Komplexität ermöglicht wird:
Innerhalb jeder Gesellschaft ist jedes Individuum sowohl ein egozentrisches Subjekt als auch ein Moment/Element eines soziozentrischen Ganzen. [...]. Das Individuum ist in der Gesellschaft, die in dem Individuum ist. [...]. Individuen produzieren die Gesellschaft, die die Individuen produziert; die geistige Entstehung von Individuen bedingt die Organisation der Gesellschaft; während die Emergenz eines jeden individuellen Geistes wiederum von eben jener sozialen Organisation abhängig ist.45
Diese Theorie des Subjekts impliziert ontologische, aber ebenso epistemologische und normative Annahmen. Schauen wir zunächst in Morins Sozialontologie. Wir haben gesehen, dass für Morin alles, was sozial existiert, entweder auf zugrunde liegende ontologische Strukturen (Emotionen, Gehirn, Körper) zurückgeführt oder in höheren ontologischen Strukturen (Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft, Spezies) aufgelöst werden kann, seine Autonomie und Existenz aber gerade aufgrund seiner ontologischen »Einbettung« [encastrement] in angrenzende Strukturen behält. Wie wir bereits in Bezug auf die Rolle, die die Sprache für Morins Evolutionstheorie spielt, angedeutet haben, ist diese Unabhängigkeit-von-der-Abhängigkeit [indépendence-co-dépendence] im Fall der Kultur, die von Morin als die ontologisch tiefste Quelle jeder Entwicklung des Individuums identifiziert wird, besonders deutlich zu erkennen:
Kultur ist die wichtigste Emergenz, die der menschlichen Gesellschaft eigen ist. Jede Kultur konzentriert in sich ein doppeltes Kapital: einerseits ein kognitives und technisches Kapital (Praktiken, Wissen, Know-how, Regeln); andererseits ein mythologisches und rituelles Kapital (Überzeugungen, Normen, [...]). Es ist ein Gedächtnis- und Organisationskapital, wie es das genetische Erbe für das Individuum ist. Die Kultur verfügt wie das genetische Erbe über eine eigene Sprache [...], die das Erinnern, die Kommunikation und die Weitergabe dieses Kapitals von Individuum zu Individuum und von Generation zu Generation ermöglicht. [...]. Die Kultur gibt Form und Norm vor. Von Geburt an beginnt der Einzelne, das kulturelle Erbe zu integrieren, das seine Bildung, seine Orientierung und seine Entwicklung als soziales Wesen sicherstellt. [...]. So unterwirft und ermächtigt die Kultur das Individuum zugleich. Kultur ist in ihrem Prinzip die generative/regenerative Quelle der Komplexität menschlicher Gesellschaften. Sie integriert die Individuen in die gesellschaftliche Komplexität und bedingt die Entwicklung ihrer jeweiligen individuellen Komplexität.46
Dieser Fokus auf die Generierung und Re-Generierung sozialer Beziehungen durch die Kraft der Kultur offenbart, dass Morins Sozialontologie, wie auch seine Kosmologie im Allgemeinen, radikal relational ist: alles, was existiert, existiert nur auf der Grundlage seiner Beziehungen zu anderen Entitäten, die sich ihrerseits durch ihre Beziehungen definieren.47 Aber woher kommen diese Relationen, und woher kommen die Entitäten selbst, die miteinander verbunden werden können? Morins Kosmologie hat uns bereits gezeigt, dass er sich jeder Metaphysik widersetzt, die ahistorische Substanzen postuliert, und dass er sich ontologischen Fragen eher durch Prinzipien der Ontogenese als durch Prinzipien der Hypostase nähert, also eher durch das Bild des ewigen Strudels als durch das eines ewigen Seins. So lokalisiert Morin sowohl den Ursprung der Beziehung als auch den Ursprung der verbundenen Entität in der Kategorie des »Ereignisses«:
[…] die Identität der Spezies reinkarniert sich durch die unterschiedlichen oder sogar divergierenden Geschichten der Individuen. Weder die Spezies verleiht dem Individuum Existenz, noch das Individuum der Spezies: Sie verleihen sich gegenseitig Existenz durch Neubeginn, Wiederholung, Reproduktion. [...]. Wir befinden uns in einer Art analogem oder mimetischem Wieder-Spiel [re-jeu] dessen, was bereits gespielt wurde. [...]. Der ontogenetische Prozess kann als Wiederholung des bereits Erlebten aufgefasst werden, als Reproduktion eines Organismus nach dem Vorbild des erzeugenden Organismus, der seinerseits ein Abbild war, etc. [...]. Unser mentales Erinnern und das generative Wiedererinnern sind beide Produzenten eines Doppels [d’un double], aber im ersten Fall ist dieses Doppelte imaginär, im zweiten Fall ist es wiederum ein Akt, ein Produkt, ein reales Wesen. Im einen wie im anderen Fall ist das Eingeschriebene nicht eine ›Tatsache‹, sondern vielmehr ist dessen Repräsentation – sein Bild, sein Modell – ein Zeichen, eine ›Stenografie‹, eine Markierung, die an das Ereignis erinnert. Unser Gehirngedächtnis speichert keine Wahrnehmungen, sondern engrammiert Zeichen, die mit anderen Gedächtniseinträgen in Verbindung stehen und an andere Ereignisse erinnern. [...] Diese Erinnerung ist eine imaginäre Wiederauferstehung […] des erinnerten Ereignisses [...].48
Nicht nur die individuelle Identität, sondern Morins gesamte soziale Ontologie besteht somit aus den Grundkategorien ›Ereignis‹ und ›Beziehung‹. Aus diesen Entitäten, die durch Wirbel-Regeneratoren [tourbillons-régénérateurs] (oder »Auto-Öko-Reorganisatoren«49, wie Morin sie auch nennt) selbstreproduzierend sind, ergibt sich das Netzwerk sozialer Strukturen, die sich gegenseitig ihre Existenz verdanken und die in verschiedene Analysekategorien (Mikro-, Meso-, Makroebene) eingeordnet werden können. So ist Morins Emergenztheorie der Gesellschaft auch eine Rückkopplungstheorie: soziale Einheiten gehen aus den ihnen zugrunde liegenden Strukturen hervor und bilden ihrerseits die Basis, auf der andere, höhere Strukturen entstehen können; sie sind aber auch untereinander verbunden. Ein Ereignis auf einer Ebene wird daher zwangsläufig Auswirkungen auf Ereignisse auf darunter oder darüber liegenden Ebenen haben. Morin, der sehr wohl gesehen hat, dass der logische Kern einer ›reinen‹ Emergenztheorie nicht ohne die Hilfe anderer Prämissen die ontologische Autonomie oder Stabilität eines isolierten Dings erklären kann, hat daher sein Konzept des Emergenzphänomens von Anfang an auf diese nuancierte Weise definiert: nämlich nicht als ein einfaches Epiphänomen, sondern als einen rückwirkenden Effekt, der in eine rekursive Schleife [boucle] mit der Struktur eingebunden ist, die ihn hervorgebracht hat. Es zeigt sich also, dass, obwohl die Kategorie der rückwirkenden Emergenz analytisch in zwei Elemente zerlegt werden kann, es für Morin sinnvoll ist, Emergenz und Rückwirkung in diesem Bild der Rekursivität zu synthetisieren. Dies verstärkt auch Morins grundlegende Tendenz, seine Ontologie als ein »Netzwerk«50 von Ereignissen in zirkulierenden Schleifen zu begreifen, in dem das Ganze grundsätzlich im Teil enthalten ist und alle Teile zusammen das Ganze bilden. Es ist ganz im Sinne Blaise Pascals, der Morin, neben Hegel, wie kein anderer Denker geprägt hat:
Da also alle Dinge verursacht und verursachend, erhalten und erhaltend, vermittelt und vermittelnd sind und alle durch ein natürliches und unmerkliches Band miteinander in Verbindung stehen, welches die entferntesten und verschiedensten verbindet, halte ich es für unmöglich, die Teile zu kennen, ohne das Ganze zu kennen, ebenso wie das Ganze zu kennen, ohne die Teile zu kennen.51
Schließlich ist es also diese Verbindung der Teile in einem Ganzen und des Ganzen in einem Teil (welche Morin »hologrammatisches Prinzip« nennt) noch mehr als die ›reine‹ Emergenz, die der autonomen Existenz jeder sozialen Einheit zugrunde liegt: denn die Emergenz des Individuums aus der Biologie und die Emergenz der Gesellschaften aus der Masse der Individuen erklären allein nicht, warum biologische, subjektive und soziale Einheiten als autonome Akteure betrachtet werden müssen. Erst die wechselseitigen Auswirkungen und Rückkopplungen der Ebenen in einer Schleife stabilisieren sie in ihrer Autonomie und ermöglichen »die Rückkopplung der auf der höheren Ebene erworbenen Emergenzen auf die niedrigeren Ebenen«52 und umgekehrt:
So produziert sich die Gesellschaft selbst aus der biologischen Reproduktion, die sich wiederum selbst nach soziologischer Norm reproduziert. Hier wird die Komplexität der gesellschaftlichen Selbstorganisation verständlich: Sie hat sich durch ihre Beziehung zu den beiden anderen Selbstorganisationen der menschlichen Trinität [Individuum & Spezies] selbst hervorgebracht und regeneriert. Die drei trinitarischen Instanzen – Individuum, Spezies, Gesellschaft – sind untrennbar miteinander verzahnt wie drei voneinander abhängige Räder einer trinitarischen Polyorganisation, und sie generieren sich gegenseitig. Das soziale Band ist nicht das Produkt eines mythischen Vertrags oder eines rein physischen Zwangs. Es ist das Produkt der trinitarischen Schleife.53
Allerdings kann die Zirkulation der Auswirkungen von Ereignissen durch verschiedene Sphären des biologischen und sozialen Seins dessen Existenz auch genauso destabilisieren, wie es sie prinzipiell ontologisch stabilisiert. Wenn zum Beispiel das Ereignis einer politischen Entscheidung, sagen wir, einen Krieg oder eine Wirtschaftskrise hervorbringt, kann diese emergierte soziale Sphäre, die die Politik ist und die normalerweise durch ihre ontologische Autonomie andere Sphären intra-stabilisiert, andere Sphären auch gefährden: und zwar im Falle des Krieges oder einer Umweltkatastrophe bis zum Äußersten: bis zur biologischen Grundstruktur. Der Einfluss der Kybernetik auf Morins Denken zeigt sich sehr deutlich in diesem ständigen Beharren auf feedback loops.54 Fast könnte man Edgar Morins »komplexes Denken« auch als ›hegelianische Kybernetik‹ oder als ›kybernetischen Hegelianismus‹ bezeichnen.55
Wir haben bereits erwähnt, dass Morins Theorie des Subjekts nicht nur seine grundlegenden ontologischen Annahmen offenlegt, sondern auch epistemologische und normative Konsequenzen hat. Denn indem Morin die subjektive Freiheit in eine Sphäre zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Maßstäben einordnet, vermeidet er einerseits die notorische Debatte zwischen einem methodologischen Holismus und einem methodologischen Individualismus und eröffnet andererseits die Möglichkeit einer soziologisch begründeten Individualethik. Fokussieren wir uns zunächst auf die methodologische Ebene, um dann auf ihre normativen Konsequenzen eingehen zu können.
Die Überwindung eines Schismas zwischen Holismus und Individualismus ergibt sich bereits aus Morins Dialektik selbst, da ein solcher Ansatz natürlich in der Lage ist, diese beiden Positionen einfach in eine noch umfassendere Darstellung zu integrieren. So verweist Morin einerseits gegen einen einseitigen Holismus auf konkrete historische Ereignisse, bei denen die spezifischen Entscheidungen der Individuen, ihre Emotionen oder ihr Charakter einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der historischen Prozesse hatten. Eines von Morins Lieblingsbeispielen in diesem Zusammenhang ist die dreifache Kombination aus Wetterfaktoren, Informationen der Geheimdienste und konkreten Entscheidungen einer kleinen Anzahl von Militärs und Politikern, die es Stalin im Winter 1941/42 ermöglichte, die von Hitler gestartete Offensive nicht nur zu stoppen, sondern die Wehrmacht in den folgenden Jahren sogar vernichtend zu schlagen.56
Gegen einen einfachen Individualismus auf der anderen Seite betont Morin die Vielzahl struktureller Gegebenheiten, die das menschliche Verhalten bedingen und vorstrukturieren und die es aus einer soziologischen Perspektive oft irrelevant machen, ob eine bestimmte soziale Handlung vom Individuum x oder vom Individuum y ausgeführt wurde. Hier bezieht sich Morin nicht nur aktiv auf Marx’ Konzept des »generischen Menschen«, sondern auch auf die Tatsache, dass viele soziale Prozesse und sogar individuelle Leidenschaften und Irrationalitäten durch biologische Prädispositionen erklärt werden können und einfach als Aggregat für die soziologische Erklärung ohne Kenntnis bestimmter individueller Details vorausgesetzt werden können:
Der Begriff ›generisch‹ geht hier über den Begriff ›genetisch‹ hinaus und schließt ihn ein. Er bezieht sich auf die generative und regenerative Quelle des Menschen, diesseits und jenseits von Spezialisierungen, Abgrenzungen und Unterteilungen. Das gleiche Erbgut der Art ist allen Menschen gemeinsam und gewährleistet alle […] Merkmale der Einheit [...].57
Dies ermöglicht es laut Morin, Gesellschaften, Gemeinschaften, Gruppen, soziale Interaktionen und Prozesse als Aggregate zu betrachten und zu untersuchen, ohne diese Aggregate jedes Mal in ihre einzelnen Teile zerlegen zu müssen.58 Im Vergleich zu konkreten, in Raum und Zeit begrenzten Fallstudien wird somit auch umfassenden soziologischen Verallgemeinerungen eine gewisse Allgemeingültigkeit zugesprochen:
Das Leben und [...] die Gesellschaft sind ungeheure Konstruktionen von Ereignissen, sie sind [...] Paläste, die aus Strudeln von Ereignissen gemacht sind. Aus all dem entstehen die Ordnung des Lebens und [...] die biologischen Gesetze. Und tatsächlich kann man von [...] demografischen, ökologischen [und] [...] behavioralen Gesetzen sprechen. Die menschlichen Gesellschaften wiederum, die ebenfalls von der Textur her ereignisorientiert sind, gehorchen nicht nur soziologischen Gesetzen, sondern bringen erneut Gesetze hervor, denen sie gehrochen müssen. So sehen wir, wie sich etwas Bemerkenswertes herauskristallisiert: Generative Information erzeugt ›nur‹ Ereignis, aber verwandelt es in Ordnung und Organisation, ohne dass es aufhört, Ereignis zu sein.59
Individuen und konkrete Zufälle können demnach die spezifische Form, die die soziale Ordnung annimmt, maßgeblich beeinflussen und müssen eingehend untersucht werden, wenn diese spezifische Form aus Forschungssicht relevant ist. Indem Morin nun die Behauptung sowohl individualistischer als auch holistischer Ansätze, sie könnten das Ganze des Sozialen allein erklären, zurückweist und stattdessen beide Ansätze miteinander koppelt, verortet er sich aber als Denker, der die sozialen Gesetze als historisch kontingent und gleichzeitig als gültig anerkennt:
Obwohl die Geschichte ihre Determinationen und ihre Logik hat, ist sie auch irrational, weil sie Lärm und Wut, Unordnung und Zerstörung mit sich bringt. Wir müssen Marx und Shakespeare zusammenbringen. In der Tat haben die griechischen Tragiker, die Elisabethaner und insbesondere Shakespeare gezeigt, dass die Tragödien der Macht nichts anderes als Tragödien der menschlichen Leidenschaft, der Unbewusstheit und der Maßlosigkeit sind.60
Dies ist ein ehrgeiziges epistemologisches Programm. Auf der einen Seite wird hier der Anspruch von Prognosefähigkeit hinter den Anspruch einer ›erklärenden Beschreibung‹ eines Phänomens zurückgestellt, auf der anderen Seite behält sich das ›komplexe Denken‹ einen antirelativistischen, naturalistischen Realismus vor, der einen fundamentalen Erkenntnisanspruch auf die Grundprinzipien des Kosmos formuliert. Natürlich hängt genau dieser Anspruch nun davon ab, was Morin eigentlich darunter versteht, etwas zu ›erklären‹. Dies bedeutet für ihn eben nicht, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen man die Bewegung eines Objekts vorhersagen kann. Im Gegenteil, ›erklären‹ bedeutet, für Morin, die Prinzipien kennen zu lernen, die ein Phänomen beherrschen. Und erneut ist Morin’s Hauptprinzip im Begriff der »Schleife« zusammengefasst:
Die Idee der Schleife [boucle] trägt in sich das Prinzip einer weder atomistischen noch holistischen Erkenntnis [...]. Sie bedeutet, dass man nur von einer kognitiven Praxis ausgehen kann [...], welche unfruchtbare Begriffe, wenn sie disjunkt oder nur antagonistisch sind, produktiv zusammenwirken lässt. Sie bedeutet, dass jede Erklärung, anstatt reduktionistisch zu sein [...], durch ein rekursives [...] Spiel [...] gehen muss. Die Schleife tritt an die Stelle des hohlen, souveränen Begriffes [maître-mot] [...] sie ist eine notwendige Vermittlung, sie ist die Einladung zu einem generativen Denken. [...]. Unterhalb der Schleife gibt es keine Essenz, keine Substanz, nicht einmal das Reale: Das Reale entsteht durch die Schleife der Interaktionen, die Organisation produzieren [...]. So findet eine große Veränderung der Basis statt. Es gibt keine Ausgangsentität für Wissen mehr [...]. Es gibt ein zirkuläres Spiel, das diese Entitäten hervorbringt, die wie Momente einer Produktion erscheinen.61
Morin ist sich durchaus bewusst, dass ein solcher Erklärungsansatz, welcher mechanisch-kausale Elemente durch abstrakte Formprinzipien ersetzt, von klassisch-neuzeitlichen Erkenntnistheorien frontal attackiert werden kann. Andererseits ist es gerade dieses klassische Paradigma eines kausalen Mechanismus, das den Hauptgegenstand von Morins Kritik bildet: Seine Artikulation des ›komplexen Denkens‹ ist in diesem Sinne genau der Versuch, ein wissenschaftliches Paradigma zu formulieren, das den reduktionistischen Erklärungsanspruch cartesisch verstandener Naturwissenschaften zurückweisen kann, ohne in einen esoterischen Holismus einerseits oder in eine aristotelische Doktrin von der Ursache von Form und Wirkung andererseits zurückzufallen. Inwieweit dieser Versuch eines neuen erkenntnistheoretischen Paradigmas überzeugend und in der Praxis erfolgreich sein kann, ist eine spannende und relevante Frage, die von der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie noch nicht eingehend behandelt wurde.62 Hier fehlt allerdings der Platz, um Morins Argumente einer eingehenden philosophischen Analyse zu unterziehen.
V. Eine hologrammatische Ethik der Komplexität
Eine der wichtigsten Auswirkungen seiner Gesellschaftstheorie und seines ›prinzipiellen‹ Erklärungsstils besteht nun darin, dass Morin die Begriffe, die er zur beschreibenden Erklärung sozialer und natürlicher Phänomene verwendet, in eine »teleonomische«63 Theorie der Normen übersetzen kann, denen die Individuen in ihrem individuellen Leben, bei ihrer Bewertung sozialer Phänomene und bei ihren Versuchen, die Gesellschaft zu organisieren, folgen sollten. Dieser Zusammenhang ist offensichtlich. Wenn es beispielsweise stimmt, dass nur eine funktionierende Feedback-Schleife das Leben eines Lebewesens erhält, und wenn Lebewesen sich selbst erhalten wollen, dann folgt daraus, dass wir auch versuchen sollten, uns in funktionierenden Schleifen zu organisieren. Dies impliziert bestimmte politische und ethische Denkrichtungen. In ihnen überwindet Morin einige der Prämissen, die in der Neuzeit zu dem notorischen Problem geführt haben, wie sich das Werturteil dessen, was sein sollte, aus dem empirischen Urteil dessen, was ist, ableiten lässt. Es ist eine Richtung, die effektiv zu einer klassisch antiken Auffassung der Einheit von Normativem und Faktischem zurückführt, und so visiert es Morin selbst auch an: »Die Physis verweist zusammen mit dem Kosmos auf die Griechen zurück.«64 Dies macht einige von Morins Argumenten über die Gesellschaft zu sowohl normativ-präskriptiven als auch empirisch-deskriptiven Ansatzpunkten.
Im sozialen Kontext, und im normativen Sinne, fungiert Komplexität so nämlich nicht nur als evolutionäre Beschreibung eines sozialen Stadiums, sondern als Ideal. Eine Gesellschaft erscheint unter der Perspektive des Morin’schen Theoriegebäudes als gut, wenn sie Komplexität zulässt, ohne von dieser Komplexität selbst erdrosselt zu werden. Denn eine komplexe Gesellschaft zeichnet sich für Morin schlichtweg durch eine größere – und damit wünschenswertere – Vielfalt an Institutionen und eine geringere Regulierung von Handlungsnormen aus und gibt den Individuen dadurch effektiv mehr Spielraum bei der Gestaltung ihrer Lebensweise. Dies wiederum führt, so sein Argument, zu einer größeren Vielfalt an kulturellen Praktiken, die sich in das menschliche Verhalten einschreiben, dieses regenerieren können, und so der Erhaltung und Entwicklung der Spezies zugutekommen. Diese Einführung des Konzepts der sozialen Komplexität als grundlegendes politisches Ideal findet in der Mitte des fünften Teils von La Méthode statt, wo Morin zwischen Gesellschaften mit ›hoher‹ und ›niedriger‹ Komplexität unterscheidet:
Gesellschaften, die dazu tendieren, [...] die Autorität des staatlichen Zentrums so weit wie möglich und in allen Bereichen durchzusetzen, sind von geringer Komplexität. Gesellschaften mit hoher Komplexität begünstigen dagegen die Pluralität des Polyzentrismus und die Spontaneität der Dezentralität. [...]. Der Fortschritt der Wissenschaften ist nicht nur mit disziplinären Spezialisierungen verbunden, sondern auch mit Überschreitungen von Spezialisierungen, mit der Aufstellung allgemeiner Theorien und mit polydisziplinären Zusammenschlüssen. Niedrige soziale Komplexität führt jedoch zu einer Disjunktion von Spezialisierung, Polykompetenz und allgemeinen Kompetenzen. Hohe Komplexität fordert ihre Verbindung. [...]. Und auf jeden Fall führt niedrige Komplexität einfacher zur Ausbeutung der Gesellschaft durch ein Machtzentrum […]. Die hohe Komplexität lässt Antagonismus und Konkurrenz zu [...], sie toleriert Unordnung und Ungewissheit, während sie sich gleichzeitig als fähig erweist, auf Zufälle zu reagieren. Sie verteilt ihre Emergenzen rückwirkend auf alle Individuen, die wiederum die Möglichkeit haben, ihre Kontrolleure zu kontrollieren. Das bedeutet, dass hohe Komplexität individuelle Autonomie und Bürgersinn beinhaltet [...].65
Diese Unterscheidung mag im Lichte der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zunächst recht widersprüchlich erscheinen: Sind die Gesellschaft der Sowjetunion oder die heutige chinesische Staatswirtschaft ›weniger komplex‹, schlichtweg, weil sie Myriaden von sozialen Interaktionen stärker durch einen zentralen Kontrollmechanismus statt durch spontane Allokation laufen lassen? Das erscheint erst einmal nicht der Fall. Aber der Einwand lässt sich umgehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Morin, wie oben erwähnt, das Konzept der sozialen Komplexität gerade nicht für eine empirische Epochendiagnose moderner Gesellschaften verwendet – denn für ihn ist Komplexität eben grundsätzlich ein Grundmerkmal aller Phänomene der Realität und kann daher nicht als differentia specifica zur Beschreibung eines ›fortgeschritteneren‹ gesellschaftlichen Zustands dienen. In letzterem Fall bezeichnet Komplexität, wenn sie von Morin als Attribut und nicht als Prinzip der sozialen Evolution verwendet wird, vielmehr ein normatives Ideal, das es zu erreichen gilt: eine erfolgreiche soziale Homöostase, die sich in nicht-autoritär verwalteten Gesellschaften besser einstellt als in beherrschten Gesellschaften. Auf dieser Grundlage ist es nicht verwunderlich, dass Morins Gedankengang letztlich in ein Argument für Pluralismus und eine ›offene Gesellschaft‹ mündet, wie man es von Vertretern des klassischen Liberalismus kennt:
Hohe gesellschaftliche Komplexität fördert individuelle Autonomie: Sie begrenzt die Ausbeutung, schränkt die Unterwerfung ein, ermöglicht körperliche, geistige und seelische Freiheit und, wenn es eine Demokratie gibt, auch freie politische Entscheidungen. Diese hohe Komplexität hängt mit der Entwicklung der Kommunikation, des wirtschaftlichen und ideellen Austauschs und dem Spiel der Gegensätze zwischen Interessen, Leidenschaften und Meinungen zusammen. Daher wächst der Bereich der menschlichen Freiheit mit der Zunahme der individuellen Wahlmöglichkeiten.66
Morin ist keineswegs blind für mögliche Kritik an dieser Argumentation und betont die Gefahr, dass sich die Entwicklung hin zur Komplexität derart verabsolutieren kann, dass sie genau jene Rückkopplungsprozesse zwischen Individuum und Gesellschaft unterbricht und erstickt, die selbst als einzige die Lebensfähigkeit ihrer eigenen Komplexität über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten. Dies erinnert durchaus an die dialektischen Argumente von Marx und Schumpeter, nach denen es gerade der Erfolg eines wirtschaftlich liberalen Systems sein könne, der seine eigene Basis untergräbt.67 Einige Elemente dieser (Selbst-)Kritik nähern sich so auch einem Bewusstsein für die epistemische Dimension dessen, was Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die »Tragödie der Kultur«68 bezeichnet hatte – die Idee, nach der es gerade die Überfülle an kollektiver Kultur sein kann, die das Wissen und das Urteilsvermögen des Einzelnen erstickt:
Es ist bekannt, [...] dass sich die gegenwärtigen Entwicklungen dem menschlichen Denken und der menschlichen Weisheit entziehen. Unser Verstand ist mit der unerträglichen Komplexität der Welt überfordert. [...] Geistige, emotionale und kulturelle Unterentwicklungen werden durch die wirtschaftliche Entwicklung selbst produziert. Fortschritte in der Information und im Wissen werden von einem Anstieg der Unwissenheit begleitet, der auf die Zersplitterung und Kompartimentierung des Wissens zurückzuführen ist. Die Emanzipation des Einzelnen und die Bereicherung seines Privatlebens werden oft durch Atomisierung ausgeglichen [...]. Der positiv rückgekoppelte Prozess des beschleunigten Wachstums kann nur zu einem zerstörerischen Ausbruch oder zu einer Metamorphose führen. Das Problem, vor dem die Menschheit steht, ist sowohl fundamental als auch global. Nun ist das Denken, das nur das Stückwerk, das Fragmentarische, das Dekontextualisierte [...] wahrnimmt, zu jeder umfassenden und grundlegenden Konzeption unfähig.69
Es scheint jedoch, dass Morin, ähnlich wie Durkheim, mehr an der Frage des sozialen Zusammenhalts in fragmentierten Gesellschaften interessiert ist, und an der Interdependenz von Freiheit und Zwang, die sich aus diesen Umständen ergibt. Auf eine besondere Dialektik zwischen Wissen und Kultur, wie sie beispielsweise in Simmels Denken zu finden ist, geht Morin auch in seiner Analyse der »Noosphäre« nicht ein.70 Stattdessen geht es – um Gerechtigkeit:
Können wir uns ein soziales Optimum vorstellen, das sowohl mehr Gemeinschaft als auch mehr Autonomie, mehr Einheit und mehr Vielfalt bietet? Was würde ein Maximum an Emergenzen (Freiheit, Kreativität) hervorbringen und ein Minimum an Einschränkungen auferlegen: O ⊃ Max E/Min C? Tatsächlich kann keine Gesellschaft alle Zwänge beseitigen […]. Wir können nur sagen, dass die ›gute‹ Gesellschaft diejenige ist, die hohe Komplexität erzeugt und regeneriert. […] Die Gefahren einer solchen Gesellschaft: Hohe Komplexität bringt […] Freiheiten und Toleranzen mit sich, aber Freiheiten […] begünstigen Antagonismen und Störungen, und ab einer bestimmten Schwelle führen Störungen […] zu Rückschritten oder zerstören die erworbene Komplexität. Das einzige Gegenmittel zur extremen Fragilität hoher Komplexität ist das erlebte Gefühl der Solidarität, also der Gemeinschaft, zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft.71
An sich ermöglicht es diese durkheimsche Beobachtung von Morin, nach der soziale Komplexität nur dann selbsterhaltend sein kann, wenn sie sich solidarisch selbst regeneriert, eine philosophische Frage nach den Bedingungen individueller Freiheit in komplexen Gesellschaften gerade in Bezug auf Wissensorganisation aufzuwerfen. Denn Morin verortet die Schwierigkeit sozialer Komplexität nicht darin, dass sie immer gesteigert werden, sondern dass sie auf einem konstanten Niveau anpassungsfähig und stabil bleiben soll. Konsequenterweise sollte diese Anforderung dann auch für die Struktur von Wissen gelten. Morin selbst weist deutlich darauf hin, dass das ›Ersticken‹ von Wissen durch Wissen ein sehr reales Problem in der modernen Welt ist:
Als ich meine Lektüre wieder aufnahm [...], ergaben sich aus diesen Lektüren neue Lektüren [...]. Die Lektüreliste wuchs noch schneller als die Liste der bereits überflogenen Bücher. Ich machte weiter, bis ich, überwältigt und erstickend, die intellektuell willkürliche, aber biologisch notwendige Entscheidung traf, mit der Bibliographie aufzuhören und mit dem Schreiben zu beginnen [...]. Ich musste bei dieser Arbeit beides erleben:
- die bibliografische Tragödie, die in jedem Bereich, auch wenn dieser begrenzt ist, durch die exponentielle Zunahme an Wissen und Referenzen verschärft wird;
- die Tragödie der Reflexion, die ein Jahrhundert hervorruft, in welchem die sozialen Umstände ein Hindernis für die Reflexion über Wissen darstellen
- die Tragödie der Komplexität, die auf zwei Ebenen angesiedelt ist: der Ebene des Wissensgegenstands und der Ebene der Erkenntnisarbeit.
[...]. Auf der Arbeitsebene erkennt das komplexe Denken sowohl die Unmöglichkeit als auch die Notwendigkeit einer Totalisierung, einer Vereinigung, einer Synthese. Sie muss daher auf tragische Weise nach Totalität, Einheit und Synthese streben und gleichzeitig gegen den Anspruch auf diese Totalität, auf diese Einheit, auf diese Synthese kämpfen, im vollen und unwiderruflichen Bewusstsein der Unvollständigkeit allen Wissens, allen Denkens und jedes Werkes. Diese dreifache Tragödie betrifft nicht nur Studenten, […], Forscher, Akademiker; es ist die Tragödie von allem: es ist die Tragödie des modernen Wissens. [...]. Unvollständigkeit ist heute das Herzstück des modernen Bewusstseins.72
Auf einer persönlichen Ebene wird dieses Problem von Morin reflektiert; auf der Ebene seiner Gesellschaftstheorie ist es dahingegen abwesend. Diesen blinden Fleck kann man dem ansonsten an Themenvielfalt nicht armen Theoriegebäude Morins vorwerfen. Denn das, was Morin über den Zusammenhang zwischen Freiheit und hoher Komplexität sagt, gilt aufgrund seiner analogen Ähnlichkeit auch eindeutig für das Problem des Wissens in zeitgenössischer Informationsgesellschaften. Und für diese Widersprüchlichkeit ist Morin durchaus sehr sensibel.
So rekonstruiert er, dass die Anpassungsfähigkeit komplexer Gesellschaften auf der einen Seite davon abhängt, dass ihre Arbeitsteilung sich immer weiter differenziert und so zu einem Zustand ständigen Wachstums führt; welches diese Differenzierungsprozesse letztendlich selbst stabilisiert.73 Innerhalb dieses epistemischen Wachstums gibt es zweifellos Anhäufungen und Verdichtungen von Wissen, die gar in einzelnen Persönlichkeiten verankert sind.74 Aber diese Wissensanhäufungen können jederzeit zerfallen. So benennt Morin klar, dass »der Zerfall archaischer Kulturen […] zum Verschwinden eines großen Teils des angesammelten Wissens«75 beigetragen hat. Dies führt Morin zu einem besonders ausgeprägten Bewusstsein für die Fragilität der Gegenwart, und für die Möglichkeit ihres Niedergangs: »Viele erworbene Kenntnisse, Gedanken […] degenerieren, wenn sie nicht ständig regeneriert werden. Tatsächlich gibt es in der Geschichte einen enormen Verlust an erworbenem Wissen.«76 Morin zieht daraus den Schluss, dass die Errungenschaften der Vergangenheit niemals sicher sind, sondern dass sie immer verteidigt, verstanden und erneuert werden müssen: »Wir befinden uns im Zeitalter der endgültigen Krise des linearen und notwendigen Fortschritts […]. Es besteht die Möglichkeit eines solchen Fortschritts, aber er kann nicht irreversibel sein, und jeder Fortschritt erfordert eine ständige Erneuerung.«77 Dies wäre eine Erneuerungsbewegung bereits bestehender Rückkopplungsmechanismen zwischen Mensch, Gesellschaft und Spezies, wie sie Morin typischerweise in einer Demokratie verortet:
Demokratie ist die kontinuierliche Erneuerung einer Rückkopplungsschleife: Bürger produzieren Demokratie, die wiederum Bürger hervorbringt. Demokratie basiert sowohl auf dem Konsens der Bürger, die ihre Spielregeln akzeptieren, als auch auf dem Konflikt von Interessen und Ideen. Die Spielregeln ermöglichen die Konfrontation von Ideen durch Wahlen und nicht durch die Anwendung von Gewalt. Demokratie stellt die Vereinigung von Einheit und Uneinigkeit dar; sie ernährt sich endemisch von Konflikten, die ihr ihre besondere Vitalität verleihen. Demokratie lebt in der Pluralität [...] und muss diese Pluralität aufrechterhalten, um sich selbst zu erhalten.78
Somit erfordert die Aufrechterhaltung der Gesellschaft für Morin ein aktives Bewusstsein des Einzelnen. Und wiederum verfällt Morin hier nicht einem deterministischen Soziologismus, sondern stellt konkrete Erwartungen an das Individuum: »Das Faktum bleibt, dass das menschliche Individuum das Zentrum des Bewusstseins […] für die Gesellschaft ist.«79 Und so führt seine Soziologie stets zu einem Verständnis des Singulären und des Einzelnen zurück.
Genau hier aber könnte man Morins Hypothese, nach der immer eine konsistente Subsumption der gesellschaftlichen Entwicklung in der individuellen Persönlichkeit angenommen werden kann, kritisch hinterfragen. Für Morin besteht diese Annahme allein aufgrund seiner Ontologie: »So wie jeder Punkt eines Hologramms die Informationen des Ganzen enthält, von dem er Teil ist, so ist auch die Welt als Ganzes immer in jedem Einzelnen vorhanden.«80 Hier tritt nun der blinde Fleck von Morins Theoriegebäude allerdings wieder hervor. Denn diese Verbindung zwischen der subjektiven Sphäre und der objektiven Sphäre des Sozialen könnte ja gerade von der Dialektik zwischen Wachstum und Komplexität im Bereich des individuellen Wissens und der ›Unabgeschlossenheit‹ eines jeden Werkes destabilisiert werden. Statt dies anzuerkennen, entwickelt Morin aber auf der Annahme des stabilen ›hologrammatischen‹ Zusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft eine normative Theorie der Lebensführung. Auf Grundlage der vermeintlichen Korrespondenz zwischen Individuum und Spezies legt diese nahe, dass das Subjekt sein Leben nach den Prinzipien organisieren muss, für die seine Spezies es ausgestattet hat.
Und in dieser Frage der »Endzwecke« [finalités] zeigt sich Morin erneut überraschend klassisch. Er schreibt dem Leben einen eigenen Wert und eine eigene Gesetzlichkeit zu, die er in ›natürlichen‹ Aktivitäten wie Kunst, Literatur, Liebe oder Freundschaft sieht. Es ist die de-spiritualisierte Technik, nicht die Kumulation der Komplexität, mit der Morin zufolge das moderne Subjekt immer im Widerspruch stehen wird, weil diese – Morin folgt ganz der These Webers – die Welt einfach entzaubert, entgeistigt und einer rein sachlichen Herrschaft unterwirft, die dem Individuum keine Antwort auf die Frage bietet, wofür es lebt. Damit sich der moderne Mensch diesem Widerspruch stellen kann, muss er, so Morin, die besondere Rolle der Poesie erkennen, die dem Leben einen intrinsischen Wert zuschreibt. In dieser »poetologischen« Ethik wird die Moderne – und nicht die Komplexität – zum Hauptgegner erfolgreicher Subjektivität: »Die Prosa unserer Zivilisation, das Primat des Ökonomischen, die Invasion der zeitgesteuerten Zeit auf Kosten der natürlichen Zeit, […] all dies regt durch Gegenwirkung den poetischen Widerstand an.«81
Denn »je mehr Prosa in das Leben eindringt, desto mehr reagiert die Poesie. […]. Poetisch zu leben bedeutet, um des Lebens willen zu leben. […]. Während der prosaische Staat immer Ziele hat, die ihm äußerlich sind, ist der poetische Staat […] immer sein eigener Zweck.«82 Eine stilistische Kritik der Moderne und eine poetologische Konzeption des ›guten Lebens‹ gehen also bei Morin Hand in Hand und bieten das mikropolitische Spannungsfeld, in dem Widerstand, Abweichung und Innovation die Gesellschaft als Ganzes verändern können: »Alle Entwicklung ist die Frucht der erfolgreichen Abweichung, die das System, in dem sie entstanden ist, transformiert.«83
Wir könnten daher insgesamt sagen, dass Morins Gesellschaftstheorie ebenso wie seine Forderung nach ›komplexem Denken‹ zu einer individuellen Lebensethik führen, die vom Subjekt fordert, die Gesamtheit seiner Umwelt zu verstehen, zu verbinden, zu verflechten und schließlich aktive Subversionen gegen etablierte Praktiken zu wagen – nicht zuletzt auch, um diese zu regenerieren und so Handlungsweisen eines möglichen zukünftigen Lebens zu ermöglichen. In diesem Projekt offenbart sich Morin letztendlich als der Humanist, als der er sich beschreibt.
Bibliographie
Fußnoten
1 Roland Barthes und Edgar Morin haben gemeinsam ihre wissenschaftlichen Karrieren unter der Leitung des Soziologen George Friedmann im Centre d’études de communication de masse begonnen; vgl. den diesbezüglichen Hinweis in Kauppi (1990): Tel Quel: La constitution sociale d'une avant-garde. Helsinki: Societa Scientiarum Fennica, S. 93. Sie sind danach, wie Edgar Morins Biograph Emmanuel Lemineux (2009) herausstellt, ununterbrochen befreundet geblieben, vgl. Edgar Morin. L’indiscipliné, Paris: Seuil, S. 309–336. Niklas Luhmann (1984) zitiert Edgar Morin an prominenten Stellen seines Hauptwerks: vgl. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 44. Für einen Vergleich zwischen den Theorien Luhmanns und Morins, siehe Curvello/ Skroferneker (2008): A comunicação e as organizações como sistemas complexos: uma análise a partir das perspectivas de Niklas Luhmann e Edgar Morin. In: E-Compós, n° 11/3. Die Zusammenhänge zwischen dem Denken Morins und den Debatten im Feld der Ökologie und im Anthropozän-Diskurs sind untergründiger. Erstere schließen über den Systembegriff und die Kybernetik an die Quellen Morin’scher Theorien an, beispielsweise an Gregory Bateson; letztere aktualisieren, wie beispielsweise Peter Haff (2014) in seinem Konzept der »Technosphäre« (Humans and technology in the Anthropocene: Six rules. In: The Anthropocene Review, 1/2, 2014, S. 127) implizit Edgar Morins Konzept der »Noosphäre«, welches dieser (1991) in La méthode 4. Les idées (Paris: Seuil) wiederum den Texten Teilhard de Chardins, Édouard Le Roys, und Vladimir Vernadskys entlehnt, ohne diese Quellen eingehend zu diskutieren; vgl. Vernadsky (1945): The Biosphere and the Noosphere. In: American Scientist, 33/1, S. 1–12. 2 Vgl., in Bezug auf seine Werke zur Populärkultur, Morin (1956): Le cinéma ou l'homme imginaire. Essai d’anthropologie sociologique. Paris: Les Éditions de Minuit; sowie Morin (1957): Les stars. Paris : Editions du Seuil, 1957. Auf Deutsch erschienen sind Teile seines Werkes im Verlag Turia + Kant, so u.a. der erste Band seines Hauptwerkes: Die Methode. Die Natur der Natur, herausgegeben von Wolfgang Hofkirchner (2010) und übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rainer E. Zimmermann, Wien: Turia & Kant. Im Folgenden werden die Werke Morins aus Gründen der Übersichtlichkeit und Vollständigkeit jedoch nach Ersterscheinungsdatum und in der französischen Originalausgabe zitiert; die Übersetzungen wurden vom Verfasser des Artikels angefertigt. 3 Morins Philosophielehrer am Lycée war der Historiker und Anthropologe Jean-Pierre Vernant, später Lehrstuhlinhaber am Collège de France für vergleichende Religionswissenschaft, vgl. Lemineux: L’indiscipliné, S. 260. 4 Vgl. Lemineux: L’indiscipliné, S. 113–123. 5 Zur Einordnung dieses aus einer deutschen Perspektive hochinteressanten Werkes, vgl. Martine Floch (2021): L’An zéro de l’œuvre d’Edgar Morin. In: Matériaux pour l’histoire de notre temps, 137–138/3, 2021, S. 129–137. 6 Vgl. Lemineux: L’indiscipliné, S. 269–301. 7 Vgl. Morin/ Wolton (2011): Grand entretien. In: Hermès, 60/2, S. 241–243. 8 Vgl. Lemineux: L’indiscipliné, S. 301–309. 9 Supra: Note 2; vgl. auch Edgar Morin (1948): L’Homme et la Mort. Paris, Éditions Corrêa. 10 Vgl. Lemineux: L’indiscipliné, S. 309–370. 11 Vgl. Barthes (1980): La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, S. 113. 12 Vgl. Morin/ Wolton: Grand entretien, S. 248–250. 13 Vgl. Morin (1967): Commune en France. La métamorphose de Plodémet. Paris: Fayard. 14 In ihr analysiert Edgar Morin u.a. die soziologischen und zeitgeschichtlichen Bedingungen der studentischen Organisation, vgl. Morin (1968): La communeauté étudiante. In: Morin/ Lefort/ Castoriadis (2008): Mai 68. La brèche: suivi de Vingt ans après. Paris: Fayard, S. 13–41. 15 Später aufgezeichnet in Morin (1970): Journal de Californie. Paris: Editions du Seuil. 16 Vgl. Lemineux: L’indiscipliné, S. 468–469. 17 Zur besseren Einordnung der Forschungskultur dieses Ortes empfiehlt sich die kurze Einführung Jonas Salks zu Bruno Latour und Steve Woolgar (1979): Laboratory life. The construction of scientific facts. Princeton: Princeton University Press, S. 11–14. 18 Vgl. Lemineux: L’indiscipliné, S. 473–480. 19 Vgl. Lemineux: L’indiscipliné, S. 480–500. 20 Vgl. Morin (1973): Le paradigme perdu. La nature humaine. Paris: Points. 21 Vgl. Morin (1990): Introduction à la pensée complexe. Paris: Points. 22 Morin (2001): La Méthode 5: L'humanité de l'humanité. Paris: Seuil, S. 13. 23 Morin (1976): Pour une crisologie. In : Communications 25/1, S. 154. 24 Die Quellen, auf die sich Morin mit Bezug auf die Quantenphysik bezieht, bleiben über sein Werk hinweg gleich. Er orientiert sich vor allem an Bernard d Espagnat (1965): Conceptions de la physique contemporaine. Les interprétations de la mécanique quantique et de la mesure. Paris: Hermann; und an Werner Heisenberg (1969): Der Teil und das Ganze: Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München: Piper. 25 »Il s’agit d’en-cyclo-péder, c’est-à-dire d’apprendre à articuler les points de vue disjoints du savoir en un cycle actif.« Morin (1977): La Méthode 1. La nature de la nature. Paris: Seuil, S. 19. 26 Morin: La Méthode 1, S. 10. 27 Morin: La Méthode 1, S. 45. 28 Morin (1986): La Méthode 3. La connaissance de la connaissance. Paris: Seuil, S. 26–27. 29 Morin: La Méthode 1, S. 45. 30 Morin: La Méthode 1, S. 150. 31 Morin: La Méthode 1, S. 57. Dieser Ausdruck taucht allerdings auch schon auf bei Gilles Deleuze (1968): Différence et Répétition. Paris: Presses universitaires de France, S. 80., und davor bei James Joyce (2020 [1939]): Finnegans Wake. London: Alma Classics, Buch I, Kapitel 5. Auf beide Okkurenzen referiert Morin nicht explizit. 32 »D’un tourbillon« – Morin: La méthode 1, S. 41. 33 Morin: La Méthode 1, S. 228–229. 34 Vgl. für mehr Details Morin: La méthode 1, S. 33–42. 35 Vgl. Morin: La Méthode 1, S. 225–231. 36 Morin: La Méthode 1, S. 156–173. 37 Morin: La Méthode 1, S. 316. 38 »Naitre, c’est connaitre.« – Morin: La Méthode 3, S. 47–48. Morin entlehnt den Begriff der Autopoeisis, wie es seinerseits Luhmann tut, den Werken Humberto Maturanas und Francisco Varelas; vgl. deren Studie, die drei Jahre nach Ersterscheinen von La méthode erscheint; Maturana undVarela (1980): Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living. Dordrecht: Reidel. 39 Morin: La Méthode 1, S. 167. 40 Aus der logischen Erwägung heraus, dass in Morins zugrundeliegender Konstitutionsebene die weiteren Entfaltungsmöglichkeiten der aus ihnen entstehenden Derivationsebenen schon immer ontologisch angelegt sein müssen, würde es sogar Sinn machen, seine Theorie eher als eine ›Emanations‹- oder als eine ›Supervenienztheorie‹ zu bezeichnen. Vgl. Beckermann Ansgar (1992): Supervenience, Emergence, and Reduction. In: Posner (ed.): Emergence or Reduction? Essays on the Prospects of Nonreductive Physicalism. Berlin: De Gruyter, S. 94–119. 41 Morin: La Méthode 5, S. 104. Zu Morins Hegellektüre, siehe Lemieux: L’indiscipliné, S. 152–153. 42 Morin: La Méthode 5, S. 184. 43 Morin: La Méthode 5, S. 78. 44 Morin: La Méthode 5, S. 321. 45 Im Original ist die Verschränkung umgedreht : »Des individus produisent la société qui produit les individus ; l’émergence sociale dépend de l’organisation mentale des individus, mais l’émergence mentale dépend de l’organisation sociale.« Morin: La méthode 5, S. 190–191. 46 Morin: La Méthode 5, S. 189. 47 Vgl. Morin: La Méthode 5, S. 238–239. 48 Morin: La Méthode 1, S. 329–330. 49 Morin: Pour une crisologie, S. 155. 50 So zumindest die Interpretation Éric Letonturiers, vgl. Letonturier (2011): Réseau, Communication et Complexité. In: Hermès, 60/2, S. 106. 51 Pascal (1977 [1670]): Pensées, Paris: Gallimard, Fragment 185, S. 159. 52 Morin: La Méthode 5, S. 216. 53 Diese Interpretation gewinnt zumindest ideengeschichtlich an Schärfe, wenn man in Betracht zieht, dass Morin selbst die Kybernetik Norbert Wieners als eine Art (hegelianische) Konter-Revolution der Teleologie gegen den reinen Behaviorismus sah: »Wiener’s Rehabilitation des Zwecks konnte als eine epistemologische Revolution gegenüber dem Behaviorismus (Piaget) angesehen werden. Mehr noch, sie lässt uns verstehen, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften sich an die Idee des Zwecks klammerten (Comte, Marx, Tönnies usw.), nicht weil sie im Vergleich zu den Naturwissenschaften rückständig waren, sondern weil die Ausrottung jeglichen Zwecks ihren Gegenstand unverständlich machte. [...]. Der Fortschritt der Wissenschaften vom Leben und vom Menschen kann und darf nicht in der Reduktion des Seins auf Verhalten (behavior) und dann in der Reduktion des Verhaltens auf eine äußere Kausalität erfolgen.« Morin: La Méthode 1, 267. 54 Vgl. die ursprüngliche Formulierung der kybernetischen Grundidee in Rosenblueth/ Wiener/ Bigelow (1943): Behavior, Purpose and Teleology. In: Philosophy of Science 10/1, S. 21. 55 Diese Interpretation gewinnt zumindest ideengeschichtlich an Schärfe, wenn man in Betracht zieht, dass Morin selbst die Kybernetik Norbert Wieners als eine Art (hegelianische) Konter-Revolution der Teleologie gegen den reinen Behaviorismus sah: »Wiener’s Rehabilitation des Zwecks konnte als eine epistemologische Revolution gegenüber dem Behaviorismus (Piaget) angesehen werden. Mehr noch, sie lässt uns verstehen, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften sich an die Idee des Zwecks klammerten (Comte, Marx, Tönnies usw.), nicht weil sie im Vergleich zu den Naturwissenschaften rückständig waren, sondern weil die Ausrottung jeglichen Zwecks ihren Gegenstand unverständlich machte. [...]. Der Fortschritt der Wissenschaften vom Leben und vom Menschen kann und darf nicht in der Reduktion des Seins auf Verhalten (behavior) und dann in der Reduktion des Verhaltens auf eine äußere Kausalität erfolgen.« Morin: La Méthode 1, 267. 56 Morin: La Méthode 5, S. 240. 57 Morin: La Méthode 5, S. 63. 58 Vgl. Morin (2007): Sociologie. Paris: Fayard, 8–12. 59 Morin: La Méthode 1, S. 333. 60 Morin: La Méthode 5, S. 257. 61 Morin: La Méthode 1, S. 381–382. 62 Kurz nach Erscheinen der ersten gesellschaftstheoretischen Arbeiten Morins nehmen einige Rezensenten diese philosophischen Fragen in der Tat auch auf, vgl. Matarasso (1975): Edgar Morin ou le nouvel éloge de la folie. In: Annales. Histoire, Sciences Sociales, 30/1, S. 177–185; Koch (1987): Kosmos and Hodos. A Biassed Reading of Edgar Morin’s ›La méthode‹ In: Revue européenne des sciences sociales, 75/25, S. 73–93; oder auch noch Banywesize (2007): Edgar Morin et le réenchantement des sociétés humaines. In: Sociétés, 98/4, 23–39. In den letzten Jahrzehnten dominiert allerdings weniger ein wissenschaftstheoretisches, sondern eher ein anwendungsorientiertes Interesse an den Arbeiten Morins, z.B. in der Ökologie, in den Kommunikationswissenschaften oder auch in den Feldern von Organisation und Management, siehe Schmitt (2021): Si Edgar Morin m’était conté : désordre, dialogique et complexité. In: Projectics, 30/3, S. 71–85. 63 Morin: La Méthode 1, S. 263. 64 Morin: La Méthode 1, S. 356. 65 Morin: La Méthode 5, S. 215–220. 66 Morin: La Méthode 5, S. 316. 67 Vgl. Schumpeter (1942): Capitalism, socialism and democracy. London: Routledge, S. 53–58. 68 Zur Einordnung dieser Denkfigur, die Morin an keiner Stelle zitiert, siehe Ritzer (2007): Georg Simmel (1858–1918), Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911). In: KulturPoetik., 7/2, S. 259–270. 69 Morin: La Méthode 5, S. 281–283. 70 So fehlt die Frage, ob Wissenssysteme beispielsweise unter ihrer eigenen Größe kollabieren können, in den Diskussionen über die Wissenssoziologie im vierten Teil von Morins Méthode, Les idées, vollkommen. 71 Morin: La Méthode 5, 254–255. 72 Morin: La Méthode 3, S. 28–29. 73 Morin: La Méthode 5, S. 224. 74 Von diesem Standpunkt aus ließe sich ein Dialog mit der Wissenstheorie Jürgen Renns beginnen, vgl. Jürgen Renn (2020): The evolution of knowledge. Rethinking science for the Anthropocene. Princeton: Princeton University Press. 75 Morin: La Méthode 5, S. 251. 76 Morin: La Méthode 5, S. 252. 77 Morin: La Méthode 5, S. 253. 78 Morin: La Méthode 5, S. 225. 79 Morin: La Méthode 5, S. 232. 80 Morin: La Méthode 5, S. 266. 81 Morin: La Méthode 5, S. 162. 82 Morin: La Méthode 5, S. 162. 83 Morin: La Méthode 5, S. 245.