Martina Wagner-Egelhaaf: Zur BRD bekehrt. Wolf Biermanns Renegaten-Poetik
Abstract: This article examines the interplay of renegade poetics and conversion semantics in Wolf Biermann’s autobiography Warte nicht auf bessre Zeiten (2016). The autobiographical first-person narrator places himself in a line with famous renegades who legitimize his own renegade status. In the process, the concept of the renegade undergoes a rhetorical intensification into a paradox through attributive extension, modeling the courage and truthfulness of the autobiographical self. Staged orality and a colloquial tone assert the authenticity of the self. The liminal figure of the transition from belief in communism and its realization in the GDR to identification with the parliamentary democracy of the Federal Republic is reflected with close reference to the author’s own artistic-literary work. Intertextual references such as the adoption of Heinrich Heine’s poem title »Enfant perdu« for one of his own poems on the flight of Robert Havemann’s son from the Republic make the change of sides a literary motif.
Keywords: Renegade poetics, conversion, autobiography, rhetoric, GDR
Wenn man versucht, sich einen ersten Einblick in die Geschichte des Begriffs ›Renegat‹ zu verschaffen, stößt man auf Schwierigkeiten. Weder das bewährte Historische Wörterbuch der Rhetorik noch das Historische Wörterbuch der Philosophie kommen einem mit ihrem üblicherweise gut sortierten systematischen und fundierten historischen Wissen entgegen. Auch die Geschichtlichen Grundbegriffe schweigen beharrlich. So sieht man sich auf ein paar dürre Informationen aus dem Internet verwiesen. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache weiß, dass ein Renegat jemand ist, »der entgegen seiner bisherigen politischen oder religiösen Überzeugung in ein gegnerisches Lager überwechselt«1, obgleich Wikipedia hier sofort widerspricht, indem es behauptet, dass im Gegensatz zum Konvertiten der Renegat nicht zu einem neuen System überwechseln muss.2 Dieser Lesart zufolge kann der Renegat lediglich seiner bisherigen Überzeugung abschwören. Es bleibt einem ein bisschen Etymologie, die auch nicht wirklich weiterhilft3, einen bestenfalls über das Präfix ›re-‹ ins Grübeln bringt: Angeblich kommt ›Renegat‹ vom mittellat. ›renegare‹, was ›leugnen‹ heißt und wiederum auf das lateinische ›negare‹ ›verneinen‹, ›ablehnen‹ zurückgeht. Steht das ›re-‹ dann für eine Verstärkung, für einen expliziten rhetorischen Akt oder heißt es einfach ›wieder-verneinen‹, ›zurück-verneinen‹? Hat der Renegat schon einmal etwas verneint? Ist er ein permanenter Verneiner? Einer, der beständig hin- und herspringt? Die Wortverbindungswolke, die das DWDS angibt (vgl. Abb. 1), ist angesichts der semantischen Vagheit noch einigermaßen sprechend, denn sie verortet den Begriff des Renegaten für die Gegenwartssprache eindeutig in einem linken, kommunistischen Umfeld, das offensichtlich verleugnet wird, obwohl historisch immer auch noch auf eine religiöse Bedeutung verwiesen wird, insbesondere auf Personen, die im Spanien des 16. Jahrhunderts vom Christentum zum Islam übergetreten sind.4 Die religiöse Unterströmung verbindet den Begriff des Renegaten mit dem des Konvertiten.5 Der Begriff ›Renegat‹ ist vielleicht deshalb definitorisch unterbestimmt, weil seine Verwendung in spezifische historische und politische Kontexte fällt und in der Gegenwart eher nicht diskursbestimmend ist. Umso auffälliger ist seine frequente Verwendung in Wolf Biermanns Autobiographie Warte nicht auf bessre Zeiten, in der zugleich das rhetorische Wechselverhältnis von Renegaten- und Konvertitentum deutlich wird. In sechs Schritten vollzieht der vorliegende Beitrag Wolf Biermanns biographischen Aufbruch in der DDR und erste Zweifel am System nach (1.), bevor ein Blick auf das zahlreiche Auftreten anderer prominenter Renegaten im Text der Autobiographie (2.) und auf die Profilierung des eigenen Renegatenlebens (3.) geworfen wird. Im Anschluss daran geht es um die Faktur des autobiographischen Rückblicks (4.), ein intertextuelles Bezugsverhältnis zu einem Gedicht von Heinrich Heine im Licht der Biermann’schen Renegaten-Poetik (5.) und um das autobiographische Wechselverhältnis von Konversion und Renegatentum (6.).
1. Aufbruch und Zweifel
Der 1976 bei einem Konzertauftritt in Köln ausgebürgerte Liedermacher6 Wolf Biermann veröffentlichte 2016 seine Autobiographie unter dem Titel Warte nicht auf bessre Zeiten. Schon im Vorwort fällt zum ersten Mal der Begriff ›Renegat‹. Biermann spricht hier über seinen Vater und die Bedeutung, die dieser für ihn, den Sohn Wolf Biermann, hatte:
Der Kummer um den Kommunisten, den Arbeiter, den Juden Biermann ist meine Schicksalsmacht, mein guter Geist, mein böser. Er ist das Gesetz, nach dem ich angetreten bin. So muss ich sein, so bleibe ich. Marx hin, Marx her – ich konnte auf meinem langen Weg an keiner Wegscheide je diesem Fatum entfliehen. Mein Kummer blieb lebendig und machte Metamorphosen durch. Er stumpfte nicht. Er hat sich bis heute immer wieder erneuert, hat sich gewandelt, zusammen mit mir, im Umbruch der Zeiten. Durch ihn bin ich ein frecher Zweifler geworden, dann ein frommer Ketzer, ein tapferer Renegat des Kommunismus. Ein todtrauriges Glückskind in Deutschland, ein greises Weltenkind. Dieser eingeborene Kummer um den Vater war mein Luftholen seit 1937, war mein asthmatisches Japsen seit den Bombennächten in Hammerbrook 1943.7
Biermanns Vater, Dagobert Biermann, Jude und Kommunist, kam 1942 in Auschwitz ums Leben, nachdem er zuvor schon wegen politischer Unliebsamkeit Gefängnisstrafen abzusitzen hatte. 1937 wurde er von der Gestapo wegen Sabotage verhaftet. Die Mutter, Emma Biermann, die in Biermanns Autobiographie eine zentrale Rolle spielt, war ebenfalls eine überzeugte Kommunistin. Mit ihr und der Großmutter Meume lebte der junge Biermann in seiner Geburtsstadt Hamburg. Emma Biermann schickte den Sohn, als dieser 16 Jahre alt war, durchaus mit dessen Einverständnis, ins Internat nach Gadebusch in Mecklenburg. So wurde Wolf Biermann Ostdeutscher und DDR-Bürger, denn nach dem Schulabschluss blieb er aus politischer Überzeugung in der DDR. »Ich war Kommunist schon 1936 im Bauch meiner lieben Mutter«8, heißt es dazu in der Autobiographie. Allerdings eckte er schon als Schüler im Internat an, wehrte sich gegen Vorschriften und Disziplinarmaßnahmen. Und spätestens als sein Theaterstück Berliner Brautgang von der staatlichen Zensurbehörde verboten und das von ihm gegründete Berliner Arbeiter- und Studententheater, das bat, 1963 geschlossen wurde, war der Konflikt mit der Staatsmacht da.
Der Satz in der zitierten Textstelle »Durch ihn bin ich ein frecher Zweifler geworden, dann ein frommer Ketzer, ein tapferer Renegat des Kommunismus« erscheint in rhetorischer Hinsicht bemerkenswert. Der »fromme Ketzer« verweist vor allem auf die religiöse Semantik, die dem Begriff des Renegaten innewohnt, aber auch auf eine rhetorische Strategie, die sich im ganzen Text der Biermann’schen Autobiographie beobachten lässt: Die Selbstbeschreibungen erhalten stets noch ein Attribut: »frommer Ketzer«, »frecher Zweifler«, »tapferer Renegat«. Auch wenn es so aussieht, dass der ›fromme Ketzer‹ eine ›contradictio‹ ist, steckt eine differenziertere Aussage dahinter: Biermann ist zwar ein Ketzer, aber doch fromm. Dies bedeutet ausbuchstabiert, dass er sich gegen das DDR-Regime stellt, aber doch ein gläubiger Kommunist zu sein behauptet. Der ›freche Zweifler‹ besagt, dass er nicht nur innerlich zweifelte, sondern den Mund aufmachte und seine Meinung sagte. Und der ›tapfere Renegat‹ weist darauf hin, dass Mut, Standhaftigkeit und Stärke das Renegatentum des Sprechers kennzeichnen – falls jemand denken sollte, dass Renegaten unzuverlässig und opportunistisch wankelmütig seien. Die Formulierung ›tapferer Renegat‹ wird dabei geradezu topisch. An anderer Stelle schreibt der Autobiograph Biermann:
Aber ich brauchte noch ein paar lehrreiche Jahre, ein paar Menschen und ein paar Schicksalsschläge, bis ich wirklich begriff, was mir damals dämmerte auf dem guten Weg, ein treuer Verräter am Kommunismus zu werden, ein tapferer Renegat.9
Demselben Muster der attributiven konterkarierenden Zuspitzung, die den Mut, aber auch die Wahrhaftigkeit des autobiographischen Erzählers unterstreichen, folgen auch die Formulierungen ›todtrauriges Glückskind‹ und ›greises Weltenkind‹, auf die später nochmals genauer eingegangen wird.
2. Unter Renegaten
Renegaten müssen stark und tapfer sein, aber sie brauchen auch Unterstützung, und zwar die Unterstützung und das Vorbild anderer Renegaten. Immer wieder erwähnt Biermann andere Renegaten, durch die er sich bestätigt sieht, und das ist durchaus eine illustre Gesellschaft: Mutter Emma ist eine
Arbeiterin wie aus dem marxistischen Bilderbuch, eine echte Widerstandskämpferin in der Hitlerzeit, eine lebenskluge Frau, die dem Philosophen Ernst Bloch in aller Bescheidenheit gelegentlich die Welt verklarte. Zusammen mit seiner einstigen Frau Karola besuchte der gute alte Renegat meine Mutter immer mal wieder in Hamburg und redete mit ihr auf Augenhöhe.10
Außerdem bezeichnet Biermann Manès Sperber, Arthur Koestler, Ernst Fischer und Robert Havemann als seine »Lieblingsrenegaten«.11 Sie »wagten als junge Männer den Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft« und »konvertierten zum marxistischen Glauben«, bevor sie sich vom Kommunismus wieder abwandten, während er, Biermann, schon als Kommunist geboren wurde. Das macht einen Unterschied: In Sperber, Koestler, Fischer und Havermann wird das ›Wieder-Verneinen‹ in der Etymologie des ›Re-Negaten‹ lesbar, während Biermann selbst nur einmal konvertiert ist. Gleichwohl scheint das Sich-Einreihen in eine prominente Gruppe von Renegaten das eigene Renegatentum zu rechtfertigen. Jedenfalls wird deutlich, wie Konversions- und Renegatensemantik aufeinander bezogen sind.
Eine besondere Rolle spielt für Biermanns Renegaten-Identität Manès Sperber, einer seiner genannten Lieblingsrenegaten. Sperbers Zuspruch veranlasst nicht nur Biermanns endgültigen Bruch mit dem Kommunismus, sondern auch den Entschluss zum Schreiben der Autobiographie, deren Kern- und Angelpunkt das Renegatenmotiv ist. Die folgende Passage bezieht sich bereits auf die Zeit nach der Ausbürgerung:
Kurz darauf besuchte ich den berühmten Renegaten, Ex-Kommunisten, Romancier und Psychologen, den alten Manès Sperber, in der Rue Notre-Dame-des-Champs 83 am Jardin du Luxembourg, also im 6. Arrondissement. Er kannte meine Lieder, ich kannte seine Trilogie »Wie eine Träne im Ozean«. Er kannte meine Geschichte und natürlich die Protestbewegung in der DDR gegen meine Ausbürgerung. […] Er sagte: »Sie haben so Außerordentliches erlebt als Kommunisten- und Judenkind in der Nazizeit, dann in der DDR die Zeit des Verbots und die Ausbürgerung. Sie müssen unbedingt Ihre Memoiren schreiben!« Ich sagte: »Jetzt schon?« Und er: »Seine Memoiren muss man schreiben nicht als letzten Husten, sondern solange man selber noch etwas davon lernen kann!« […]
Sperber hatte schon in den dreißiger Jahren mit dem Kommunismus gebrochen. Dadurch hatte er dann zwei verbündete Todfeinde in Paris: als Jude die Gestapo, und als antikommunistischer Ex-Kommunist bedrohten ihn Stalins Mörder im französischen Apparat der KOMINTERN. »Wer wirklich Kommunist geworden ist«, fuhr er fort, »muss nach dem blutigen Scheitern dieser eitlen Hoffnung auf die paradiesische Lösung der sozialen Frage, nach den Millionen Morden, endlich brechen mit dem Kommunismus! Sie sollten den Mut haben, sich auf das Niveau Ihrer eigenen Verse zu wagen, kurz, Sie sollten sich als Renegat bekennen – auch vor sich selbst. Die Korrektur eines Irrwegs ist kein schäbiger Verrat. Sie erfordert Tapferkeit! […]«12
Der wahre Kommunist muss mit dem Kommunismus, jedenfalls mit dem real existierenden, brechen, so lautet die zentrale Renegatenbotschaft. Somit gehört Biermann nicht zu jenen Renegaten, die eine dramatische Wandlung der Persönlichkeit vollzogen haben, wie Julian Müller sie beschreibt,13 vielmehr ist er einer, der sich selbst treu geblieben ist.14 Besonders bemerkenswert an der zitierten Textstelle ist, dass es die Texte Biermanns sind, die laut Sperber (so Biermann) dem Autor den Renegatenweg weisen, da diese offensichtlich immer schon mehr wissen als ihr Urheber. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Biermann von Sperber die Lizenz zum Schreiben seiner Autobiographie bezieht, denn vielfach gelten Autobiographen als selbstverliebt und eitel.15 So wie Biermann seine Kommunikation mit Sperber darstellt, geht es darum, aus der Autobiographie zu lernen – und Lernen bzw. Gelernthaben steht jedem aufrechten Renegaten gut an!16
3. Ein Renegatenleben
Im letzten Absatz der Autobiographie zieht der Autobiograph die Summe aus dem geschilderten Renegatenleben. Dabei wird auch die religiöse Semantik des Renegaten-Begriffs aufgerufen – und zugleich verabschiedet:
Also musste ich ein guter Renegat werden, ein treuer Verräter. Und ich such nicht mehr den Weg in irgendein Paradies uff Erden. Der ewige Freiheitskrieg, den Heinrich Heine 1851 in seinem Gedicht »Enfant Perdu« meinte, dieser Krieg wurde seit der Steinzeit immer wieder verloren und immer wieder gewagt und gewonnen. Die lebensklügeren Juden wissen schon, warum sie fest daran glauben, dass der ersehnte Erlöser niemals kommen wird. Und käme der Messias, dann würde ich die Flucht ergreifen. In gottbewachter Geborgenheit möchte ich nicht dahindämmern und mich zu Tode langweilen. Ich bevorzuge den Streit der Welt – und die Liebe. Lebendig leben mit begründeter Verzweiflung und mit begründeter Hoffnung.17
Am Ende der Autobiographie steht ein Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie, kein emphatisches Bekenntnis, denn Biermann formuliert relativierend, sie sei »das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben.« Ihn beeindrucke die Tatsache, so erläutert er, dass es »so gut wie nie in der Weltgeschichte einen Krieg zwischen zwei Demokratien gegeben« habe.18 Der umgangssprachliche, etwas schnoddrige Berliner Ton (»ich such«, »uff Erden«) soll offensichtlich die Authentizität des sich selbst treu bleibenden autobiographischen Erzählers untermauern.
Autobiographie ist gattungstypologisch Bekenntnis und Apologie zugleich.19 Im Biermann’schen Fall handelt es sich um ein etwas verdruckstes Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie und eine Apologie seines Renegatentums, das offensichtlich der permanenten Rechtfertigung, wohl auch vor sich selbst, bedarf. Der Apologie seines Renegatentums dient nicht zuletzt der bereits erwähnte Rückbezug auf andere, vorbildliche und vorbildhafte Renegaten. Autobiographien sind aber auch vielfach um ein Konversionsmoment herum gebaut. Das autobiographiehistorische und -systematische Modell hierfür liefern Augustinus’ Confessiones (um 400), die im 8. Buch in einer hochdramatischen Szene20 die Konversion des Protagonisten und Autors zum Christentum schildern. Christian Heidrich spricht in seinem Buch Die Konvertiten. Über religiöse und politische Bekehrungen von zwei Formen der Konversion: der sog. ›Blitzkonversion‹, die sich plötzlich, wie aus heiterem Himmel ereignet, und der Konversion, die sich als sich langsam und gleitend vollziehender Prozess darstellt.21 Letzteres ist der Fall bei Biermanns Autobiographie, die Martin Sabrow treffend als eine »Umkehrbiographie« beschrieben hat, insofern als der Autor »den Volten seines Lebens nicht ausweicht, sondern ihnen eine identitätsstiftende Konstante unterlegt, die Kontinuität auch und gerade dort sichert, wo die Wandlungserzählung von Befangenheit, Irrtum und Läuterung zu sprechen hat.«22 Dabei ist zu beachten, dass der Konversionsprozess im Fall der Autobiographie rückblickend erzählt und (re-)konstruiert wird.23 In jedem Fall aber gibt es bei Konversionen ein Vorher und ein Nachher.24
4. Im Rückblick
Am 19. August 2010 erschien in der Welt eine Kolumne von Dirk Maxeiner und Michael Miersch unter der Überschrift »Wie Leo Trotzki ungewollt Gutes bewirkte«.25 In dieser Kolumne zum 70. Jahrestag der Ermordung von Leo Trotzki heißt es, dass zehntausende Ex-Kommunisten in aller Welt eine trotzkistische Phase durchlaufen haben, bevor sie zu Demokraten wurden. Genannt werden als Beispiele Arthur Köstler, George Orwell, Manès Sperber und Wolf Biermann. Sie brauchten, so heißt es in dem Artikel, »eine Phase kommunistischer Dissidenz, bevor sie dazu fähig wurden, ihre alte Ideologie von außen zu betrachten.«26 Tatsächlich hatte Biermann in der Zeit seiner Ausbürgerung eine Art trotzkistische Phase. Und er meldete sich umgehend mit einem Leserbrief, der am 28. August in der Welt veröffentlicht wurde, auf besagte Kolumne. Dieser offene Brief trägt die Überschrift »Ich bin ein Verräter«27, nimmt also das Genre und den Gestus der vor allem im Stalinismus von Abweichlern erzwungenen Selbstbezichtigung auf. Biermann, der 2006 das Bundesverdienstkreuz erhielt und 2007 mit der Ehrenbürgerwürde von Berlin ausgezeichnet wurde, schildert hier nochmals die Umstände seines Abfalls vom Kommunismus, den Zuspruch des – nochmals – »tapferen Renegaten« Manès Sperber, aber auch die Umstände seiner Ausbürgerung aus der DDR.28 Er erzählt, wie er eines Tages in Ostberlin Besuch von Jakob Moneta bekam, »dem alten Trotzkisten der 4. Internationale«, der ihn im Auftrag der IG Metall 1976 zum Konzert in den Westen einlud. Es sollte zunächst ein kleines Konzert im Rahmen des »Jugendmonats der IG Metall« im gewerkschaftseigenen Bildungszentrum Sprockhövel bei Bochum werden. Aber einige Gewerkschaftler waren Biermanns Darstellung zufolge dann offenbar der Meinung, dass, wenn der Liedermacher aus Ostberlin schon einmal im Westen wäre, man doch eher die Sportarena in Köln mieten müsse, was dann auch geschah. Am Tag nach dem Konzert hört Wolf Biermann im Radio von seiner Ausbürgerung. Mit Jakob Moneta befreundet er sich, als er im Westen ist, wird aber stutzig, als dieser nach der Wende für die PDS kandidiert, in der Biermann die Nachfolgepartei der SED sieht. Hier schließt sich eine veritable Konspirationsgeschichte an. Zu Monetas Engagement für die PDS schreibt Biermann in dem erwähnten Leserbrief:
Ein echter Trotzkist kann alles werden im Leben. Krank, reich, christlich fromm oder jüdisch meschugge, er kann ein schwuler Faschist werden, ein aufgeklärter Demokrat, ein abgeklärter Bhagwan-Jünger, ein Päderast oder ein Börsenspekulant oder ein edler romantischer Räuber – aber eins kann ein trotziger Anhänger Trotzkis nie und nimmer werden: eine Canaille seiner Todfeinde, der nachgeborenen Stalinisten.29
Das ist ähnlich auch in der Autobiographie zu lesen, in der ansonsten nur die Rede davon ist, dass Biermann sich 1976 wunderte, so ohne Weiteres zum Konzert in den Westen ausreisen zu dürfen.30 Im offenen Brief wird daraus eine abgekartete Geschichte. Biermann konstatiert: »Und dieses kaum beachtete Singen im Walde [nämlich im ursprünglich vorgesehenen Gewerkschaftshaus in Sprockhövel; M.W.-E.] sollte dann, schön medienunwirksam, den Anlass liefern für meine Ausbürgerung.«31 In der Autobiographie selbst wird dieser Verdacht so direkt nicht artikuliert. Offensichtlich kommt dem Verdacht, ›ausgetrickst‹ worden zu sein, eine weitere Entlastungsfunktion im Hinblick auf das eigene Renegatentum zu: Er wurde durch die Ausbürgerung gewissermaßen erst zum Renegaten gemacht. Um so wichtiger ist es allerdings, den Begriff zu positivieren, um mit dieser Zuschreibung leben zu können.
In dem Leserbrief schreibt Biermann, dass er der kommunistischen Utopie 1982 in seiner Ballade »Die Mutter Erde geht schwanger« das endgültige Abschiedslied geschrieben habe.32 Diese Ballade lautet folgendermaßen:
Die Mutter Erde geht schwanger
Die Mutter Erde geht schwanger
Und sieht ja so elend aus
Das Balg, es bewegt sich gar nicht
Und kommt aus dem Bauch nicht raus.
Sie hat schon ein’ Haufen Kinder
Und freut sich aufs neue Kind
Und lächelt und denkt an die Väter
Die längst schon gestorben sind
Sie hat auch schon ein’ Namen
Fürs neue Kindelein
Der Name für dieses neue
Soll KOMMUNISMUS sein
Sie sagt: Meine Kinder, ich lieb sie
Und doch warn sie alle so schlecht!
Jetzt endlich krieg ich ein Kindchen
Schön – lieb – klug und gerecht
Mein Bauch ist so riesig, ich glaube
Da kommt bald ein Riese raus!
Doch rührt er sich nicht und kommt nicht
Ich halt oft den Schmerz nicht mehr aus
– ach, Mutter Erde, du Arme!
Hör zu, ich bin Spezialist
Für schwere Geburten und seh ja
Wie elend Dein Zustand ist
Dein Kind ist längst übertragen
Und du siehst aus wie das Grab
Und unter deinem Herzen,
Da fault eine Hoffnung ab
Das Kind ist verdorben gestorben
Was dir unterm Herzen ruht
Das stinkt vor sich hin und vergiftet
Dir mörderisch das Blut
Es ist zum Heulen, zum Lachen
Zum Haareausraufen, zum Schrein
Du trägst unter deinem Herzen
Ein Riesenkadaverlein.
Hör auf mit dem Eiapopeia!
Hör auf und finde Dich ab!
Wir werden den Riesen begraben,
In einem Riesengrab.
Und wenn du dich erst erholt hast
Versuchst du es eben nochmal
Und Väter für neue Kinder,
die findest du allemal.
Und wird es auch kein Riese
Und wird wie die anderen sind
So wird es doch ’ne Hoffnung
Wie jedes Erdenkind.33
Die drastische Bildlichkeit der Totgeburt schließt an die in Biermanns Autobiographie prominente Metaphorik der Mutter-Kind-Beziehung an, die in seinem Fall umso enger war, als der Verlust des Vaters, wie es im Vorwort von Warte nicht auf bessre Zeiten heißt, zum zentralen Motiv seines künstlerischen und politischen Lebens wurde. Der Liedermacher, der schon im Mutterleib Kommunist war, wie er selbst schreibt, rückt damit in eine Beziehung zu dem »Riesenkadaverlein« im Leib der Mutter Erde bzw. möglicherweise der Menschheit. Dass die Lösung vom Kommunismus so schmerzhaft wie existenziell ist, betont nicht nur die drastische Bildlichkeit der Verse, sondern wird in der musikalischen Sprache durch aggressiv wirkendes Affektpathos moduliert, das in einen wirkungsvollen Gegensatz zu den ebenfalls angeschlagenen leisen Tönen gerät. Diese kommen bemerkenswerterweise auch da zum Einsatz, wo es um die Väter geht, die geradezu belächelt und als austauschbar qualifiziert werden. Die Väter des Kommunismus, bei denen es sich ja gerade nicht um unbedeutende Namen handelt, werden hier en passant abserviert.34
5. Enfants perdus
Weiterführend ist aber ein anderer intertextueller Verweis, der sich sowohl im offenen Brief als auch in der Autobiographie findet, der Hinweis auf Heinrich Heines Gedicht Enfant perdu. Heine wird in der Autobiographie immer wieder erwähnt, als Lieblingsdichter der Eltern35, der für Biermann selbst zum literarischen Tongeber wurde. In seiner Autobiographie bezeichnet er ihn als seinen »frechen Cousin«36, aber auch etwas despektierlich als »Champagner- und Austern-Kommunisten«37. Einmal mehr lässt sich das Einschreiben in eine historische Renegatenfamilie feststellen. Viele Biermann’sche Verse klingen in der Tat sehr nach Heine. Heines Epos Deutschland. Ein Wintermärchen hat Biermann bekanntlich nachgedichtet.38 Und als Renegat ist auch Heine bezeichnet worden, allerdings in religiöser Hinsicht, nämlich in Bezug auf seine Taufe und das später erneuerte Bekenntnis zum Judentum.39 Heines Gedicht Enfant perdu lautet folgendermaßen:
Enfant perdu
Verlorner Posten in dem Freiheitskriege,
Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus.
Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege,
Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus.
Ich wachte Tag und Nacht. – Ich konnt nicht schlafen,
Wie in dem Lagerzelt der Freunde Schar –
(Auch hielt das laute Schnarchen dieser Braven
Mich wach, wenn ich ein bißchen schlummrig war).
In jenen Nächten hat Langweil ergriffen
Mich oft, auch Furcht – (nur Narren fürchten nichts) –
Sie zu verscheuchen, hab ich dann gepfiffen
Die frechen Reime eines Spottgedichts.
Ja, wachsam stand ich, das Gewehr im Arme,
Und nahte irgendein verdächtger Gauch,
So schoß ich gut und jagt ihm eine warme,
Brühwarme Kugel in den schnöden Bauch.
Mitunter freilich mocht es sich ereignen,
Daß solch ein schlechter Gauch gleichfalls sehr gut
Zu schießen wußte – ach, ich kanns nicht leugnen –
Die Wunden klaffen – es verströmt mein Blut.
Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen –
Der eine fällt, die andern rücken nach –
Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen
Sind nicht gebrochen – nur mein Herze brach.40
Entstanden ist das Gedicht wohl 1849, es gehört zu Heines sog. ›Gedichten aus der Matratzengruft‹. 1851 erschien es im Romanzero, Heines dritter großer Lyriksammlung. Klaus Briegleb zufolge ist es als »autobiographische Rechenschaftsablage im politischen Kontext«41 zu sehen. Der Sprecher des Gedichts, der hier im Freiheitskampf fällt, ist das ›enfant perdu‹. Das Gedicht zeugt von Resignation; sein ursprünglich vorgesehener Titel lautet »Verlorene Schildwacht«. Resignativ sind die Verse deshalb, weil der Freiheitskrieg, von dem hier die Rede ist, zum Stellungskrieg erstarrt scheint. Die Fronten stehen sich gegenüber.42 Zwar kann sich die lyrische Sprechinstanz zugute halten, dass sie unbesiegt geblieben ist und ihre Waffen nicht gebrochen sind; das bedeutet, dass die ideologische Position, für die gekämpft wurde, nicht revidiert werden muss. Die Waffen, d.h. die Ideologien bleiben, aber die Menschen sterben – sinnlos.
Biermann hat ebenfalls ein Gedicht mit dem Titel Enfant perdu geschrieben. Es handelt sich um ein achtstrophiges Lied, das die Flucht von Florian Havemann, dem Sohn von Robert Havemann, einem von Biermanns genannten Lieblingsrenegaten, im Jahr 1971 zum Thema hat und das Biermann auch auf dem Kölner Konzert 1976 vorgetragen hat. Da es sich um ein sehr langes Gedicht handelt, seien im Folgenden nur die erste und die siebte Strophe wiedergegeben.
Enfant perdu
1
Der kleine Flori Have-
Zwei-Meter-Mann, das brave
Das uralt kluge Kind
Ist abgehaun nach Westen
Mit seiner derzeit Festen
– Wie die wohl rüber sind?
Er ist hinüber – enfant perdu
Ach, kluge Kinder sterben früh
Von Ost nach West – ein deutscher Fall
Laß, Robert, laß sein
Nee, schenk mir kein’ ein!
Abgang ist überall
[…]
7
Die DDR, auf Dauer
Braucht weder Knast noch Mauer
Wir bringen es so weit!
Zu uns fliehn dann in Massen
Die Menschen, und gelassen
Sind wir drauf vorbereit‘
Er ist hinüber…
Zwar werden hier durchaus DDR-kritische Töne angeschlagen, die Flucht von Florian Havemann43 wird aber auch verurteilt. Trotzdem singt und schreibt Biermann auch für ihn, diesen Verlorenen, wie es in der letzten Strophe heißt (»Trotzalledem, ich schreibe / Und singe hier und bleibe / für Flori Havekind«). Es ist ein Singen, das in der Situation des Kölner Konzerts sowohl vor und hinter der Mauer, wie immer die Lokalisierung gesehen wird, stattfindet. So ganz genau weiß man’s nicht, wo der Sänger steht; vielleicht ist er auf dem Sprung… Jedenfalls betrachtet Koschorke den Renegaten als eine »erzählerisch dankbare Figur«, insofern als er mit Lotman »eine topologisch oder semantisch codierte Grenze« überquert.44 Worauf es in diesem Zusammenhang aber ankommt, ist, dass es hier wieder um ein Kind geht, um ein verlorenes Kind, das auf der einen Seite ähnlich ›hinüber‹ ist wie die kommunistische Totgeburt der Mutter Erde, andererseits ›hinüber‹ wie Wolf Biermann später auch. Dass er zum Zeitpunkt des Kölner Konzerts auch schon ›hinüber‹ ist, wusste er damals allerdings noch nicht.45 Dass der Renegat eine liminale Schwellenfigur ist, wird in dieser Situation besonders deutlich. Während das Heine’sche »Enfant perdu«-Gedicht zwar die Ungebrochenheit eines politischen Standpunkts betont, aber zugleich von der Erstarrung der politischen Fronten spricht, gibt es in Biermanns Gedicht noch Hoffnung auf politische Veränderung, auch wenn der eigene Standpunkt wie bei Heine dabei (noch) nicht zur Disposition steht.
6. Renegat und Konvertit
Einen vergleichbaren ›Wechselgesang‹ vollführt indessen auch der Titel von Biermanns Autobiographie: Warte nicht auf bessre Zeiten. Der Titel ist zugleich der Titel eines früheren Biermann’schen Lieds, das mit spürbarer Dringlichkeit noch zum Aufbau eines besseren Sozialismus aufruft.46 Die vierte Strophe erscheint dabei als von besonderer Emphase getragen:
Viele werden dafür sorgen
Daß der Sozialismus siegt
Heute! Heute, nicht erst morgen!
Freiheit kommt nie verfrüht
Und das beste Mittel gegen
Sozialismus (sag ich laut)
Ist, daß ihr den Sozialismus
AUFBAUT!!! Aufbaut! (aufbaut)47
Im Titel der Autobiographie, d.h. im Rückblick der Lebensbilanz, bekommt der Titel eine andere Bedeutung, die konträr zur Bedeutung des Liedtitels steht. Während das Lied noch zum Aufbau des wahren Sozialismus aufruft, dabei aber fast beschwörend wirkt, klingt der Titel der Lebensbeschreibung eher resignativ oder zumindest ernüchtert, als wolle er sagen, dass es sich nicht mehr lohne, auf bessere sozialistische Zeiten zu warten. Dieser Titel der Autobiographie scheint mit Bedacht gewählt, fasst er doch ein Leben zusammen, das von einem Wendepunkt, d.h. einem Konversionsmoment, geprägt ist, der sich als solcher aber nicht dingfest machen lässt.48 Das Kölner Konzert von 1976 setzt diesen unverfügbaren Moment lediglich ins Bild, zeigt es doch den Liedermacher von ›drüben‹, wie er schon ›hinüber‹ ist, ohne es zu wissen. Dies bezieht sich auf die physische Präsenz; wie es dabei in Kopf und Herz des Sängers aussieht, muss verborgen bleiben. Der Moment der Konversion kann nur sprachlich-rhetorisch evoziert werden, indem er sich im aufgerufenen Selbstzitat des Titels – ganz im Sinn der Wortbedeutung von ›conversio‹ – gegen sich selbst wendet und seine ursprüngliche Bedeutung in das Gegenteil verkehrt.
Wie zu zeigen war, spielen in Biermanns Autobiographie Renegatensemantik und das Genre der Konversionsnarration einander kalkuliert in die Hände, insofern als der aus der Perspektive des ›verratenen‹ Lagers negativ konnotierte Renegatenbegriff durch den positiv besetzten Begriff der Konversion, der von der ›richtigen‹ Seite her blickt, konterkariert und positiviert wird. Im Zusammenhang der Autobiographie, über die sich der Autor als homo politicus in das System der Bundesrepublik eingliedert, indem er rückblickend seine Konversion zur parlamentarischen Demokratie erzählt, arbeitet das Motiv des Renegaten einer narrativen Dynamisierung zu, insofern als es Wechselblicke von diesseits und jenseits politischer Grenzen sowie von Fremd- und Selbstzuschreibung auf rhetorisch geschickte Weise ins Werk setzt.
Literaturverzeichnis
Abbildungen
Fußnoten
1 DWDS (2023): Renegat. Dwds.de: https://www.dwds.de/wb/Renegat. 19.05.2023. 2 Vgl. Wikipedia (2023): Renegat. Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Renegat. 19.05.2023. 3 Im DWDS: »Renegat m. ›Abtrünniger, Leugner‹ (seines Glaubens oder einer Überzeugung), Entlehnung (16. Jh.) von frz. renégat, dies nach ital. rinnegato und wohl span. renegado, also ursprünglich ›jmd., der vom Christentum zum Islam übergetreten ist‹. Zugrunde liegt mlat. renegatus m., substantiviertes Part. Perf von mlat. renegare ›verleugnen‹, aus lat. negāre ›verneinen, ablehnen‹ und re- (s. d.)« (DWDS: Renegat). 4 Die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 widmet Heft 1 des Jahrgangs 2023 dem Begriff und Konzept des ›Renegaten‹, vgl. darin einführend die Herausgeberinnen: Amlinger, Carolin/ Gess, Nicola/ Liese, Lea (2023): Renegaten. Zur Gegenwart politischer Ab- und Ausgrenzungen. In: Mittelweg 36, 32/1, S. 4–16. In Entsprechung zu den obigen Überlegungen zur Begriffsgeschichte stellt auch Albrecht Koschorke in seinem Beitrag der Zeitschrift die Frage, ob der Renegat »schon dem Namen nach in der Verneinung gefangen bleibt« (Koschorke, Albrecht [2023]: Lechts und rinks. Seitenwechsel in Zeiten der Polarisierung. In: Mittelweg 36, 32/1, S. 66–78, S. 67). 5 Vgl. DWDS (2023): konvertieren. https://www.dwds.de/wb/konvertieren. 19.05.2023. 6 Den Begriff ›Liedermacher‹ will Biermann selbst in Analoge zum Brecht’schen Begriff des ›Stückeschreibers‹ erfunden und eingeführt haben, wie er im Vorwort zu der 1991 erschienenen Sammlung seiner Lieder schreibt. Gewiss nicht ohne Ironie führt er dort aus: »Inzwischen nennt man in Deutschland Liedermacher einen Menschen, der zwar nicht singen kann, aber dafür auch nicht gut Gitarre spielt. Liedermacher nennt sich, wer zwar schwache Verse schreibt, aber auch weder sich noch der Welt, die er retten will, helfen kann« (Biermann, Wolf [1991]: Vorwort. In: Biermann, Wolf: Alle Lieder. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 19.). 7 Biermann, Wolf (2016): Warte nicht auf bessre Zeiten. Die Autobiographie. Berlin: Ullstein. S. 7. 8 Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 524. 9 Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 252. 10 Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 239. 11 Amlinger, Gess und Liese benennen in ihrer Einführung als besonders prominente Renegaten Arthur Koestler, Manès Sperber und Ernst Bloch, vgl. Amlinger/ Gess/ Liese: Renegaten, S. 7. 12 Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 376–377. 13 Vgl. Müller, Julian (2023): Der politische Konvertit als Fürsprecher seiner selbst. In: Mittelweg 36, 32/1, S. 17–27, S. 19. 14 Vgl. Amlinger/ Gess/ Liese: Renegaten, S. 11. 15 Vgl. dazu das Verdikt von Friedrich Schlegel: »Reine Autobiographien werden geschrieben: entweder von Nervenkranken, die immer an ihr Ich gebannt sind, wohin Rousseau mit gehört; oder von einer derben künstlerischen oder abentheuerlichen Eigenliebe, wie die des Benvenuto Cellini; oder von gebornen Geschichtsschreibern, die sich selbst nur ein Stoff historischer Kunst sind; oder von Frauen, die auch mit der Nachwelt kokettiren; oder von sorglichen Gemüthern, die vor ihrem Tode noch das kleinste Stäubchen in Ordnung bringen möchten, und sich selbst nicht ohne Erläuterungen aus der Welt gehen lassen können; oder sie sind ohne weiteres bloß als plaidoyers vor dem Publikum zu betrachten. Eine große Klasse unter den Autobiographen machen die Autopseusten aus.« Schlegel, Friedrich (2014 [1798]): Fragmente (1798). Mit Beiträgen von August Wilhelm Schlegel, Friedrich Schleiermacher und Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin: Vieweg, S. 3–146 (Nr. 196). (Digitale Edition von Jochen A. Bär. Vechta 2014) (=Quellen zur Literatur- und Kunstreflexion des 18. und 19. Jahrhunderts, Reihe A, Nr. 60.), S. 51-52 http://www.zbk-online.de/texte/A0060.htm. 08.08.2023. 16 Es ließen sich andere Textstellen heranziehen, die das Renegatenmotiv exponieren. So ist etwa die Rede davon, dass Biermann und andere überzeugte Linke, z.B. Robert Havemann, Götz Berger oder Walter Janka, die nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 entsetzt waren über den Archipel Gulag und Stalins Massenmorde, vom Parteiapparat als »gekaufte Renegaten im Dienste des westlichen Klassenfeinds« angesehen wurden (Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 127; vgl. etwa auch S. 374). 17 Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 526. 18 Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 526. 19 Vgl. Kremer, Roman B. (2017): Autobiographie als Apologie. Rhetorik der Rechtfertigung bei Baldur von Schirach, Albert Speer, Karl Dönitz und Erich Raeder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 20 Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf, Martina (2017): Die Stimmen der Konversion. In: Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): Stimmen aus dem Jenseits/Voices from Beyond. Ein interdisziplinäres Projekt/An Interdisciplinary Project. Würzburg: Ergon. S. 54–70. 21 Vgl. Heidrich, Christian (2002): Die Konvertiten. Über religiöse und politische Bekehrungen. München: Hanser. S. 10. 22 Sabrow: Wenn der Held gegen seinen Autor zeugt, S. 296. 23 Ponzi, Mario (2017): Wolf Biermann. Die Paradoxie eines politischen Dichters im Exil. In: Links. Rivista di letteratura e cultura tedesca. Zeitschrift für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft, 17, S. 59–64 spricht von »Resemantisierung der Vergangenheit« (S. 60, 62). 24 Vgl. Heidrich: Die Konvertiten. S. 10; vgl. auch Müller: Der politische Konvertit, S. 20, 23, 25. 25 Vgl. Maxeiner, Dirk/ Miersch, Michael (2010): Wie Leo Trotzki ungewollt Gutes bewirkte. Leo Trotzki war ein rücksichtsloser Revolutionär. Am Ende brachte er viele Anhänger des Kommunismus ins Grübeln. https://www.welt.de/debatte/kolumnen/Maxeiner-und-Miersch/article9091320/Wie-Leo-Trotzki-ungewollt-Gutes-bewirkte.html. 19.05.2023. 26 Weiter heißt es in der Kolumne: »Dieser Weg von der kritiklosen Frömmigkeit über den kritischen Glauben zur Glaubenskritik kennzeichnet nicht nur kommunistische Schicksale. Es ist eine übliche Entwicklung, die viele nehmen, die – meist in jungen Jahren – einer politischen Ideologie oder dem religiösen Fanatismus gefolgt sind. Die tiefe Überzeugung gibt zunächst Halt, Sinn und dem Leben eine Richtung. Dann schleichen sich Zweifel ein, man kratzt an der ideologischen Tapete, und plötzlich kommt einem die ganze Wand entgegen. Doch zum ersten Kratzen braucht man Mut. Da hilft der Gedanke: Du bist ja gar nicht abtrünnig, nein, du bist der wahre Kommunist, Christ, Ökologist oder was auch immer. So betrachtet, zum 70. Todestag sei diese Würdigung gestattet, hat Leo Trotzki zwar nichts Gutes getan, aber Gutes bewirkt.« Maxeiner/ Miersch: Wie Leo Trotzki ungewollt Gutes bewirkte. 27 Vgl. Wolf Biermann (2010): Ich bin ein Verräter. https://www.welt.de/welt_print/debatte/article9227287/Ich-bin-ein-Verraeter.html. 19.05.2023. 28 Amlinger/ Gess/ Liese: Renegaten, S. 8 machen darauf aufmerksam, dass im Fall Biermanns der Bruch vom Staat herbeigeführt wurde. 29 Biermann: Ich bin ein Verräter. Auch hier werden den qualifizierenden Substantiven adjektivische Spezifikationen hinzugefügt. Das paronomastische Schein-Polyptoton »trotziger Anhänger Trotzkis« führt die rhetorische Faktur des Biermann’schen Texts vor Augen. 30 »Doch nach dem Fall der Mauer wurde derselbe Moneta Vorstandsfunktionär der SED-Nachfolgepartei PDS. Nach meiner Erfahrung kann aus einem waschechten Trotzkisten, egal aus welcher sektiererischen Gruppierung, alles werden: ein SPD-Mann, ein CDU-Mitglied, ein fundamentaler Moslem, ein RAF-Terrorist, ein Banker, ein Immobilienhai oder ein Sozialfall, er kann sich sogar umoperieren lassen zur Frau – aber ein Mitglied der stalinistischen Bande wird er nur dann, wenn er es im Grunde immer schon heimlich war«, heißt es sechs Jahre später in der Autobiographie (Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 322). 31 Biermann: Ich bin ein Verräter. Und Biermann ergänzt: »Es ist bekannt, dass etwa 80 Prozent der Trotzki-Kader Agenten der sowjetischen Geheimdienste und ihrer Filialen im sozialistischen Lager waren. Also erkannte ich nun, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass mein Freund Jakob von Anfang an ein Agent Provocateur und eine Kreatur im Apparat des MfS-Generals für West-Spionage, Markus Wolf, gewesen sein muss. Und die ganze Einladung im Herbst 1976, als der Ost-Berliner Wolf im westlichen Wald von Sprockhövel seine Lieder heulen sollte, war offensichtlich eine Hundefängerei, die allerdings aus erkennbaren Gründen gründlich ihre Ziele verfehlte. Ein Roman das alles!« (vgl. Biermann: Ich bin ein Verräter.). 32 »1982 schrieb ich dann der kommunistischen Utopie das endgültige Abschiedslied, meine Ballade ›Die Mutter Erde geht schwanger‹ – wo ich das ›Riesenkadaverlein‹, den Kommunismus, ordentlich zu Grabe gesungen habe. Ich wollte nie mehr in irgendein soziales Narrenparadies aufbrechen und dann zwangsläufig in die totalitären Höllen geraten. Ich begriff, dass der Kommunismus, das ist ja die ideale Endlösung der sozialen Frage, ein blutiger Irrweg sein muss. Dabei liebte ich schon immer und in allen Religionen die frommen und tapferen und treuen Ketzer. Also musste auch ich endlich mit meiner eingeborenen kommunistischen Kirche brechen. In dem, was Heinrich Heine in seinem Gedicht ›Enfant Perdu‹ den Freiheitskrieg der Menschheit nannte, will ich seitdem als Soldat wohl tapfer weiterkämpfen, aber ohne den Kinderglauben an den Kommunismus.« (vgl. Biermann: Ich bin ein Verräter.). 33 Biermann, Wolf (1991): Die Mutter Erde geht schwanger. In: Biermann, Wolf: Alle Lieder. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 359–361. 34 Ob hier ein Bezug zur autobiographischen Wunde ›Vater‹ vorliegt, muss notwendig Spekulation bleiben. In Warte nicht auf bessre Zeiten wird immer wieder auch Biermanns Virilität, d.h. seine auf vier Beziehungen zu Frauen zurückgehende neunfache Vaterschaft thematisch; zum Genderaspekt des zumeist männlichen Renegaten vgl. auch Amlinger/ Gess/ Liese: Renegaten, S. 12. 35 Vgl. Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 353. 36 Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 351. 37 Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten, S. 354. 38 Vgl. Biermann, Wolf (1977): Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Biermann, Wolf: Nachlaß I. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 87–146. 39 Vgl. Grözinger, Elvira (2013): Die Schatten des Tals von Ronceval. Sepharads Spuren bei Heinrich Heine. In: Pardes. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V., 19: Galut Sepharad in Aschkenas. Sepharden im deutschsprachigen Kulturraum, S. 123–143, S. 140. 40 Heine, Heinrich (1976): Enfant perdu. In: Heine, Heinrich: Romanzero. In: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. Bd. 11: Schriften 1851–1855. Wien: Hanser, S. 120–121. 41 Briegleb, Klaus (1976): Kommentar zum Romanzero. In: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Bd. 12. Kommentar zu Bd. 11. Anhang zur Gesamtausgabe. München, Wien: Hanser, S. 58. 42 Koschorke: Lechts und rinks, S. 66 diskutiert den Renegaten im Kontext »verstärkter politischer Lagerbildung«. 43 Der 1952 geborene Florian Havemann veröffentlichte 2007 unter dem Titel Havemann eine Autobiographie, in der er nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seines Vaters und seines Großvaters beschrieb. Nachdem mehrere bekannte Persönlichkeiten Streichungen einklagten, erschien 2008 eine revidierte, jedoch mit Schwärzungen versehene Ausgabe. 44 Koschorke: Lechts und rinks, S. 67. 45 Dazu schreibt Martin Sabrow: »Und [Biermann] erinnert seine Leser selbst daran, dass er bei seinem berühmten und folgenreichen Kölner Konzert 1976 nicht nur den Juni-Aufstand von 1953 als janusköpfige Mischung von Faschistenputsch und Arbeiterrevolution hingestellt habe, sondern sich an diesem Abend immer noch zwischen radikaler SED-Kritik und ›bolschewistischer Nibelungentreue‹ zerrissen fühlte« (Sabrow: Wenn der Held gegen seinen Autor zeugt, S. 295–296). Zum Medienecho von Biermanns Ausbürgerung vgl. de Maere d’Aertrycke, Magdalena (2012): Der Wolf im Schafspelz, Polit-Träumer, Staatsvertreter oder ein deutscher Fall? Das Bild Biermanns in der BRD-Presse nach der Ausbürgerung aus der DDR. In: Studia niemcoznawcze. Studien zur Deutschkunde, 50, S. 291–296. Biermann sei zur Symbolfigur für geistiges Grenzgängertum geworden, der sich »seit je zwischen zwei Stühle« (S. 294) setze, hieß es in der Frankfurter Rundschau im November 1976. Und Marcel Reich-Ranicki schrieb in der Frankfurter Allgemeinen: »Wir haben jetzt einen Feind mehr. Gleichwohl begrüßen wir diesen Feind, vor dem wir Respekt haben« (zit. n. de Maere d’Aertrycke: Das Bild Biermanns in der BRD-Presse, S. 294.). 46 Vgl. Biermann, Wolf (1977): Warte nicht auf beßre Zeiten. In: Biermann, Wolf: Nachlaß I. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 73–74. 47 Biermann: Warte nicht auf beßre Zeiten, S. 74. 48 Hier mag durchaus eine Doppelbedeutung von ›Moment‹ mitschwingen, ein zeitlicher Moment (Maskulinum), aber auch ein Wirk- und Kraftmoment (Neutrum); vgl. dazu Wagner-Egelhaaf, Martina (2020): Sich entscheiden. Momente der Autobiographie bei Goethe. Göttingen: Wallstein, S. 27–36.