Florian Scherübl: Das Bild in der Stimme. Giorgio Agamben als Leser von Averroes

Abstract: Giorgio Agamben’s philosophy has contributed a great number of concepts to the Humanities. Terminology like homo sacer, state of exception and the like are frequently used in cultural studies. Agamben’s theoretical triangle of image, writing and voice is known to a far less extent. The following paper argues that this linkage provides an important foundation for Agamben´s philosophy and needs to be understood before the backdrop of intellect theory. In drawing notions from Averroes, the medieval Arabic commentator of Aristotle, Agamben develops a theory of intellect, which allows to establish a link between language and phantasm, i.e. word and image as different medial forms, connected by the human voice. This emphasis on the voice is meant to provide an alternative to the structuralist model of the linguistic sign. The paper seeks to explore Averroes´ traces in Agamben´s thought discussing possible consequences for cultural studies.

Keywords: Form of Life, Intentional Species, New Materialism, Italian Theory, Speculative Thought

Der mittelalterliche arabische Philosoph Ibn Rushd alias Averroes stellt eine wiederkehrende Referenz für das Denken Giorgio Agambens dar. In dem von Adam Kotsko und Carlo Salzani besorgten Kompendium Agamben´s philosophical Lineage taucht er nicht auf.1 Für Averroes’ Aufnahme hätte nicht wenig gesprochen. Forma di Vita, das Exposé des Homo-Sacer-Projektes ebenso wie dessen letzter Band L’uso dei corpi weisen dem Kordubenser keine geringere Rolle zu, als den Anfangspunkt des modernen politischen Denkens zu markieren.2 Vor diesem Zusammenhang scheint es nicht unerheblich, dass das Vorwort zu Emanuele Coccias bahnbrechender Averroes-Studie La Trasparenza dell´immagini. Averroé e l´Averroismo von Agamben stammt.3 Coccia legt darin eine der ausführlichsten Rekonstruktionen von Averroes´ Denken und seiner Rezeption seit dem 13. Jahrhundert vor. Erst kürzlich hat Agamben in dem persönlich gehaltenen Text Quel che ho visto, udito, appreso… von 2022 die Bedeutung des Averroes für seine eigene Philosophie klar zuerkannt:

Dall´andaluso Averroè ho appreso che l´intelleto è unico e che questo non significa che tutti pensano la stessa cosa, ma che, quando pensiamo il vero, allora la molteplicità delle opinioni si spegne e finalmente a pensare non sono piú io. E, tuttavia, »non piú io« significa non soltanto che io c´ero, ma che in qualche modo ancora ci sono, perché, dice l´andaluso, mi congiungo con l´unico non attraverso il pensiero – che è suo e non mi appartiene – ma attraverso i fantasmi e i desideri dell´immaginazione, che è soltanto mia. E questo è anche il senso dell´architettura araba: le immaginazioni dei singoli sono come le ceramiche variegate che incrostano le pareti della moschea o come gli schizzi di luce che, filtrando all´interno attraverso minuscoli spiragli, trascrivono un solo, complicato rabesco.4

Hier wird Averroes als Denker jenes einen, gemeinschaftlichen und geteilten Intellekts benannt, an dem die Einzelnen vermittels einer Konjunktion im Sinne der mittelalterlichen Philosophie teilhaben: durch eine Verbindung mit diesem Intellekt, die sie selbst im Denken aktiv herstellen. Diese Verbindung bedarf ihrerseits der Phantasie oder Imagination und sie verbindet, wie es genauer zu sehen gilt, den Einzelnen mit einer Gemeinschaft über die Praxis des Denkens.

Schon in Agambens ausführlichster Beschäftigung mit Averroes (1977 in Stanzen) zeichnet sich dessen Denken als Grundlage einer weiterführenden, von Agamben immer wieder aufgenommenen Konzeption ab: Das Bild, mit dem die Phantasie als Einbildungskraft arbeitet, verbindet sich im Sprechen des Einzelnen mit der Stimme; hierin greift es nicht nur die allgemein als Schrift und Grammatik niedergelegten Elemente der Sprache auf, sondern vermag sie gleichsam um weitere zu bereichern; darüber hinaus verbindet es sich im Akt des Sprechens mit einem Intellekt, an dem eine Vielheit oder multitudo von Denkenden teilhat.

Die Averroes-Lektüre instruiert so letztlich Agambens Konzept der Lebensform. Dieses ist nicht auf eine Variation von Heideggers Begriff des Daseins einzuschränken. Der averroistische Intellekt überschreitet das bei Heidegger noch zu solipsistisch gedachte Dasein hin auf die multitudo. Ausgehend von einem solchen Intellekt-Verständnis rücken für Agamben immer wieder zwei Probleme in den Fokus: 1.) Schrift und Schreiben: Der Intellekt wird schon von Aristoteles in De Anima mit einer Schreibtafel verglichen, auf der noch nichts geschrieben steht. Ausgehend von dieser Problematisierung der Schrift setzt Agamben dem kulturwissenschaftlichen Schrift-Paradigma, wie es im Zuge der Dekonstruktion an Bedeutung gewann, einen Begriff der Stimme entgegen. Während die Schrift auf die materielle, grammatische und kodifizierte Seite der Sprache konzentriert ist, eröffnet die Stimme einen Raum der Variation und der poetischen Produktivität, mithin der Sprachergänzung und Veränderung, die sich aus der Phantasie speist. Dies sehen schon averroistisch inspirierte Dichter und Sänger des dolce stil nuovo wie Guido Cavalcanti, bei deren Averroismus Agamben Anleihen macht. Dabei wird die Stimme zum Titel für sprachliche Bedeutungsproduktion überhaupt, die auf der Grundlage von Averroes’ Intellekt-Begriff eine kollektive, politische und lebensweltliche Dimension erhält. 2.) Mit seiner Differenzierung verschiedener Phasen des Intellekts und insbesondere derjenigen eines intellectus materialis unterhält der averroistische Intellekt ein besonderes Verhältnis zur Materie. Agambens Interesse für Averroes lässt sich daher auch als heimlicher und als solcher noch nicht gewürdigter Beitrag zu Debatten um einen New Materialism auffassen. Hierbei erweisen sich heutige Auffassungen einer aktiven Materie bereits vom arabischen Aristotelismus des Mittelalters vorweggenommen – wobei der Averroismus den Menschen als ausführenden Aktivator von Möglichkeiten in einen von der Materie vorkonfigurierten Möglichkeitsraum einzurücken erlaubt.

Averroes liest Aristoteles

Die Kommentare des arabischen Arztes Ibn Ruschd alias Averroes (1126–1198) gelten als Höhepunkt in der arabischen Auseinandersetzung mit dem Werk des Aristoteles, welche die mittelalterliche Philosophie bis in die Scholastik hinein geprägt hat. Die hierzu zählenden Kommentare wie jene des Alfarabi (870–950) und Avicenna (980–1037) sind ihrerseits informiert von den antiken Kommentatoren Alexander von Aphrodisias und Themistios. Anders als seine arabischen Vorläufer ist es Averroes, der dabei am deutlichsten eine eigene Philosophie und Schülerschaft ausgebildet hat.5 Die Rede vom Averroismus, der mittelalterliche Denker wie Siger von Brabant oder Dichter und Intellektuelle wie Guido Cavalcanti und Dante beeinflusste, ist philosophiegeschichtlich etabliert6 Der später zum zentralen Streitpunkt und Skandal avancierte Kern der averroistischen Philosophie – wenn man denn von ihr als einer sprechen mag und sie nicht vielmehr als Denkbewegung begreift – besteht sicher in der Lehre von den Intellekten.7 Diese wird an verschiedenen Stellen bei Averroes entfaltet, so etwa in den kleineren Texten, die als die drei Abhandlungen über die Konjunktion bekannt geworden sind8; der zentrale Text, auf den die Forschung immer wieder zurückkommt, ist hier aber der große Kommentar zu Aristoteles’ De Anima.9 Jahrhundertelang war Averroes dafür als der Philosoph verschrien, der eine Theorie des einen, für alle Menschen ungeteilten Intellekts vertreten habe, einen oft polemisch so genannten Monopsychismus. Demzufolge gäbe es nur einen, mit dem einzelnen Menschen unvermischten und von außen hinzutretenden Intellekt, der unzerstörbar und ewig sei.10 Thomas von Aquins Streitschrift De unitate intellectus contra Averroistas von 1270 bereitete den Weg zur Ächtung der averroistischen Philosophie durch die Scholastik, indem sie dieses Denken verwarf. Ein ungeteilter Intellekt? Das stellt offensichtlich eine Leugnung der Ewigkeit und Unzerstörbarkeit der Einzelseele dar, erwies sich daher neben anderen Aspekten des averroistischen Denkens als unannehmbar für die kirchlichen Autoritäten und die sie legitimierende Philosophie.

Averroes’ Lehre von den Intellekten gestaltet sich indes weit komplexer. So sprechen die lateinischen Kommentatoren des Aristoteles zunächst nicht einfach von dem Intellekt. Im großen Kommentar des Averroes zu De Anima ist unter anderem von intellectus speculativus, intellectus agens, intellectus seperatus, intellectus possibilis, intellectus materialis die Rede. Überhaupt scheinen uns bei den Aristoteles-Kommentatoren des Mittelalters eine Vielzahl von Intellekten zu begegnen, die sich oft durch die schwierige Überlieferung mittels verschiedener Übersetzungen ergeben.11 Seit Alfarabi geht die arabische Linie der Aristoteles-Kommentatoren von wenigstens vier Intellekten aus. Die diversen Intellekte sind dabei als »verschiedene Grade der Aktualisierung des menschlichen Intellekts« aufzufassen.12 Indes handelt es sich stets um ein- und denselben Intellekt in verschiedenen Phasen. Erhält der Intellekt gemäß seinem Tun und Lassen verschiedene Bezeichnungen, besteht der kritische Punkt des Averroismus im Verhältnis zwischen intellectus agens und intellectus materialis, zwischen aktivem/tätigem Intellekt und materialem/möglichem Intellekt.13

Die Weichenstellung findet schon bei den antiken Kommentatoren Alexander und Themistios statt. Materialer und möglicher Intellekt können miteinander identifiziert werden, da Aristoteles in De Anima die These vertritt, der materiale Intellekt sei alles Denkbare oder Denkmögliche, er könne alle Formen der Natur aufnehmen. Der Intellekt sei die Form aller Formen.14 Daraus folgert Alexander, dass es sich um einen Intellekt handeln müsse, der reine Potenzialität sei, da etwas, das alle Formen aufzunehmen fähig sei, selbst keine bestimmte Form besitzen könne. Während Alexander den materialen Intellekt noch als Fähigkeit der Einzelseele (psyché) disponiert, geht Themistios einen Schritt weiter und behauptet die Abgetrenntheit des materialen Intellekts, der von außen hinzutrete und sich nicht mit dem zerstörbaren, sterblichen Körper des Einzelnen vermische. Denn nur etwas Körperloses, folglich Unsterbliches könne auch reine Form sein, die alle Formen aufzunehmen vermag. Holger Winkelmann-Liebert, dessen Darstellung der beiden Kommentatoren ich in diesem Absatz folge, konstatiert bei Averroes von den drei Abhandlungen über die Konjunktion bis zum großen De-Anima-Kommentar eine Bewegung von der Position Alexanders hin zu jener des Themistios.15 Averroes wird zum Parteigänger eines vom Einzelnen abtrennbaren, unsterblichen Intellekts, an dem die Einzelnen temporär teilhaben, wenn sie denken.

Wie äußert sich diese Positionsänderung in Averroes´ großem Kommentar zu De Anima? Averroes beharrt mit Themistios darauf, dass der materiale Intellekt immer ein Intellekt ist, der seine Möglichkeit, alles zu sein, durch seine reine Passivität besitzt.16 In dieser rein kontemplativen Phase vermag er die Form von allem Möglichen anzunehmen.

Nun besitzen allerdings die vom materialen Intellekt aufgenommenen Gegenstände durchaus bereits eine Form. In der aristotelischen Tradition ist der Übergang von der Wahrnehmung zum Erkennen einer von der Materie zur Form. Die Wahrnehmung nimmt die Materie als Bilder auf, wobei deren Form vom Intellekt aus der Materie extrahiert wird, der auf diese Weise die intelligiblen Formen herstellt. Diese Extraktion der Formen, die in der aristotelischen Tradition, etwa auch bei Averroes´ Vorgänger Alfarabi dem Prozess der Digestion nachmodelliert ist, wird vom tätigen oder aktiven Intellekt (intellectus agens) aktiv betrieben.17 Um Formen auf Wahrnehmungen anwendbar zu machen, ist zudem ein phantastisches Vermögen vonnöten, das die Verbindung der Form mit dem Sinneseindruck vermittels der im Einzelnen gespeicherten Phantasmen ermöglicht. Die Wahrheit intelligibler Formen wird nur durch die Korrespondenz mit Bildern aus der Phantasie erreicht.18 Das einzelne wahrgenommene Sinnesbild wird mittels der vom tätigen Intellekt gebrauchten Form identifiziert; die Korrespondenz von intelligibler Form und singulärem Gegenstand wird sichergestellt, indem diese Form mit den bekannten Phantasiebildern auf Ähnlichkeit mit dem besonderen Eindruck abgeglichen wird. Hierfür stellt der materiale Intellekt ein Reservoir bereit, welches das Intelligible empfängt und in denen die einmal aus der Welt extrahierten Formen gespeichert werden, derer sich ein aktiver Intellekt denkend und mithilfe der Phantasie bedienen kann. Wie schon Ernst Bloch gesehen hat, wird die bereits bei Aristoteles mit dem Möglichen verbundene Materie somit bei Averroes auch zum Schoß von Möglichkeiten, die nicht einfach als Aktualisierung eines inaktuellen, mentalen Modells anzusehen sind. Anders als bei Kant, wenn er auf dem Unterschied zwischen 50 möglichen und 50 wirklichen Talern besteht, aber je schon den Begriff von 50 Talern voraussetzt, ist jenes Mögliche, das aus den Formen der Welt extrahiert wird, weder schon als Begriff besessen noch ein diesem gegenüber vollkommen formlos Unbestimmtes. Das Mögliche findet daran seine Grenze, was sich aus einer konkreten Materiekonfiguration verwirklichen lässt und wozu diese Denkanlass sein kann. Für Bloch impliziert der mögliche Intellekt, den die arabische Tradition nach Avicenna auszubilden beginnt, daher auch eine Aktivität der Materie: denn das Mögliche wird von den Menschen nicht frei erfunden, sondern lediglich aus der jeweils schon vorausliegenden Konfiguriertheit der Materie entfaltet.19 Der materiale Intellekt stellt dabei selbst ein seinerseits materiales Reservoir aufgenommener, fortentwickelter, kultivierter Formen bereit, die ursprünglich aus der Natur stammen.

Was hier außerdem noch von einer Aktivität der Materie sprechen lässt, ist, dass dieses Verhältnis, demzufolge sich der aktive Intellekt den im potenziellen und materialen Intellekt gespeicherten Formen aktualisierend bedient, nicht als bewusste Aktion vorgestellt werden darf. Aristoteles vergleicht die Relation in De Anima selbst mit dem Verhältnis zwischen dem Licht, das die Farben erzeugt und der Luft als durchscheinendem (diaphanem) Medium: »Et quemaddmodum lux facit colorem in potentia esse in actu ita quod possit movere diaffonum, ita intellectus agens facit intentiones in potentia intellectuas in actu ita recipit eas intellectus materialis.«20 Das »Licht der Dinge« geht vom tätigen intellectus agens aus, der sich auf den rezeptiven intellectus materialis stützt. Die Lichtmetapher des Aristoteles wird schon von Averroes´ Vorläufer Alfarabi gebraucht und tradiert sich dann bei den arabischen Kommentatoren, wobei Averroes-Exegeten wie Herbert A. Davidson keine genauere Bestimmung der Lichtquelle durch Averroes erkennen können.21 Dass auf die Lichtquelle selbst so wenig Licht geworfen wird, veranlasst Coccia etwa dazu, von einem »Licht […] außerhalb unserer selbst« zu sprechen, wobei die Formen, die gespeichert und aktualisiert werden, selbst nichts anderes sind als mittels der Einbildungskraft erinnerte, die aus der bisherigen »Entzündungen« des Intellekts an den singulären und akzidentiellen Dingen der Welt stammen, vom aktiven Intellekt extrahierte Bilder.22

Der intellectus materialis, der alles Mögliche werden kann, indem er alle möglichen Formen aufzunehmen vermag, fungiert als Speicher dieser bildhaften Formen; der intellectus agens realisiert sie beim Erkennen. Dieses Verhältnis erscheint übermäßig komplex. Abgesehen davon, dass es der hylemorphistischen Tradition im Aristotelismus Rechenschaft trägt, erhält es bei Averroes seinen weiteren Sinn dadurch, dass der aktive Intellekt individuell ist, während der materiale Intellekt als kollektiv bestimmt wird. Das Denken, dass sich aktiv der intelligiblen Formen bedient, ist das meinige; diese Formen, mittels derer etwas gedacht werden kann, sind selbst allerdings nicht auf mich beschränkt. Der aktive Intellekt kann vor diesem Hintergrund als Denken begriffen werden, das im Einzelnen in den Akt übergeht und aufhört, wenn der Einzelne nicht mehr ist. Der materiale Intellekt ist demgegenüber die Schreibfläche, in der die vom menschlichen Denken individuierten Formen sich über das Leben der Einzelnen hinweg bewahren, von anderen und späteren neu aktiviert werden können. Die Intelligibilia sind »unvergänglich unter dem Gesichtspunkt des materiellen Intellekts und vergänglich in Bezug auf jedes einzelne Individuum«.23 Dieser Intellekt, der die Formen bewahrt, ist unsterblich und vom Einzelnen abtrennbar – er stellt als zweite Natur, der ihrerseits ganz wie der Materie eine Entwicklungsoffenheit inhäriert, das Formen- als Wissensreservoir einer Kultur und in letzter Konsequenz der ganzen Menschheit dar. So lässt sich in Averroes´ materialem Intellekt auch eine implizite Medientheorie ausmachen.24 Der materiale Intellekt scheint jedenfalls selbst, als universal menschlicher, einer Graphie oder Schrift im weitesten Sinne zu bedürfen.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die berühmte Passage aus De Anima, in welcher Aristoteles den nous oder intellectus (in der deutschen Übersetzung: meist Geist, zuweilen auch Vernunft) mit einer Wachstafel vergleicht, auf der noch gar nichts geschrieben steht, eine konkrete Bedeutung. Eine deutsche Übersetzung gibt die betreffende Passage (429 a bis 430 a) aus De Anima folgendermaßen wieder:

»dass der Geist der Möglichkeit nach auf irgendeine Art und Weise die denkbaren Dinge ist, der Verwirklichung nach aber keines, bevor er sie denkt; »der Möglichkeit nach« meint wie auf einer Schreibtafel, auf der in Wirklichkeit noch nichts geschrieben ist.«25

Die berühmte leere Schreibtafel des Aristoteles ist nicht einfach ein Intellekt als subjektives Vermögen. In der von Averroes´ kommentierten lateinischen Passage aus Aristoteles´ Abhandlung lesen wir: »Quamadmodum enim tabula nullam picturam habet in actu neque in potential propinqua actui, ita in intellectu materiali non est aliqua formarum intellectarum quas recipit, neque in actu neque in potential propinqua actui.«26 Wie aus der Wortwahl (intellectu materiali) deutlich wird, hat Averroes, wenn er auf den Vergleich mit der Schreibtafel zurückkommt, den materialen/möglichen Intellekt im Sinn. Er ist es, welcher »der Möglichkeit nach«, wie es bei Aristoteles heißt, alles werden kann und genau in dieser passiven Rezeptivität jeglicher Form der Schreibtafel gleiche, die alles Erdenkliche aufzunehmen fähig ist, ein Reservoir der Formen darstellt.27

Wenn nun aber die Phantasie zwischen dem im Einzelnen zum intelellectus agens werdenden und dem allen gemeinsam zur Verfügung stehenden intellectus materialis vermittelnd einspringt, indem sie die Formen beim Erkennen zu aktivieren hilft, so ist sie es, die den Einzelnen mit dem kollektiven Intellekt zusammenschließt: »Die Vernunft ist auf sie angewiesen, da nur durch ihre Phantasmen die reine Transparenz des Intellekts zu einem Denken von etwas werden kann.«28 Diese Funktion mag auf den ersten Blick an die vermittelnde Rolle erinnern, welche die Einbildungskraft bei Immanuel Kant spielt, indem sie im Schematismus der reinen Vernunft zwischen begrifflichem Inhalt und Anschauung einspringt. Allerdings instauriert die averroistische Philosophie gerade kein transzendentales Subjekt, dessen »Ich denke« jede intellektuelle Handlung begleiten soll. Averroes konzipiert mit seinem geteilten Intellekt vielmehr einen unpersönlichen Raum des Denkens, in dem das eigene Denken (intellectus agens) nicht ohne ein kollektiver Formenreservoir (intellectus materialis) möglich ist. So kann Roberto Esposito Averroes als Ersten innerhalb einer Reihe von Denkern positionieren, die das Dispositiv der Person attackiert hätten, welches die okzidentale Philosophie-Tradition spätestens ab Descartes explizit ausgebildet hat.29 Der materiale Intellekt lässt sich in diesem Rahmen als Raum des Denkmöglichen verstehen, in dem nicht einer allein denkt, sondern alle denken können. Wobei sie dies nur durch das Zurückgreifen auf das Tun und Denken anderer vermögen: – »e finalmente a pensare non sono piú io«.30

Agamben liest Averroes

Es ist die zuletzt genannte Verbindung von Phantasie und Intellekt, an der Agambens systematischste Lektüre von Averroes ansetzen wird. Sie findet sich im zweiten Abschnitt der Abhandlung Das Wort und das Phantasma. Die Studie, die sich dem Zusammenhang von Sprache, Bild und Phantasie im mittelalterlichen Denken widmet, wird erstmals 1977 in der Aufsatzsammlung Stanzen veröffentlicht. Darin rekonstruiert Agamben die Verflechtung von Wort und Phantasma als wiederkehrende Konfiguration des mittelalterlichen Denkens. Sie ruht für ihn einer bestimmten Praxis des Kommentars auf. Im zweiten Abschnitt der Abhandlung, Eros im Spiegel, wird diese Praxis erörtert. Ausgangspunkt ist ein bestimmtes Zitat-Verständnis, das der mittelalterlichen Philosophie bescheinigt wird:

für das Mittelalter gibt es keine Möglichkeit, einen Text im neuzeitlichen Sinne des Wortes zu zitieren, weil das Werk des auctor auch sein Zitat einschließt. Man könnte daher sagen, so paradox dies auch klingen mag, daß die mittelalterlichen Texte als Zitate in den antiqui auctores enthalten sind (was unter anderem die Vorliebe des Mittelalters für die Glosse als literarische Form erklärt)«31

Die Glosse stellt eine Form des Kommentars dar, der nicht selten interlinear ausfällt, also zwischen den Zeilen eines Prätextes eingetragen wird. Kommentar und Kommentiertes verschmelzen auf diese Weise auf den Seiten eines Codex. Diese Zitatpraxis wird im Laufe der Abhandlung auch der musikalischen Variation über ein Ausgangsthema verglichen (134). Die Variation dient dabei als Beispiel dafür, die Praxis der arabischen Aristoteles-Kommentatoren näher zu charakterisieren, welche die Werke dieses Philosophen glossieren. Das Vorgehen des mittelalterlichen Denkens »bearbeitet ein gegebenes Thema, das es durch kleine Abweichungen reproduziert und umstellt, was bisweilen zu einer völligen Umbildung des Ausgangsmaterials führen kann« (123). Die zur Variation über ein Thema neigende Zitatpraxis der mittelalterlichen Philosophie ist so nicht einfach Kommentierung eines feststehenden Inhalts. Die Praxis des Kommentators schafft den Sinn des Originals ständig neu.32 Sie führt durch ihre Re-Lektüre die angelegten Verständnispotenziale aus, aus denen sich die »Entwicklungsoffenheit« einer Philosophie ergibt; ein Begriff, den Agamben Ludwig Feuerbach entlehnt.33

So pauschal Agambens Argument über das Mittelalter daherkommen mag: Es wird darin eine Idee von Autorschaft entfaltet, der sich Agambens Text und damit die von ihm vollzogene Averroes-Auslegung performativ anzuschließen scheint. Das Wort und das Phantasma beginnt selbst mit einem Zitat aus Platons Philebos. Dabei soll der Platon-Rekurs zunächst erklärtermaßen der Einschränkung jener bekannten These dienen, dass das Mittelalter diesen schlecht bis nicht gekannt habe.34 An der Passage 39 a des platonischen Dialogs wird gerade die von Sokrates vorgetragene Erinnerungslehre hervorgehoben. Sokrates spricht hier davon, dass die »mit den Sinneswahrnehmungen verschmelzende Erinnerung und die dabei sich abspielenden inneren Vorgänge (pathémata) […] gewissermaßen Reden in unsere Seele zu schreiben« scheinen (123). Zur gleichen Zeit trete aber neben dem Schreiber noch ein anderer »Werkmann« im Menschen auf: »Ein Maler, der nach dem Schreibkünstler die Bilder jener Gespräche in die Seele einzeichnet« (123).

Was bedeutet diese Engführung Platons mit dem mittelalterlichen, doch weit stärker aristotelisch geprägten Denken? Erstens erweitert Agamben damit das aristotelische Bild vom Intellekt als Schreibtafel auf einen Aristoteles´ bekannten Prä-Text hin. Zweitens plausibilisiert diese Erweiterung ansatzweise die von Agamben vertretene Grundannahme, dass es sich beim Verhältnis von Bild und Phantasma um ein tradiertes Problem handelt (oder ein wiederaufgenommenes Thema gemäß der Logik des mittelalterlichen Kommentars). Drittens scheint sich dieses Thema sodann bereits bei Aristoteles, der im Mittelalter auch als »Schreiber der Natur« bekannt war35, als Variation zu erweisen. Viertens kommt bei der zitierten Platon-Passage auch das Bild zu Wort, wodurch auf eine Insuffizienz jeder philosophisch-psychologischen Beanspruchung der berühmten Schreibtafel-Metapher des Aristoteles hingewiesen wird. Wird der Geist in De Anima einer Schreibtafel verglichen, auf der noch gar nichts geschrieben stehe, so ist nicht nur auf einer Idee des Geistes als Ort der Schrift, sondern auch des Bildes zu bestehen.36 Agamben liest das von Sokrates eingeführte Bild des Malers dabei als Allegorie auf die Phantasie.37 Schon in Platons Theaitetos würde das menschliche Gedächtnis mit einer wächsernen Tafel verglichen, auf der sich Abdrücke dessen bildeten, was darin behalten wird. Aristoteles habe die platonische Metaphorik schließlich in eine geschlossene psychologische Theorie überführt, die wiederum seine mittelalterlichen Kommentatoren zu explizieren versuchen (126) – und in deren Auslegung, wie man hinzufügen darf, die Schriftmetaphorik bisweilen Überhand zu nehmen scheint.

Gegenüber dem Behalten der Worte als Schrift im Gedächtnis ist die Phantasie hingegen notwendig, um eine Vorstellung zu haben, welche für die Arbeit der Erinnerung noch grundlegender ist und dem Wiedererkennen überhaupt bildhafte Modelle liefert. So erscheint die Phantasie auch bei Agambens Averroes als Bindeglied zwischen den singulären Bildern der Sinneswahrnehmung und den eingebildeten Vorstellungsinhalten (128). Phantasma und Einbildungskraft sind dementsprechend für die aristotelische Psychologie zentral, insofern die Phantasie eine Kraft darstellt, aus der sich Verstand, Empfindung, Traum und Sehergabe, Gedächtnis wie auch Sprachvermögen speisen (129). Mit diesem letzten Punkt ist bereits ein Verbindungsweg zum Sprachdenken angezeigt.

Die arabische Aristoteles-Auslegung des Mittelalters, wie Agamben sie als Variationen erzeugende Kommentarpraxis rekonstruiert, erarbeitet in Verbindung mit den Phantasmen ihre Lehre der Vorstellungsbilder (intentiones). Spätestens mit Avicenna greift sie hierfür zusätzlich auf das Wissen der mittelalterlichen Medizin zurück. Neben dem Hinzukommen einer Theorie des im männlichen Samen vorkommenden Pneuma, das eine gesteigerte Rezeptivität gewährleisten soll, lokalisiert der arabische Arzt und Philosoph Avicenna die Phantasie im Menschen in einer von drei feuchten Höhlen, welche er im Kopf annimmt. Die Phantasie ist dabei zunächst für die intentiones, die erinnerten Bilder von singulären Dingen, zuständig. Avicenna unterscheidet fünf aufsteigend geordnete Kräfte: die Phantasie oder den Gemeinsinn, welche die Formen der Sinne empfängt; die Imagination, welche sie festhält; die in Bezug auf das Leben vorstellende und auf die Seele denkende Kraft; die beurteilende Kraft; sowie Gedächtnis und Erinnerung (132). Im aufsteigenden Durchgang durch sie werde das aufgenommene und von der Phantasie bearbeitete Wahrnehmungsbild entblößt, d.i. von seinen stofflichen Akzidenzien entledigt. Das Auge, welches zuvor die Sinneneindrücke erfährt, kommt dabei der Funktion nach einem Spiegel gleich, der das nur Zufällige von der notwendigen Form abstreift und so den Übergang vom Akzidentellen zum Wesen vollzieht.38

Hier liegt offenbar eine ganze Erkenntnistheorie im Zeichen des Bildes vor. Sie sei u.a. durch die Kritik Thomas von Aquins an Averroes, dem letzten und einflussreichsten in dieser Reihe arabischer Denker, verloren gegangen. Mit Averroes gelte es hingegen zu sehen,

daß das Bild für einen arabischen Autor sehr wohl der Ort werden kann, an dem sich der Schauende mit dem Geschauten vereint. Denn wenn aus der Sicht des Mittelalters der Spiegel der Ort schlechthin war, wo oculus videt se ipsum und wo ein und dieselbe Person zugleich Sehendes und Gesehenes ist, symbolisiert andererseits die Vereinigung mit dem eigenen Bild in seinem vollkommen blanken Spiegel häufig die Vereinigung mit dem Übersinnlichen – einer mystischen Theorie zufolge, welche die arabischen Autoren nachhaltig beeinflußt hat, aber auch der christlichen Tradition des Mittelalters wohlvertraut ist. (143)

Diese mystische Theorie des Bildes wird in Stanzen mehr aufgerufen als erörtert. Dass sich eine Theorie der Bilder oder intentionalen Spezies bei Averroes finden lässt, bestätigt auch Emmanuele Coccia, der den arabischen Philosophen in seinem Buch Sinnenleben für ihre Rehabilitation ständig bemüht.39 Dieselbe intentionale Spezies behandelt Agambens Aufsatz Das »spezielle« Sein. 2005 in der Sammlung Profanierungen erschienen, widmet sich dieser kurze Text just der Rolle des Spiegels und der spekulativen Erkenntnis im Mittelalter, deren Grundzüge schon in Avicennas medizinischem Diskurs vorgezeichnet liegen.40 Das Vorstellungsbild oder das Phänomen einer Dingerscheinung wird als Spezies gedacht. Spezies aber sind, wo sie in Subjekten vorkommen, Intentiones (der von Coccia gebrauchte Begriff der intentionalen Spezies lässt beide zusammenfallen). Beide Male handelt es sich um intelligible Formen, die jeweils nur in den unterschiedlichen Medien der Wahrnehmung oder der Fantasie anzusiedeln sind.41 Die Spekulation geht von wahrgenommenen Spezies-Bildern aus, die nichts anderes als die Beliebigkeit, die Quodlibetalität oder das So-Sein einer bestimmten Erscheinung ausmachen.42 Sie sind nicht die Universalien allgemeiner intelligibler Formen, sondern mit Akzidenzien behaftete Bilder, d.h. Ausdruck einer spezifischen ontologischen Differenz, extrahiert aus singulär Seiendem. Mittels der Phantasie nun, die diese Spezies-Bilder zu reproduzieren und zu verändern vermag, finden sie sich in den Einzelwesen zu Intentiones verdichtet, zu Bildern in Subjekten. Auf sie greift etwa auch das Wiedererkennen zurück, wie es im aktiven Intellekt unwillkürlich vollzogen wird. Die Vereinigung mit dem Übersinnlichen kann daher im Spiegel (lat. speculum) vollzogen werden – also buchstäblich spekulativ –, weil die intelligiblen Formen auf ihrer untersten Stufe nichts anderes sind als Extraktionsphänomene aus dem sinnlichen Sein der Dinge, die zu ihrer Wiedervergegenwärtigung der Phantasie bedürfen.43

[Bei Averroes wird] der gesamte Erkenntnisprozeß im buchstäblichen Sinne als Spekulation gedacht […], als Reflexion der Phantasmen von Spiegel zu Spiegel: Spiegel und Wasser sind die Augen und der Sinn, welche die Form des Gegenstandes reflektieren, Spekulation ist aber auch die Phantasie, die sich die Phantasmen bei Abwesenheit des Gegenstandes »einbildet«. Erkennen heißt, sich über einen Spiegel beugen, aus dem die Welt entgegenschlägt, ein Spähen nach Bildern, die zurückgeworfen werden von Widerschein zu Widerschein: und der mittelalterliche Mensch befindet sich immerzu vor einem Spiegel, ob er nun um sich blickt oder sich seiner Einbildung überläßt (136–137)

Aus den im materiellen Intellekt extrahierten Formen setzen sich auch die intelligiblen Formen zusammen, die der agentielle Intellekt wiederum mithilfe von Phantasmen auf neue Spezies richtet. Das Begehren nach Schönem ist der Antrieb dieser zirkulären Maschine, mittels derer der Intellekt in seinen verschiedenen Phasen das Gesehene sich zu eigen macht – und indem er es in Worte kleidet, wie die Dichter es tun, die Menschheit daran teilhaben lässt. Mit dem averroistischen Dichter Guido Cavalcante wird Agamben das Phantasma als »copula zwischen dem Individuum und dem einzigen möglichen Verstand [intellectus possibilis]« (141), dem materiellen Intellekt betrachten. Die Dichtung bildet so eine Brücke zwischen Phantasmen- bzw. Bildtheorie und Sprachdenken.

Begehren und Dichtung, Phantasma und Stimme

Unterwegs zur Sprache spielt ein Faktor ins Denken des Bildes hinein, den nach dem Mittelalter erst Jacques Lacan im 20. Jahrhundert wieder mit dem Spiegelbild zu verbinden wusste: das Begehren. Wenn Agamben es ihm gleichtut, dann lässt er seine Lektüre des Averroes nicht nur unter der Hand mit den psychoanalytischen Theorien des Phantasmas konkurrieren, die Ende des 1960er Jahre im Umkreis der Lacan-Schule aus dem Boden schießen44: Er folgt damit auch einem philosophisch beschlagenen Liebesdichter und Averroisten in der Tradition des dolce stil nuovo, Guido Cavalcante.45 Guidos Kanzone Donna me prega kleidet sich als Antwort auf die Frage einer der Frauen, die von den mittelalterlichen Liebesdichtern seit den provenzalischen Trobadors traditionell besungen werden. Auf ihre Nachfrage, was die Liebe sei, nennt Guidos komplexes und philosophisch explikatives Lied diese ein Akzidenz. In der zweiten Strophe werden dabei eine Reihe Motive aufgerufen, die von Averroes bzw. aus der in Stanzen entfalteten Verbindung aus arabischem Aristotelismus und Medizin bekannt sind: die Liebe erhebt sich vom Ort aus, wo Gedächtnis ist (»dove sta memora«), sie gewinnt Form ganz nach der Weise wie Averroes das Medium der Erkenntnis von Bildern beschreibt: als durchscheinendes Licht (»come/diaffan da lume«). Das Bild der Geliebten, ihre gesehene Form ist für Cavalcanti Gegenstand der Liebesdichtung des dolce stil nuvovo, der in der Tradition der erfinderischen Troubadour-Dichtung stehend, neue Formen und Worte für das Liebeserlebnis findet. Hier ist das Bild der Geliebten, ihre zur Intentio werdende Spezies zugleich Anreiz und Ausgangspunkt einer sprachgenerativen Bewegung: »Ven da veduta forma che s´intende,/che prende – nel possibile intelletto,/come in subietto, – loco e dimoranza.« Ort und Bleibe findet das Bild der Geliebten, einmal aufgenommen, im »possibile intelletto«. Über diesen aber drängt es zur Sprache – und provoziert die Gedichte des dolce stil nuovo, dessen Poetik Cavalcantis Kanzone metastufig auszusprechen wagt.

Guidos Einspeisung averroistischer Philosopheme in die Liebesdichtung dient Agamben allerdings zu weit mehr, als nur die Bedeutung der Phantasie im mittelalterlichen Denken des materialen Intellekts zu erweisen. »Das Erbe, das die Liebeslyrik des 13. Jahrhunderts der europäischen Kultur vermacht hat« liege nicht allein in der Liebeskonzeption; wichtiger sei »vielmehr der Nexus von Eros und poetischer Sprache« (206). Die Beliebigkeit sowie die Liebenswürdigkeit, die Agamben beide aus dem Begriff des quodlibetalen Wahrnehmungsbildes der Spezies herausliest46, wird in der Dichtung des Dolce Stil Nuovo, die von der Betrachtung der Geliebten ihren Ausgangspunkt nimmt, flagrant. Dieser Nexus erweist sich somit als einer zwischen Wort, Begehren und Phantasma: letzteres das als Intentio in subiecto begehrte Bild der Geliebten, für das die Dichter Worte zu finden haben.

Dabei ist genauer zu bestimmen, was poetische Sprache hier umfasst. Denn bei ihr handelt es sich nicht nur um die Sprache der Dichtung. Poetische Sprache ist  vom Begehren nach einem Bild aktiviert. In der Formen erfindenden Dichtung des Mittelalters wird daraus ein Begehren nach Sprache.47 Agamben hat bereits in seinem ersten Buch L´uomo senza contenuto (1971) eine Archäologie des griechischen Begriffs poiesis vorgelegt. Dessen ursprünglicher Sinn sei der modernen Ästhetik nach Baumgarten abhandengekommen. Kants Kritik der Urteilskraft und Hegels Vorlesungen über die Ästhetik gingen gerade von betrachtbaren, einem kontemplierenden Subjekt gegenüberstehenden musealisierten Werken aus. Einer solchen Ästhetik steht die Poetik gegenüber – in Form des ursprünglichen Sinnes von poiesis, der auf eine »Pro-Duktion in die Anwesenheit« verweist, bei der etwas »vom Nichtsein ins Sein« trete.48 Dies lässt sich als nicht nur rhetorische Verlebendigung von Vorstellungen durch die Sprache lesen. Es kann auch als sprachgenerativer Akt verstanden werden: als ein Begehren nach Sprache oder nach mehr Sprache. Man kann den Prototyp solcher poiesis somit auch – und Agamben scheint dies später zu tun – im adamitischen Akt der Benennung oder des Namen-Gebens vollzogen sehen.49 Ein Aspekt von poiesis besteht offenbar im Schaffen sprachlicher Zeichen unter dem Druck der intentionalen Spezies, Guidos »veduta forma«.

Theorie der Stimme und Kritik der Schrift

Die gesungenen und zur Musik gesetzten Lieder des dolce stil nuovo samt der Poetik Guidos, in welche die averroistische Erkenntnistheorie zur originären Schöpfung von Sprachmaterial drängt, stehen hinter Agambens gesamten Konzept der Stimme, das mit einer neuen, nicht platonischen Kritik der Schrift einhergeht. Dies deutet sich bereits in Stanzen an. Denn das dort explizierte und oben rekonstruierte Verhältnis von Phantasma und Laut wird von Agamben als Alternative zum Verhältnis von Signifikat und Signifikant in der Linguistik Ferdinand de Saussures empfohlen. Man könnte »den Zeichenbegriff (  , wobei s der Signifikant und S das Signifikat ist)« auch »in aristotelische Begriffe übersetzen, [wobei er sich] auf diese Weise abbilden ließe: ( , wobei l für ›Laut‹ und P für ›Phantasma‹ steht)« (199). Nun ist es eine bedeutungsschwere Änderung, statt von einem eng mit der Schrift verbundenem Signifikanten von einem Laut zu sprechen. Wie Jacques Derrida im Ausgang von Saussure gezeigt hat, besteht historisch dahingehend eine enge Beziehung zwischen Schrift und Signifikant, da erst die Schrift die Isolierung unterscheidbarer semiotischer Elemente erlaubt hat, die zum Ausgangspunkt linguistischer Systematisierungen der Sprache werden konnte, bis hin zu ihrer Kodifizierung in Grammatiken und ihrer Formalisierung in der Kommunikations- und Informationstheorie des 20. Jahrhunderts.50 Die Veränderung des Sausurre’schen Modells steht ganz im Dienst der Aufwertung einer Stimme, die poiesis betreibt.

Eine Theorie der Stimme versucht Agamben nach eigenen Aussagen bereits Ende der 1970er Jahre zu schreiben, also zeitlich in enger Nähe zu Das Wort und das Phantasma. Das Vorwort zur zweiten Auflage von Kindheit und Geschichte (Infanzia e storia, 1978 und 2001) weist diesen Text als Resultat eines ursprünglich geplanten Buches über die menschliche Stimme aus.51 Erst kürzlich und mit einer Verzögerung von 45 Jahren hat Agamben ein solches Buch tatsächlich vorgelegt.52 Wenn sich angesichts der Stimme eine durchhaltende Argumentationslinie herausschälen lässt, dann besteht sie in der Entgegensetzung der Stimme zu jeglicher Theorie der Sprache, welche letztere im 20. Jahrhundert auf Schrift und Grammatik, auf Code und Programm zu reduzieren bestrebt war.

Eine Reflexion dieses Gegensatzes begegnet erstmals 1969 in dem bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Aufsatz L´Albero dell´linguaggio.53 Der Text stellt Verbindungen von Noam Chomskys Idee einer generativen Grammatik zur barocken Vorstellung einer Idealsprache bei Leibniz her. Beide sollen aus einer reinen Kombinatorik von Elementen bestehen, welche eine eingeborene menschliche Rationalität als ihre Disposition voraussetzen. Das Tertium Comparationis liegt für Agamben darin, dass beide Male die Geburt der Linguistik als Wissenschaft mit dem Eintritt in einen semiologischen Horizont zusammenfällt (»la nascita della linguistica come scienza coincide con l´entrata definitiva e senza residui dell linguaggio in un orizzonte semiologico«).54 Man kann dies als Adaption einer zentralen Einsicht aus Derridas Grammatologie erblicken. Ein semiologischer Horizont fasst die Sprache als Ensemble kombinierbarer Elemente auf, welche grammatisch kodifiziert sind und interpretiert sie in dieser Hinsicht als Schrift im weiteren Sinne: als Ensemble diskret unterschiedener Elemente, die sich als solche schon als fixiert und somit als Schrift im weiten Sinne von Derridas Schriftbegriff auffassen lassen.55

Hinter dem Begriff des Semiologischen steht außerdem der Rekurs auf eine vom Linguisten Emile Benveniste 1955 vorgebrachte Unterscheidung. Benveniste differenziert zwischen Semiotischem und Semantischem der Sprache. Agamben übernimmt dieses Begriffspaar schon Ende der 1970er Jahre in Kindheit und Geschichte und von da an immer wieder, um den Unterschied zwischen den allgemeinen Strukturen der Sprache, welche im 20. Jahrhundert die Form einer Schrift und eines Codes anzunehmen beginnen und dem Sagen-Wollen als Akt der Spontaneität einzelner Sprechender zu beschreiben.56 Während das Semiotische das sprachliche Rohmaterial samt den gültigen Verknüpfungsregeln umfasst, die Lexik, Grammatik, Orthografie beschreiben und vorgeben (was sich als Bestand eines kodifizierten Schriftsystems ansprechen lässt), so steht all dem das Semantische als Kraft des Ausdrucks und der Motivierung des sprachlichen Rohmaterials gegenüber, die nur im konkreten Diskurs operativ werden kann. Geht es Agamben, wie er oft betont, um das factum loquendi oder die nackte Tatsache, dass gesprochen wird, so liegt stets diese Unterscheidung zugrunde.

Gegenstand von Agambens Kritik ist nun nicht so sehr Derrida, der das linguistische Primat der Schrift für die Konstitution einer grammatisch-semiologischen Sprachauffassung 1967 in seiner Grammatologie erstmals kritisch offengelegt hat. Es ist viel mehr Noam Chomskys Transformationsgrammatik. Sie erscheint als radikalste Ausformung der strukturalistischen Linguistik, wo sie eine abstrakte logische Maschine (eine »macchina logica«) in den Menschen hineinprojiziert.57 Dies sei nichts Geringeres als die Realisierung des Traums der Sprache einer rationalistischen Philosophie, welchen Agamben zu Leibniz´ Idee eines Sprachbaums historisch zurückdatiert. Geträumt werde von einem Ensemble kombinierbarer Elemente, die Kombinationsregeln unterliegen und der logischen Zusammensetzung der Welt entsprechen. Es ist dabei wohl nicht irrelevant, dass bei Leibniz der Intellekt als genauso angeboren behandelt wird, wie das Sprachvermögen in der Generativen Grammatik.58 In beiden Fällen wird ein Logos, der auch pragmatisch im Oszillationsverhältnis zwischen Denken und Welt gedacht werden könnte, zu einer menschlichen Universalie erklärt. Dem setzt Agamben 1968 schon die Etymologie des Logos entgegen, die »l´atto di raccogliere, di mantenere e portare qualcosa« umfasst59 – den Akt des Sammelns, des Behaltens und des Tragens von etwas. Es sind gerade diese Bedeutungen, die man auch im Begriff des averroistischen Intellekts eingetragen sehen kann. Das Inter-leggere intentionaler Spezies über den Intellekt erlaubt sprachgenerative Poiesis.60

Agambens politische Philosophie nimmt – auch – von diesem Sprachproblem ihren Ausgang, denn die Theorie der Stimme, die mit dem konkreten Austausch im Diskurs verbunden wird, verweist stets auf eine Gemeinschaft der Sprechenden.

Die Stimme hat sich nie in die Sprache eingeschrieben, und das Gramma – Derridas Denken hat es rechtzeitig gezeigt – ist nichts anderes als die Form der Voraussetzung seiner selbst und der Potenz. Der Raum zwischen Stimme und Logos ist ein leerer Raum, eine Grenze im Kantischen Sinne. Nur weil der Mensch in die Sprache geworfen ist, ohne von einer Stimme in sie eingeführt worden zu sein, nur weil er sich im experimentum linguae aufs Spiel setzt – ohne eine »Grammatik«, in dieser Leere und Aphonie –, werden für ihn so etwas wie ein éthos und eine Gemeinschaft möglich.61

Daraus, dass es eben keine angeborene Grammatik und keine abstrakte Sprachmaschine oder »macchina logica« im Menschen gibt, die über Elemente und Kombinationsregeln verfügt, entspringt die Notwendigkeit des Einzelnen, sich sprechend immer wieder auf andere hin zu überschreiten.

Man kann so ersehen, warum Agamben sich im Homo-sacer-Projekt permanent Einschübe zu Sprachphilosophie und Dichtung erlaubt. Die Theorie der Stimme, über Guido auf averroistischer Grundlage gewonnen, ist das Fundament eines Politikverständnisses, das sich dem engen Zusammenhang von Sprechen und Handeln verpflichtet weiß.

Forma-di-Vita und möglicher Intellekt

Die averroistische Beeinflussung von Agambens Denken lässt sich so noch an einem letzten Konzept ablesen: am Begriff der Lebensform. Schon das Exposé des Homo-sacer-Projekts Forma-di-Vita (1991) führt diesen Schlüsselbegriff im Titel.62 Agamben definiert die Lebensform dabei als ein Leben, »dem es in seiner Lebensweise um das Leben selbst geht«.63 Wie die Forschung nicht übersehen hat, ist diese Formulierung ein deutlicher Tribut an Heideggers Definition des Daseins.64 Allerdings ist Heideggers Dasein in Sein und Zeit von den Anderen, die als Mitdasein firmieren, terminologisch klar unterschieden. Im Exposé des Homo-sacer-Projekts und dann abermals in dessen letztem Teil L´uso dei corpi (2014) wird hingegen ein kollektives Moment der Lebensform hervorgekehrt. Hier behauptet sich der averroistische gegen den heideggerianischen Einfluss.

Das Lebensform-Exposé definiert das Denken als ein »Band, das die Lebensformen in einen unauflöslichen Zusammenhang setzt.«65 Hier klingt die mittelalterliche Konjunktion des Einzelnen mit dem kollektiven Intellekt im Prozess des Denkens via aktivem Intellekt an. Damit ist eine Distanz zu Heideggers Dasein ausgemacht, dem die anderen in Gerede und Diktatur des Man gegenüberstehen. Unter Rekurs auf die Passage De Anima 429 a – b des Aristoteles wird Denken als Akt begriffen »in jedem Gedachten die Erfahrung einer reinen Potenz des Denkens zu machen«66. Diese Erfahrung sei »immer Erfahrung einer gemeinsamen Potenz«.67 Diese gemeinsame Potenz spricht Agamben auch als »Intellektualität« an68 und erweist sie so als averroistische Erbschaft, die aber erneut komplexer vermittelt ist. Wie Agamben zu einer averroistisch inspirierten Theorie der Stimme über Guido gelangt, so zur Lebensform über Dante Alighieri.

In den philologischen Arbeiten von Maria Corti findet sich die averroistische Beeinflussung Dantes gut aufgearbeitet.69 Im dritten Abschnitt des ersten Buches von Dantes Monarchia findet sich ein überdeutlicher Rekurs auf die Intellekt-Theorie des Aristoteles, die unverhohlen Anleihen bei Averroes macht. Als äußerste Kraft des Menschen (vis ultima in homine) bezeichnet Dante dort »das erfassende Sein mittels des möglichen Intellekts« (esse apprehensivum per intellectum possibilem).70 Nun stellt der vermeintliche Monopsychismus Averroes´ nicht einfach eine Negation des Denkens des Einzelnen dar, sondern hebt diesen in einen gemeinschaftlichen Intellekt auf. Dies versteht schon Dante und setzt daher in De Monarchia eine Vielheit (multitudinem) an, in welcher sich der tätige Intellekt realisiere.

Und weil dieses Vermögen weder durch einen einzigen Menschen noch durch eine der oben unterschiedenen, besonderen Gemeinschaften auf einmal gänzlich verwirklicht werden kann, ist es notwendig, daß es in der menschlichen Gattung eine Vielheit gibt, durch welche dieses ganze Vermögen verwirklicht wird.71

Was seinen Rekurs auf die multitudo angeht, ruht Dantes Einsicht ganz ausdrücklich der Aristoteles-Deutung des arabischen Philosophen auf.72 »Dante hat Averroes dahin verstanden: Das Menschengeschlecht als Ganzes verwirklicht die Möglichkeiten, die in der möglichen Vernunft ruhen«.73 Das gilt auch für Agambens Lebensform, die immer schon eine Zusammenlebensform ist. Sie bezieht sich nicht allein auf das Denken als abstrahierenden Akt, den ein einziger Denker oder ein einziger Sprechender vollzieht. Dies wäre genau jene Sprachreflexion im 20. Jahrhundert, die – sei´s in Form generativer Grammatiken, sei´s in Gestalt davon inspirierter language genes – Sprachfähigkeit zu einer gattungsspezifischen anthropologischen Differenz erklärt. Ihr zufolge sondert sich der Mensch um den Preis von anderen Lebewesen ab, dass die Sprache ihm als biologische Disposition inhäriert. Das Lebensform-Exposé fasst seinen zentralen Begriff dagegen als »Innigkeit dieses unteilbaren Lebens« auf, das bereits »in der Materialität der körperliche Vorgänge und der gewohnten Lebensweisen« stecke: »nicht weniger als in der Theorie, dort und nur dort ist Denken.«74 Das Menschliche bestimmt sich so nicht über eine biologische Substanz oder Mitgift, sondern durch seine kollektiv vorgenommene Selbstbestimmung in Denken und Handeln.

Spezies, oder Horizonte des Intellekts: Ausblick mit Averroes

Ein Aufsatz, der im Zusammenhang von Averroes´ materialem Intellekt so oft von »Entwicklungsoffenheit« sprach, muss zum Schluss einen Ausblick auf die  Entwicklungsmöglichkeiten seiner Überlegungen eröffnen.

Agamben selbst deutet in Das »spezielle« Sein nur kurz an, dass sich damit auf Wahrnehmungsbilder bezogene Phänomene wie Narzissmus und Verliebtheit – nicht nur innerhalb der kulturellen Semantik des Mittelalters – deuten lassen.75 Eine Theoriekonkurrenz zu Theorien des Imaginären wie der Phänomenologie, aber auch der Psychoanalyse wurde schon angedeutet. Angesichts des Siegeszugs digitaler Bildmedien und der von ihnen entfesselten Sozialdynamiken sind Theorien des bildgebundenen Narzissmus heute wieder brandaktuell.76 Es wäre auszuloten, was Averroes´ Begriff intentionaler Spezies hier beitragen kann. Dafür wäre auch das Verhältnis von Spezies und Spektakel zu klären. Agambens häufiger Rekurs auf Guy Debords Gesellschaft des Spektakels könnte sich hier als mehr erweisen denn nur als ein idiosynkratisches Festhalten an der situationistischen Kulturkritik.77

Ist in der jüngeren Zeit über die Disziplinen-Grenzen hinweg ein neuerwachtes Interesse an der Phänomenologie zu beobachten78, so scheint der averroistische Intellekt samt den Rollen, die Spezies und Intention darin spielen, sich überdies als Korrespondenzpartner, aber auch Kritik phänomenologischer Intentionalität zu empfehlen.79 Agambens eigener Umgang mit Spezies-Bildern in seinen kleineren Arbeiten zu den Bildkünsten kann selbst schon als teils averroistisch inspirierte, post-phänomenologische, post-psychoanalytische Lektüre zeitgenössischer Bildphänomene der neuen Medien gelesen werden.80 In eine vergleichbare Richtung hat Emanuele Coccia in den letzten Jahren Averroes auch für seine Theorie des Sinnenlebens fruchtbar zu machen versucht. Diese fügt sich – vielleicht zu sehr? – in eine im Zuge des New Materialsm und Neuen Realismus stehende Kritik des linguistic turn ein, insofern mit dem Spezies-Bild einer nicht einfach völlig in der Sprache aufzuhebenden Erkenntnisform große Aufmerksamkeit zuteilwird.81 Ob ein neuer Materialismus allerdings wirklich so ausschließlich mit Bildern, so entschieden ohne Sprache auskommt, bleibt zu diskutieren. Überhaupt wäre auch die Rolle, die ein »alter«, aus der mittelalterlichen Philosophie sich speisender Materialismus einnimmt, zu erwägen. Agambens Averroes-Rezeption bietet hier erste Ansatzpunkte.

Nicht zuletzt könnte der von einer kollektiven Lebensform, einer multitudo von Sprechenden unablösbare averroistische Intellekt zu einem vielleicht nicht unwichtigen Ansprechpartner in der jüngst an Fahrt gewonnenen Auseinandersetzung mit den bild- und textgenerativen Verfahren sogenannter künstlicher Intelligenzen werden. ChatGPT (GPT-4: im Moment der Niederschrift dieses Textes in aller Munde) und andere generieren über künstliche neuronale Netze (KNN) und maschinelles Lernen (ML) Texte und Bilder, die wie von Menschen geschaffen wirken.82 Den aktuellen Sprachprozessoren wurde dabei wiederholt attestiert, dass sich ihre Kombinationsprozesse vor allem aus akkumulierten Trainingsdaten ergeben als auch dass sie Kohärenz und inhaltliche Motiviertheit der generierten Texte nicht gewährleisten können83. Dieses Problem scheint das Verhältnis von Semiologie und Semantik, Schrift und Stimme nach Agamben zu berühren. Ob eine AI-Kritik wirklich ohne maschinenexterne Wirklichkeitserwägungen wie die lebensweltliche Situiertheit und Verkörperung auskommen kann (so Hubert L. Dreyfus´ klassische Kritik früher maschineller Intelligenz) ist dabei noch keineswegs gesprochen.84 Die sich auf Averroes berufende Idee, dass Bild und Wort letztlich nur im Medium eines kollektiven Intellekts und vermittels einer konstitutiven Sprecherstimme überhaupt sinnstiftend und tatsächlich neue Möglichkeiten generierend miteinander verbunden werden können – dass nur dieser Akt zwischen individuellem agentiellem und kollektivem materialem Intellekt mit der Phantasie als Medium im emphatischen Sinne Denken und Sprechen bestimmt – könnte hier vielleicht nicht die schlechtesten Debatteneinwürfe liefern. Daneben erlaubt der Rückgang auf einen historisch frühen Begriff des intellectus auch die kulturgeschichtliche Frage nach der Genealogie von Begriffen wie ›Intelligenz‹ zu adressieren samt den historischen Neubesetzungen und Begriffsverschiebungen, wobei der Fall AI nur den jüngsten Moment bezeichnet.85

Auf mittelalterlichen Bilddarstellungen des Averroes wurden dem Philosophen oft die Augen ausgekratzt.86 Vielleicht kann man von diesen speziellen Sehapparaten heute neuen Gebrauch machen.

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Fußnoten

1 Kotsko, Adam/Salzani, Carlo Salzani (Eds.) (2017): Agamben´s Philosophical Lineage, Edinburgh: Edinburgh UP. 2 Agamben, Giorgio (2000): Lebensform, in: ders.: Mittel ohne Zweck, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 13–20, hier S. 19; Agamben, Giorgio (2021): Der Gebrauch der Körper, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 358. 3 Coccia, Emanuele (2005): La trasparenza delle immagini. Averroè e l´averroismo, Milano: Bruno Mondadori. 4 Agamben, Giorgio (2022): Quel che ho visto, udito, appreso…, Torino: Einaudi, S. 36. »Vom Andalusier Averroes habe ich gelernt, dass der Intellekt Einer ist und dass dies nicht bedeutet, dass alle das Gleiche denken, sondern dass, wenn wir das Wahre denken, die Vielheit der Meinungen verglüht und letztlich nicht mehr nur ich denke. Und dennoch bedeutet »nicht mehr ich« nicht einfach, dass ich da war, sondern dass ich es noch auf gewisse Weise bin, da ich mich, wie der Andalusier sagt, mit dem Einen nicht über das Denken verbinde – welches das seine ist und woran ich nicht teilhabe – sondern über die Phantasmen und die Begierden über die Phantasmen und die Begierden aus der Einbildung, die nur meine ist. Und das ist auch der Sinn der arabischen Architektur: die Einbildungen der Einzelnen sind wie die gestreiften Keramiken, welche die Mauern der Moscheen verfliesen oder wie die Lichtstrahlen, die durch die winzigen Ritzen ins Innere gelangen und dabei eine einzige, komplizierte Arabeske niederschreiben«. 5 Davidson, Herbert A. (1992):  Alfarabi, Avicenna and Averroes, on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of Human Intellect, New York: Oxford University Press, insbes. S. 259–265. Eine ausführliche Rekonstruktion des Averroismus bei Coccia, Emanuele (2005): La trasparenza delle immagini. Averroè e l´averroismo, Milano: Bruno Mondadori. 6 Alain de Libera geht so weit, auch wegen des Averroismus ein spezifisches Konzept des Intellektuellen ins Mittelalter vorzudatieren: vgl. de Libera, Alain (1991): Penser au Moyen Âge, Paris: Editions de Seuil. 7 Zum Aufgehen von Averroes´ Denken in einer Strömung des Averroismus vgl. Coccia, Emanuele (2005): La trasparenza delle immagini. Averroè e l´averroismo, Milano: Bruno Mondadori, S. 20–53. 8 Deutsch als Averroes (1869): Drei Abhandlungen über die Conjunction des separaten Intellects mit dem Menschen, herausgegeben, übersetzt und erläutert von J. Herz, Berlin: H.G. Herman. 9 Dieser Text ist nicht im arabischen Original überliefert, das verloren ging. Erhalten ist lediglich die lateinische Abschrift, aus der sich die Averroes-Rezeption bis heute speist. Siehe dazu Winkelmann-Liebert, Holger (2005): Die Intellektlehre des Averroës, in: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients 82, S.273–290, hier S. 276.   10 Der abschätzige Begriff Monopsychismus geht auf die Theodizee von Leibniz zurück und unterstellt die Unmöglichkeit für den Einzelnen, zu denken. Vgl. Coccia, Emanuele (2005): La trasparenza delle immagini. Averroè e l´averroismo, Milano: Bruno Mondadori, S. 22–24. Die Verbindung der Lehre des Averroes mit einem Monopsychismus wirkt bis in die Schwelle zur Gegenwart nach. Siehe etwa Blumenberg, Hans (2018): Husserl – ein Averroist?, in: ders., Phänomenologische Schriften 1981–1988, ed. von Nicola Zambon, Berlin: Suhrkamp 2018. 11 Ein ausführliches Verzeichnis, welche Intellekt-Begriffe sich bei welchem Kommentator finden, bietet Hasse, Dag Nikolaus (1999): Das Lehrstück von den vier Intellekten in der Scholastik: Von den arabischen Quellen bis zu Albertus Magnus, in: Récherches des théologie et philosophie mediévale 66.2, S. 21–77, hier S. 22–28. 12 Ebd., S. 29. 13 Daneben kennt Averroes weitere Intellekt-Arten, die allerdings hier nicht ins Gewicht fallen. Vgl. Esposito, Roberto (2018): Zwei. Die Maschine der politischen Theologie und der Ort des Denkens, Zürich: diaphanes, S. 212: »Obgleich sich Averroes auf fünf Arten von Intellekt bezieht – den ›tätigen‹, den ›materiellen‹, den ›erworbenen‹, denjenigen ›in habitu‹ sowie den ›spekulativen‹ –, kommt es vor allem auf das wechselseitige Verhältnis der ersten beiden an, insofern sich die anderen von der Form ableiten lassen, die diese jeweils annehmen. Beide sind voneinander getrennt, aber während der tätige Intellekt die Funktion besitzt, die intelligiblen Formen im materiellen Intellekt zu aktualisieren, ist dieser als eine reine Potentialität zu verstehen, die an sich keine andere Natur besitzt als diejenige der reinen Rezeptivität«. 14 Infrage steht hier die Auslegung des vierten Abschnitts des dritten Buches von De Anima (429 a – 430 a). Siehe Aristoteles (2011): Über die Seele, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam, S. 148–153. 15 Vgl. Winkelmann-Liebert, Holger (2005): Die Intellektlehre des Averroës, in: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients 82, S. 273–290, hier 277–278. Eine ausführlichere Übersicht, als sie hier möglich ist, welche die verschiedenen Entwicklungsstadien von Averroes´ Position zum materiellen Intellekt darstellt, angefangen von den Abhandlungen über die Konjunktion und den mittleren Kommentar zu De Anima bis zu der hier thematisierten Position aus dem Großen Kommentar, bietet Davidson, Herbert A. (1992):  Alfarabi, Avicenna and Averroes, on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of Human Intellect, New York: Oxford University Press, S. 265–314. 16 Vgl. Averroes (1953): Commentarium magnum, in: Aristotelis De anima libros (1953), herausgegeben von F. Stuart Crawford, Cambridge/Massachusetts: Cambridge UP, S. 583. Im Kommentar zu der Passage 429 b 29 bis 439 a 2 von De Anima heißt es: »Deinde exposuit« – die Rede ist vom Verfasser von De Anima, dessen Originalpassagen im Zitat kursiviert wiedergegeben werden – »quid significat hoc nomen passio in intellectu. Et dixit: quod intellectus est in potentia, etc. Idest, et ista intentio universalis de passione in intellectu nichil aliud est nisi quod est in potentia in intellectu, non in actu, quousque intelligat. Et dicere etiam ipsum esse in potentia est alio modo ab eis secundum quos dicitur quod res materiales sunt in potentia.« Ebd., S. 428–429. 17 Dieses digestive Modell wird von Alfarabi in die Tradition der arabischen Kommentatoren eingebracht. Vgl. hierzu Illuminati, Augusto (2002) L´intelligentia di Averroè, in: Belfagor, 57.1, S. 103–108, hier S. 105. 18 Davidson, Herbert A. (1992):  Alfarabi, Avicenna and Averroes, on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, an Theories of Human Intellect, New York: Oxford University Press, S. 289–290. 19 Bloch, Ernst (1963): Avicenna und die Aristotelische Linke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 94–95: »Das Hinüberführen des Möglichen zum Wirklichen beginnt schon im Möglichen, indem es als solches ein Schoß ist. In der Materie reifen die Formen selber als dispositionelle, latente heran, und der Aktus […] kann keine einzige neue hervorbringen, er verwirklicht nur. […] Folglich sind auch die Seelen und Gedanken als Formen in der Materie schon angelegt, und zwar derart, daß dieses wie alles Angelegtsein eine nicht bloß passive, sondern suo genere aktive Möglichkeit einschließt. Die damit bedeutete Fähigkeit: Formen bis zu ihrer Aktualisierung, das heißt bis zum Sprung des Wirklichwerdens auszureifen, erweitert den Begriff des Möglichen sehr stark; Möglichkeit als aktive Disposition wird Inkubation, wird Schoß einer natura naturans«. Dies mache die »dynamis-Materie zum Schwangerschaftsort der ungewordenen, doch heranreifenden Formgestalten« (ebd., S. 95). Wie Bloch weiter ausführt, lässt sich Averroes so lesen, dass nicht alles zu jeder Zeit möglich ist, jedoch unter verschiedenen materiellen Bedingungen Verschiedenes möglich ist. Die Materie kann sich gewissermaßen entwickeln und Konstellationen hervorbringen, in denen etwas qualitativ Neues zunächst als dem Modell nach Mögliches zuerst denkbar wird und dann von den Menschen – als ausführender Kraft – zur Realisation gebracht werden kann. Diese Ausführung lässt sich als eine dynamische Fortentwicklung des intellectus materialis auffassen. 20 Averroes (1953): Commentarium magnum in Aristotelis De anima libros (1953), herausgegeben von F. Stuart Crawford, Cambridge/Massachusetts: Cambridge UP, S. 411. 21 Davidson, Herbert A. (1992):  Alfarabi, Avicenna and Averroes, on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of Human Intellect, New York: Oxford University Press, S. 316. Davidson verweist zudem darauf, dass die Intelligibilia hinter den wahrgenommenen Formen Konzepte oder Universalien darstellen. Vgl. ebd.: »By illuminating both the material intellect and the intelligible thoughts latent in images, the active intellect enables the material intellect to behold the intelligible thoughts and think them. The intelligible thoughts spoken of here are presumably concepts, rather than propositions, since they are compared to colors and not to judgments about colors”. 22 So Coccia, Emanuele (2020):  Sinnenleben. Eine Philosophie, München: Hanser 2020, S. 23; siehe auch Coccia, Emanuele (2005): La trasparenza delle immagini. Averroè e l´averroismo, Milano: Bruno Mondadori, S. 108–114. 23 Esposito, Roberto (2018): Zwei. Die Maschine der politischen Theologie und der Ort des Denkens, Zürich: diaphanes, S. 213. 24 Das schlägt Augusto Illuminati vor, wenn er Parallelen zum general intellect bei Marx herstellt, wodurch der materiale Intellekt zur Gesamtheit der Erzeugnisse einer intellektuellen Öffentlichkeit wird, die in posse allen zugänglich ist. Illuminati, Augusto (2022): Averroè, une traduzione ininterrota, in: Doctor Virtualis. Rivista online di storia della filosofia medievale 17, S. 107–129, hier S. 128–129. 25 Aristoteles (2011): Über die Seele, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam, S. 153. Diese Übertragung wird hier der neueren, von Klaus Corcilius besorgten und bei Meiner erschienenen Übersetzung vorgezogen, da Übersetzung und folglich auch Auslegung der Begriffe eine größere Affinität zur italienischen Debatte aufzuweisen scheinen. 26 Averroes (1953): Commentarium magnum in Aristotelis De anima libros (1953), hrsg. von F. Stuart Crawford, Cambridge/Massachusetts: Cambridge UP, S. 430. 27 Vgl. Davidson, Herbert A. (1992):  Alfarabi, Avicenna and Averroes, on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of Human Intellect, New York: Oxford University Press, S. 296: »he [Averroes – F.S.] compares the material intellect not to a writing tablet but to the disposition that the tablet has for writing«. Diese Bestimmung aus dem mittleren Kommentar wird im Großen Kommentar verändert: »He insists now that Aristotle compared the material intelltect to the writing tablet and not to the disposition in the tablet« (ebd.). 28 Esposito, Roberto (2018): Zwei. Die Maschine der politischen Theologie und der Ort des Denkens, Zürich: diaphanes, S. 213. 29 Ebd., S. 209–293. 30 Agamben, Giorgio (2022): Quel che ho visto, udito, appreso…, Torino: Einaudi 2022, S. 36. Siehe Anmerkung 4. 31 Agamben, Giorgio (2006): Stanzen, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 125. Zahlen in Klammern hinter Zitaten weisen in diesem und den nächsten beiden Abschnitten Seitenangaben aus, die sich auf diese Ausgabe beziehen. 32 Diese These ließe sich tatsächlich an Averroes diversen Re-Lektüren der Schreibtafel-Vergleichs bei Aristoteles diskutieren. Wie Davidsons Darstellung der Drei Abhandlungen über die Conjunction verdeutlicht, liest Averroes darin den Vergleich auf unterschiedliche Weise und überschreibt kommentierend gewissermaßen die eigenen Lektüren, die ihrerseits schon Kommentare darstellen. Davidson, Herbert A. (1992):  Alfarabi, Avicenna and Averroes, on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of Human Intellect, New York: Oxford University Press, S. 272. 33 Agamben, Giorgio (2009): Signatura Rerum. Zur Methode, Frankfurt: Suhrkamp 2009, S. 7. 34 »Platon nimmt im Denken des Mittelalters auf den ersten Blick keinen gleichermaßen bedeutenden Platz ein, doch die so gern wiederholte Behauptung, daß das Mittelalter sein Werk nur wenig, und jedenfalls nicht aus erster Hand, gekannt habe, ist wohl übertrieben« (124). 35 So die Einordnung von Aristoteles im spätbyzantinischen Wörterbuch der Suda. Siehe Agamben, Giorgio (2015a): Die Sache selbst, in: ders., Die Macht des Denkens, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 25. 36 Das Bild der Schreibtafel geistert seinerseits als Variation durch die europäische Kulturgeschichte. Es hat Konjunktur wenigstens bis zu Sigmund Freuds Aufzeichnung über den Wunderblock, welche Jacques Derrida in die aristotelische Tradition zurückgestellt hat. Derrida, Jacques (1971): Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 37 »Der Künstler, der im zitierten Passis von Platon der Seele die Abbilder (eikónas) der Dinge einzeichnet, ist die Phantasie, und tatsächlich werden diese »Ikonen« wenig später »Phantasmen« (phantásmata) (40a) genannt« (125). 38 Ebd., S. 135. 39 Coccia, Emanuele (2020): Sinnenleben. Eine Philosophie, Berlin: Hanser, S. 17–20. 40 Agamben, Giorgio (2005): Das »spezielle« Sein, in: ders.: Profanierungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 51–56, insbes. S. 54–55. 41 Diese Leseweise folgt derjenigen bei Coccia, Emanuele (2005): La trasparenza delle immagini. Averroè e l´averroismo, Milano: Bruno Mondadori, S. 125: »L´essere speciale o intenzionale di qualcosa non designa alto che l´esistenza mediale di una forma« (»Das spezielle oder intentionalee Sein einer Sache bezeichnet nichts anderes als die mediale Existenz einer Form«). Agambens Nähe zu Coccia, die oben schon betont wurde, reicht bis in die Terminologie: essere speciale ist auch der Originaltitel von Agambens Aufsatz aus Profanierungen. 42 Siehe dazu auch Coccia, Emanuele (2019): Quodlibet. Logica e fisica dell´essere qualunque, in: Giorgio Agamben. Ontologia e politica, ed. Valeria Bonnacci, Macerata: Quodlibet, S. 123–134; Maier, Anneliese (1963): Das Problem der »species sensibilis in medio« und die neue Naturphilosophie des 14. Jahrhunderts, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 10, S. 3–32. 43 Die Auffassung der Welt als Rätsel-Spiegel, in dem Gott nicht direkt sichtbar ist, geht zurück auf Korinther 1, 13,12 und wird auch in einem im Mittelalter einflussreichen Text wie Augustinus´ De Trinitate aufgegriffen. Vgl. dazu Largier, Nikolaus (1999): Spiegelungen. Fragmente einer Geschichte der Spekulation, in: Zeitschrift für Germanistik 9.3, S. 616–636, hier S. 616. Für eine reiche Dokumentation der Rolle des Spiegels im Mittelalter siehe Baltrušaitis, Jurgis (1986):  Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien, Gießen: Anabas. 44 Laplanche, Jean/Pontalis J.-B. (2023): Urphantasie, Gießen: Psychosozial Verlag. Siehe zum Verhältnis von Sprache und Begehren bei Lacan und der Vorläuferrolle der mittelalterlichen Liebesdichtung dafür Wild, Cornelia (2016): Die Liebe der trobadors, in: von Koppenfels, Martin/Zumbusch, Cornelia (Eds.): Handbuch Literatur und Emotionen, Berlin: De Gruyter, S. 261–274. 45 Cavalcante, Guido (1991): Le Rime – Die Gedichte, Nach einer Interlinearübersetzung von Geraldine Gabor, in deutsche Reime gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer, Mainz: Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung. Alle italienischen Zitate von Guidos Donna me prega in diesem Absatz: ebd., S. 66. 46 Agamben, Giorgio (2003): Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve, S. 9–25. 47 Wild, Cornelia (2016): Die Liebe der trobadors, in: von Koppenfels, Martin/Zumbusch, Cornelia (Eds.): Handbuch Literatur und Emotionen, Berlin: De Gruyter, S. 261–274. 48 Agamben, Giorgio (2012): Der Mensch ohne Inhalt, Berlin: Suhrkamp, S. 92. 49 Agamben, Giorgio (2023): La voce umana, Macerata: Quodlibet, S. 24–25. 50 Vgl. Derrida, Jacques (1973): Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 16–48.; siehe dazu auch Stetter, Christian (1999): Sprache und Schrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 51 Agamben, Giorgio (2004): Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–9. 52 Agamben, Giorgio (2023): La voce umana, Macerata: Quodlibet. 53 Agamben, Giorgio (1968): L´albero del Linguaggio, in: Journal of Italien Philosophy 1 (2018), S. 2–11 (ursprünglich in: Ulise XXI.IX [1968]). 54 Ebd., S. 3. 55 Vgl. dazu Attell, Kevin (2015): Giorgio Agamben. Beyond the Threshold of Deconstruction, New York: Fordham UP, S. 37: »But for Agamben, in viewing différance as the unsurpassable limit and (non)‌origin of signification, and thus foreclosing the possibility of neutralizing or circumventing the metaphysics that is founded on this logic, Derrida is confined to the Oedipal understanding of the enigma, an understanding of language fundamentally as code«. 56 Agamben, Giorgio (2004): Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 78–82; Agamben, Giorgio (2023): La voce umana, Macerata: Quodlibet, S. 21–23. Vgl. Stetter, Christian (1999): Sprache und Schrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7. Stetter sieht diesen Gegensatz bereits bei Wilhelm von Humboldt artikuliert an als jenen zwischen lebendigem Wort der Rede und grammatischem Zeichen. 57 Agamben, Giorgio (1968): L´albero del Linguaggio, in: Journal of Italien Philosophy 1 (2018), S. 2–11, hier S. 10. 58 Dazu Trabant, Jürgen (2012): Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt, München: C.H. Beck, S. 263 59 Agamben, Giorgio (1968): L´albero del Linguaggio, in: Journal of Italien Philosophy 1 (2018), S. 2–11, hier S. 10. 60 Vergleichbares hat Dieter Mersch in seiner Kritik der Sprechakttheorie vorgebracht. Mersch klagt ein, dass sowohl die vor allem bereits konstituierte Performanzregeln bereitstellenden Spielarten der Sprechakttheorie als auch Derridas Dekonstruktion es versäumten, den Akt der Differenzsetzung als »Möglichkeit des radikal Neuen« zu begreifen. Dieser als katachrestisch markierte Moment verweise vielmehr auf eine Ekstase – Mersch assoziiert Heidegger Ek-sistenz als Moment der Stiftung –, welches außerhalb der Sprache anzusiedeln sei und einen Neuanfang markiere. Heideggerianisch reformuliert: Es kann neue Sprechakte, neue Worte, neue Sprachformen geben, weil es ein nicht schon in Sprache aufgehendes In-der-Welt-Sein gibt. Mersch, Dieter (2004): Performativität und Ereignis. Überlegungen zur Revision des Performanz-Konzeptes der Sprache, in: Fohrmann, Jürgen (Ed.): Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 526–528. 61 Agamben, Giorgio (2001): Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 15. 62 Agamben, Giorgio (2000): Lebensform, in: ders.: Mittel ohne Zweck, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 13–20. 63 Ebd., S. 13. 64 Heidegger, Martin (1993): Sein und Zeit, 17. Auflage, Tübingen: Niemeyer, S. 12: »Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«. Man kann sich fragen, ob (und wenn ja: mit welchen fatalen Konsequenzen) Heideggers Daseinsanalyse in eine politische Theorie überführbar wäre. Siehe hierzu Geulen, Eva (2009): Agambens Politik der Nicht-Beziehung, in: Sabeth Buchmann/Helmut Traxler/Stephen Geene (Eds.): Avantgarde. Film. Biopolitik, Wien, S. 58–68. 65 Agamben, Giorgio (2000): Lebensform, in: ders.: Mittel ohne Zweck, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 17. 66 Ebd., S. 18. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 19. 69 Corti, Maria (2007): Dante and lslamic Culture, in: Dante Studies 125, S. 57–75. 70 Alighieri, Dante (1989): Monarchia, Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Ruedi Imbach und Christoph Flüeler, Stuttgart: Reclam, S. 69. 71 Ebd., S. 69 (»Et quia potentia ista per unum hominem seu per aliquam particularium comunitatum superius distinctarum tota simul in actum reduce non potest, necesse est multitudinem esse in humano genere, per quam quidem tota potential hec actuetur«; ebd., S. 68). 72 Ebd., S. 69: »Und dieser Lehre stimmt Averroes im Kommentar zum Buch über die Seele bei« (Et huic sentantie concordat Averrois in comento super hiis que De Anima). 73 Flasch, Kurt (2006): Meister Eckhart. Die Geburt der »Deutschen Mystik« aus dem Geist der arabischen Philosophie, München: C.H. Beck, S. 54. 74 Agamben, Giorgio (2000): Lebensform, in: ders.: Mittel ohne Zweck, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 20. 75 Agamben, Giorgio (2015): Das »spezielle« Sein, in: ders., Profanierungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 55–56. 76 Als Quelle von Populismus und Ressentiments wurde der Narzissmus etwa kürzlich wieder ins Spiel gebracht bei Fleury, Cynthia (2023): Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung, Berlin: Suhrkamp. 77 Geulen, Eva (2004): Giorgio Agamben zur Einführung, Hamburg: Junius, S. 111. 78 Sneis, Jørgen (2018): Phänomenologie und Textinterpretation. Studien zur Theoriegeschichte und Methodik der Literaturwissenschaft, Berlin/Boston: De Gruyter; Schnell, Alexander (2019): Was ist Phänomenologie?, Frankfurt am Main: Klostermann; Schnell, Alexander (2021): Der frühe Derrida und die Phänomenologie. Eine Vorlesung, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann; 2019 stand ein von Anatol Heller und Robert Loth organisierter Workshop an der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel Literatur und Phänomenologie. 79 Schon Husserls Begriff des intentionalen Gegenstandsbewusstseins verweist auf mittelalterliche Philosophie zurück: vgl. Perler, Dominik (2020): Theorien der Intentionalität im Mittelalter, 3., unveränderte Auflage, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.   80 Vgl. insbesondere die kleineren Texte in Agamben, Giorgio (2010): Nacktheiten, Frankfurt am Main: S. Fischer 2010; Agamben, Giorgio (2005): Profanierungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 81 Coccia, Emanuele (2020): Sinnenleben. Eine Philosophie, München: Hanser. 82 Vgl. Bajohr, Hannes (2019): Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen, Berlin: August; Mersch, Dieter (2019): Kreativität und Künstliche Intelligenz. Einige Bemerkungen zu einer Kritik künstlicher Intelligenz, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 19.3. 83 Bender, Emily M./Gebru, Timnit/McMillan-Major, Angelina et al (2021): On the Dangers of Linguistic Parrots: Can Language Models be too big?, in: FAccT '21: Proceedings of the 2021 ACM Conference on Fairness, Accountability, and Transparency, S. 616: »Text generated by an LM is not grounded in communicative intent, any model of the world, or any model of the reader´s state of mind. It can´t have been, because the training data never included sharing thoughts with a listener, nor does the machine have the ability to do that”. 84 Dreyfus, Hubert L. (1985): Was Computer nicht können. Die Grenzen künstlicher Intelligenz, Königstein/Taunus: Athenäum; ders. (1992): What Computers still can´t do. A Critique of artificial Reason, Massachussetts: MIT Press. Vgl. zu einer jüngeren Kritik an Dreyfus, die vor allem über Hans Blumenbergs Argument läuft, dass bereits die Rhetorik, damit aber die menschliche Rede überhaupt artifizielle Züge aufweise: Weatherby, Leif (2022): Intermittent Legitimacy: Hans Blumenberg and AI, in: New German Critique 145. 85 Eine disziplinenübergreifende Genealogie des Intelligenzbegriffs, die wissenschaftsgeschichtlich hochrelevant wäre, liegt meines Wissens nicht vor. Die gängigen Begriffsgeschichten in Psychologie, Kognitionswissenschaft oder AI-Forschung (siehe nur exemplarisch Danziger, Kurt (1997): Naming the Mind. How Psychology found its Language, London: Sage; Sternberg, Robert J. (1990): Metaphors of Mind. Conceptions of the Nature of Intelligence, Cambridge: Cambridge UP) weisen in ihren äußerst selektiven historischen Parcours kaum je vor die Neuzeit zurück, wobei die dann herangezogenen Referenzen wie John Locke oder David Hume durchaus noch unter dem phantomhaften Einfluss der ihnen vorausliegenden Philosophiegeschichte stehen.  86 Vgl. Brenet, Jean-Baptiste (2015): Averroès, L´Inquiétant, Paris: Les belles Lettres., S. 35–39 (die Abbildungen: S. 36, S. 38).