Einleitung. Original und Kopie. Techniken und Ästhetiken der re-/produktiven Abweichung
Angesichts aktueller medientechnischer Entwicklungen stellt sich in zahlreichen lebensweltlichen Bereichen, in wissenschaftlichen und künstlerischen Zusammenhängen sowie Ausstellungs- und Aufführungspraktiken, die dringliche Aufgabe, das Verhältnis von Original und Kopie neu zu bestimmen. Reproduktions- und Kopiervorgänge haben sich im späten 20. Jahrhundert als ein wichtiges Forschungsfeld etabliert. In produktiver Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Überlegungen zum Verlust der ‚Aura’ des Kunstwerks im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit wurden dabei lineare Abhängigkeitsverhältnisse kritisch hinterfragt, epistemologisch und methodisch neu perspektiviert bzw. überhaupt erst interdisziplinär diskutiert, dies nicht zuletzt im Hinblick auf anthropologische und ethische Fragen.1
Während die moderne Molekularbiologie die Verwandtschaft von Mikroorganismen in Netzwerkstrukturen, sogenannten Phylogrammen, visualisiert, die auf Modellbildungen zu Reproduktions- und Kopiervorgängen beim Bau der Erbinformation basieren, betonen Geisteswissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler die Metaphorizität des ‚genetischen Codes’. Der Philosoph Hans Blumenberg (1981) etwa verweist auf die im Begriff ‚genetischer Code’ implizierten Konzepte von der ‚Welt als Buch’ und von Abschreibeprozessen. Im Anschluss an Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit reflektiert die Germanistin Sigrid Weigel (2006) Kopierprozesse und die dabei stets mittransportierte Metaphorik des Erbes und der Vererbung. Sie betont die konstitutive Rolle solcher Metaphorik bei der Generierung neuartigen Wissens und zeigt deren Potentiale auf, mit der Dialektik von Konkretheit und Abstraktheit, von Wissen und Nichtwissen umzugehen. Andererseits hat der Linguist und Medientheoretiker Ludwig Jäger (2002) mit dem Begriff der ‚Transkriptivität’, den er als Beitrag zu einer operativen Medientheorie jenseits kulturpessimistischer Debatten versteht, eine Neukonzeptualisierung von ‚Original’ und ‚Kopie’ entwickelt. Intra- und intermediale Verfahren semantischer Transkriptionen generieren nach Jäger Skripte, die jedoch weder ein Abbild noch eine Kopie von Präskripten sind, sondern die Präskripte allererst erzeugen, indem sie sie lesbar machen. In Jägers Transkriptionsmodell gibt es folglich kein Original mehr, sondern nur noch ‚Originalkopien’ – ein Konzept, das von Brigitte Weingart (2012) und anderen weiterentwickelt worden ist.2 Wie Jägers Theorie einer kulturellen Semantik, die auf der Prämisse eines rekursiven Spiels beruht, das ‚Original’ immer schon prozessural als Umschrift und damit als Kopie jenseits eines linearen Abbildverhältnisses versteht, so erklärt der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser (2013) anhand der Figur der ‚Emergenz’ Mimesis-Vorgänge und Kreativitätsphänomene. Gemäß dem dabei entwickelten Rekursionsmodell erlauben Rückkoppelungsbewegungen und nicht-determinierte Abläufe das Verhältnis von ‚Original’ und ‚Kopie’ neu zu bestimmen und ein lineares Abbildverhältnis in der Relation von ‚Original’ und ‚Kopie’ in Frage zu stellen. Charakteristisch für das Konzept der ‚Emergenz’ ist gerade die Depotenzierung linearer Prozesse zugunsten von ‚Vernetzungen’ und strange loops, wie sie Douglas R. Hofstadter (1979) anhand mathematischer, ikonographischer und musikalischer Erscheinungsformen beschrieben hat. Das Zusammendenken von Operationen des genetischen Codes und strukturellen Eigentümlichkeiten der Literatur, wie es etwa Iser, Weigel sowie jüngst auch Christopher Howe und Michael Stolz vorschlagen, baut eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis – ein Anliegen, welches auch das vorliegende Sonderheft verfolgt.
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Forschungslage setzt sich die vorliegende Publikation zum Ziel, das Verhältnis von ‚Original und Kopie’ im medialen Kontext von Kopier-, Reproduktions-, Adaptions-, Assimilations- und Appropriationsprozessen (wie z.B. in Produktions- und Aufführungsmodi) neu zu beleuchten. Angesichts der technisch möglichen Multiplizität und Serialität potenziell endloser Reproduktionsreihen und der theoretischen Produktivität des Netzwerkmodells in verschiedenen Bereichen wissenschaftlicher Forschung und künstlerischer Praxis stellen sich u.a. folgende Fragen: Inwiefern sind die Konzepte von ‚Original’ und ‚Kopie’ noch voneinander abgrenzbar? Inwiefern ist ihr Verhältnis linear fassbar, inwiefern unterliegt es nichtlinearen, enthierarchisierten, netzwerkartigen Strukturen? Inwiefern vermag die ‚Kopie’ auf die Einschätzung dessen, was als ‚Original’ zu gelten hat, zurückzuwirken? Welche Neubestimmung der Konzepte von ‚Original’ und ‚Kopie’ lässt sich auf der Basis solcher Überlegungen vornehmen? Und schließlich: Welche Perspektiven auf das Verhältnis von ‚Original’ und ‚Kopie’ ergeben sich, wenn historische Beispiele auf diese Weise in den Blick genommen werden?
Das vorliegende Heft eröffnet im interdisziplinären Dialog neue Perspektiven auf diese für die Original/Kopie-Debatte aktuellen und zentralen Fragen. Im Interesse einer erweiterten Standortbestimmung der Begriffe ‚Original’ und ‚Kopie’, die nicht erst seit der Moderne und Postmoderne eine kulturelle Leitdifferenz bilden, erscheint es lohnend, bislang wenig beachtete Konzeptualisierungen zu Techniken und Ästhetiken von Reproduzierbarkeit in ihren jeweiligen historischen Kontexten und zugehörigen Metaphernfeldern in den Blick zu nehmen. Begriffe und Modelle wie Nichtlinearität, Netzwerk, Synchronizität, Enthierarchisierung, Horizontalität, Abweichung, Multiplizität, Doppelgängerschaft, Prozessuralität, ‚deep copy culture’, ‚re-enactment’ und Sampling ersetzen gängige Vorstellungen von Abhängigkeit und zeitlicher Abfolge / Chronologie von Original und Kopie und ermöglichen so einen Beschreibungsmodus der produktiven Leistungen von Reproduzierbarkeit als produktive Kulturtechniken und -kompetenzen. Anstatt die diachrone Perspektive zu präferieren, wird synchronen Modellen der Vorzug gegeben, bei denen die Differenzen zwischen Vorlage und Abschrift taxonomisch und nicht unter dem Präjudiz linear-evolutionärer Vorgänge begriffen werden.
Die Beiträge des vorliegenden Hefts zum Thema „Original und Kopie: Techniken und Ästhetiken der re-/produktiven Abweichung” verfolgen eine die Disziplinen übergreifende Perspektive, welche die Überschreitung der im engeren Sinne geistes- und kulturwissenschaftlichen Fachgrenzen nicht scheut. Aus diesem Grund werden neben kulturwissenschaftlichen Modellbildungen (der Medien-, Kunst-, Tanz- und Literaturwissenschaft) auch solche aus den Naturwissenschaften (Kopierprozesse der Genome in der Molekularbiologie) und den Rechtswissenschaften (geistiges Eigentum, Urheberrecht, Plagiat, Fälschung) einbezogen. Vertreten sind Spezialistinnen und Spezialisten, die aus ihrer jeweiligen Fachperspektive, aber stets auch in interdisziplinärer Vernetzung über Kopien als produktive Vervielfältigungsmodi reflektieren und neue Ansätze zur Konzeptualisierung sowie zu den Techniken und Ästhetiken produktiver Abweichung diskutieren.
Der erste Beitrag stammt vom Linguisten und Medientheoretiker Ludwig Jäger (Köln/Aachen). Unter dem Titel „‚Aura’ und ‚Widerhall’. Zwei Leben des ‚Originals’ – Anmerkungen zu Benjamins Konzeptionen des Originalen” diskutiert dieser zwei Aufsätze Walter Benjamins, die mit Blick auf die jüngere Original/Kopie-Debatte von großer Bedeutung sind. Benjamin hat in seinem ‚Übersetzer’-Aufsatz von 1923 und in seinem ‚Kunstwerk’-Aufsatz von 1939 zwei Begriffe eingeführt, die von hoher transkriptionstheoretischer Relevanz sind und die dort beide jeweils im Zentrum der Argumentation stehen: ‚Aura’ und ‚Widerhall’. Unter je spezifischer Perspektive fokussiert Benjamin anhand dieser Begriffe ein grundlegendes kunst- und medientheoretisches Problem – das Problem des Verhältnisses von ‚Original’ und ‚Fortleben’ des Originals, wobei Fortleben einmal als Übersetzung und zum anderen als technische Reproduktion verhandelt wird. Transkriptionstheoretische Überlegungen im Ausgang von diesen in Benjamins Werk zentralen theoretischen Begriffen erlauben es, das Verhältnis von ,Original’ und ,Kopie’ neu in den Blick zu nehmen.
Im Anschluss an Ludwig Jägers medientheoretische Überlegungen zu Transkriptionsprozessen untersucht der Beitrag „Ekphrasis als intermediale Transkriptionstechnik” historisch unterschiedlich zu verortende literarische und kunstkritische Ekphrasen bekannter Kunstwerke sowie die von ihnen angestoßenen Rezeptionsketten. Gabriele Rippl (Bern, Anglistik / Amerikanistik) fragt, welche Rolle intermedialen, transhistorischen und transkulturellen ekphrastischen Transkriptionen heute zukommt: Zerspielen sie als Rekursionsschleifen vom Bild zum Wort, vom Wort zum Wort, vom Wort zum Bild den Status des Originals und lassen nur Kopien zurück oder kommt es zu Reauratisierungsvorgängen, die der Sehnsucht nach ,Originalen’ Ausdruck verleihen und bestimmte Kunstwerke zu global icons machen? Die Diskussion dieser Frage dient dazu, ‚Ästhetiken des Sekundären’ mit Hilfe nicht-linearer, enthierarchisierter Netzwerkmodelle zu fassen und damit das Verhältnis von ,Original’ und ,Kopie’ anhand einiger Beispiele (und mit historischem Blick) neu zu beschreiben und zu bewerten. Im Sinne eines Funktionsmodells kann die kulturelle Arbeit von Ekphrasis, einer intermedialen Praxis der produktiven Iteration und Bezugnahme, als komplexes Mittel der kontextabhängigen Bedeutungserschließung und Vergegenwärtigung neu bestimmt werden.
Der Aufsatz der Berner Kunstwissenschaftlerin Christine Göttler mit dem Titel „Die Fruchtbarkeit der Bilder: Kopieren um 1600” untersucht die zunehmend zentrale Bedeutung der frühneuzeitlichen künstlerischen Praxis des Nachahmens, Kopierens, Reproduzierens und Fälschens anderer Werke. An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entwickelte sich ein neues Gespür für die Fragilität der materiellen Kultur; es entstand eine neue Wertschätzung gegenüber Bildern und Objekten, welche die umfassenden Zerstörungen des reformatorischen Ikonoklasmus (und der fortdauernden Kriege) überlebt hatten. Diese äußerte sich sowohl im Ort, der diesen Werken in den neu entstehenden Sammlungen zugewiesen wurde, als auch in den zahlreichen ‚Kopien’, Übertragungen und Überarbeitungen, die ihnen zuteil wurde. Die neuen, nachkommenden Bilder orientierten sich einerseits an der kompositorischen Struktur und ikonographischen Formel, andererseits an der künstlerischen Eigenart und Technik der alten Bilder, die manchmal auch in ein anderes Medium und Material übersetzt wurden. Solche medialen und materiellen Transformationsprozesse stehen im Zentrum dieses Beitrags, der am Beispiel der Rezeption von Dürers 1505 datierter Feder- und Pinselzeichnung des Großen Kalvarienbergs das Fortleben von mit affektiven Werten verknüpften Bilder in der einzelnen oder seriellen Kopie untersucht. Die Verwendung anderer Medien, Materialien und Techniken entspricht, so wird hier als These formuliert, einer Reformierung, Aktualisierung und Intensivierung künstlerischer Prozesse. Im Kontext eines neu entstehenden Kunstmarkts und einer sich dynamisierenden Sammlungskultur werden die Wirkungen und Werte künstlerischer Medien, Materialien und Techniken neu verhandelt.
Der Beitrag der Berner Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner mit dem Titel „Bewegte Referenzen. Bei-/Spiele re-/produktiver Abweichung im Tanz” geht von der Feststellung aus, dass sich die Frage nach dem ‚originären Werk’ in der Tanzgeschichte nicht in derselben Weise wie in anderen Künsten stellt. Mit seiner oralen oder physischen Überlieferungstradition pflegt der Tanz und insbesondere das Ballett ein eigenes Verhältnis zu Reproduktionen und Fortschreibungshistorien. Die Aufführungen von Tschaikowskys Schwanensee beispielsweise sind ohne eigentliches ‚Original’ oder besser gesagt, sie stehen mit vielen Original-Versionen in einem komplexen Referenzsystem. In Thurners Beitrag werden dynamische Fortschreibungsgeschichten im Tanz exemplarisch auf ihre referenziellen Prozesse hin untersucht. Insbesondere wird anhand von Re-/Produktionen von Strawinskys Tanzstück Le sacre du printemps gezeigt, wie diese die Bedingungen und Wirkungen von künstlerischer Reproduzierbarkeit (mit-)reflektieren und gerade auch mit Abweichungen spielen.
Der Beitrag des Berner Kunstwissenschaftlers Peter J. Schneemann trägt den Titel „Emanzipierte Rezeption: Kopie und Reproduktion als produktive Kulturtechnik der Mittelbarkeit” und geht von der Feststellung aus, dass die künstlerische Kopie nicht erst in der zeitgenössischen Kunst ein Verfahren der Aneignung und Umdeutung bietet. In der Fokussierung auf aktuelle künstlerische Strategien verfolgt der Aufsatz die These, dass die Kopie nicht nur Produktionsmodi verhandelt, sondern auch spezifische Paradigmen einer emanzipierten Rezeption. An der Schnittstelle von Reproduktion und Kopie, Zitat und Aneignung, Reenactment und Probe finden sich neue Wahrnehmungshaltungen und -handlungen ausdifferenziert. Das Potenzial dieser Ästhetik der Mittelbarkeit führt zu Fragen des Kulturtransfers und des interkulturellen Dialogs.
Der Berner Jurist Cyrill P. Rigamonti befasst sich in seinem Beitrag „Original und Kopie aus urheberrechtlicher Perspektive” mit der Unterscheidung von Original und Kopie im modernen Urheberrecht und untersucht insbesondere diejenigen gesetzlichen Regeln, die am Vorliegen eines Originalwerkexemplars anknüpfen. In diesem Zusammenhang geht er auch der Frage nach, ob und inwiefern das geltende Recht mit dem von Walter Benjamin geprägten Verständnis des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit vermittelbar ist. In der Bezugsetzung von Benjamins medientheoretischem Ansatz mit Aspekten der Rechtspraxis ergeben sich dabei überraschende Bezüge.
Der Beitrag des Berner Mediävisten Michael Stolz „On the Borderline of Disciplines – Concepts of Reproduction and Copying in Molecular Biology and in the Humanities” gibt ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Stolz und dem Molekularbiologen Christopher Howe von der Universität Cambridge wieder. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Frage nach dem Metapherngebrauch in der Beschreibungssprache molekularer Reproduktionsvorgänge: ‚Transkription’ (Umschrift) der DNA in RNA, ‚Translation’ (Übersetzung) der RNA in Proteine (Ribosome), ‚Replikation’ (Rückbiegung) der DNA in neue Stränge. Diese Metaphorizität wird im Horizont geistes- und naturwissenschaftlicher Konzepte diskutiert, die bisher kaum in Zusammenhängen gesehen wurden, aber eine mitunter überraschende Nähe aufweisen: Zur Sprache kommen Hans Blumenbergs metapherngeschichtlicher Ansatz von der ‚Lesbarkeit der Welt’, die in den Naturwissenschaften verbreitete Kautel „The price of metaphor is eternal vigilance”,3 Jean Claude Ameisens implikationsreiche These vom Zelltod als Gestaltungsprinzip des Lebens (‚La sculpture du vivant’) und die Annahme einer zirkulären Kausalität in der jüngeren Krebstherapie (u.a. bei Michael Hendrickson in Auseinandersetzung mit Erwin Schrödinger). In diesem Kontext tendieren die Naturwissenschaften im Gegensatz zu den sprachskeptischen Geisteswissenschaften dazu, Begriffen wie ‚Transkription’ und ‚Translation’ ein wörtliches Substrat vor jeder metaphorischen Bedeutung zuzugestehen. Eine solche Wörtlichkeit aber würde in Zusammenführung natur- und geisteswissenschaftlicher Perspektiven zu dem folgenreichen Schluss führen, dass sich Kommunikation als ein Prinzip des Lebens erweist.
Fußnoten
1 Dies zeigt sich an einschlägigen Publikationen, etwa den Bänden Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin (Beil / Herberichs / Sandl 2014); sowie The Aesthetics and Ethics of Copying (Hick / Schmücker 2016), Mashup. Lob der Kopie (Von Gehlen 2012 [2011]) und Mark Alfino für die anthropologische Perspektive: er spricht von der „deep copy culture” als jahrhundertealtes, der Evolution zuzuschreibendes kognitives und soziales Verhalten des Menschen (2016, S. 20-21). 2 Vgl. Fehrmann / Linz / Schumacher / Weingart 2004. 3 Zitiert u.a. bei Lewontin 2000, S. 4.