Nicolas Weisensel: Von getrennter Weltauffassung zu Naturenkulturen. Ludwig Boltzmanns Reisebericht Reise eines deutschen Professors ins Eldorado und Franz Kafkas Der Verschollene1  

Abstract: In his America travelogue Reise eines deutschen Professors ins Eldorado (1905), the Austrian physicist Ludwig Boltzmann took a surprisingly similar route to that of the protagonist Karl Roßmann in Franz Kafka’s novel Der Verschollene. So far, however, Boltzmann’s report has not been made fruitful for interpretations of Kafka’s Der Verschollene. This is the aim of this work. In the analysis, both texts are compared against the background of the concept of entangled naturecultures (Karen Barad, Donna Haraway). Given the great similarities in the descriptions of different places and topics—this applies, e.g., to the New York harbor, country houses, theaters and landscape descriptions during train journeys through the USA—Boltzmann’s travelogue, in which, according to my thesis, a rather separated worldview is represented, serves as a contrasting foil in order to make visible a specific, intertwined worldview in the sense of naturecultures in Kafka’s Der Verschollene. Boltzmann’s travel text as a historical parallel text can thus contribute to a better understanding of Kafka’s novel.

Keywords: Franz Kafka, Ludwig Boltzmann, Der Verschollene, USA, Naturenkulturen, naturecultures, entanglement, Environmental Humanities, New Materialism, Donna Haraway, Karen Barad, Hafen, Eisenbahn, Landschaft

In seinem Reisebericht Reise eines deutschen Professors ins Eldorado, der erstmals 1905 als Kapitel in der Publikation Populäre Schriften erschien, beschreibt der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann seine Überfahrt von Bremen nach New York, eine daran anschließende Zugreise durch die USA nach San Francisco und den dortigen Aufenthalt an der »Universität Berkeley« [sic].2 Auch der Protagonist Karl Roßmann in Franz Kafkas Roman Der Verschollene beschreitet eine ähnliche Reiseroute von Osten nach Westen, beginnend mit der Ankunft in New York und endend mit der Zugfahrt zum phantastischen »Teater von Oklahama« [sic] (V, 387).3

Im vorliegenden Aufsatz sollen beide Texte gegenübergestellt werden, um originäre Merkmale von Kafkas Text herauszuarbeiten und damit eine neue Interpretation vor dem Hintergrund des Naturenkulturen-Konzepts zu ermöglichen. Neben erstaunlichen inhaltlichen Parallelen sprechen für eine vergleichende Untersuchung von Boltzmanns Eldorado-Reisebericht und Kafkas Verschollenem textgenetische, zeitliche und räumliche Aspekte, darunter: erstens der Zeitpunkt von Boltzmanns Veröffentlichung im Jahr 1905 (die Entstehungszeit des Verschollenen liegt zwischen 1911 und 1914);4 zweitens die Tatsache, dass Boltzmann Professor in Wien war; drittens, dass Boltzmann mit Albert Einstein zu tun hatte, der sich von 1911–1912 in Prag aufhielt und dessen Vorträge Kafka besuchte;5 viertens, dass sich Kafka intensiv für physikalisch-philosophische Debatten seiner Zeit interessierte;6 sowie fünftens, dass Boltzmanns Buch explizit populär ausgerichtet war.7 Kafka hätte Boltzmanns Reisebeschreibung durchaus kennen können.

Methodisch könnte sich die vorliegende Untersuchung damit einerseits an der Einflussphilologie orientieren, jedoch sind die inhaltlichen Ähnlichkeiten zwischen Boltzmanns und Kafkas Text lediglich Indizien, keinesfalls aber als Beweise für ein Rezeptionsverhältnis.8 Andererseits wäre methodisch eine Untersuchung in Form einer (historischen) Diskursanalyse denkbar.9Ich möchte hier eine dritte Vorgehensweise vorschlagen, nämlich eine vergleichende Analyse vor dem Hintergrund der Environmental Humanities und dem Konzept der entangled naturecultures,10 auf welches ich im Folgenden näher eingehen werde. Bei den großen Ähnlichkeiten kann dabei Boltzmanns Reisebericht, in dem, so meine These, eher eine trennende Weltauffassung vertreten wird, als Kontrastfolie dienen, um in Kafkas Verschollenem eine spezifische verflochtene Weltauffassung im Sinne der Naturenkulturen sichtbar zu machen.

Es gibt in der Kafka-Forschung vereinzelte Hinweise darauf, dass Boltzmann als ein Vertreter der atomistischen Physik,11 die später durch Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenphysik – Bohr, Heisenberg, Planck, Schrödinger – abgelöst wurde,12 eine der prägenden intellektuellen Figuren zu Kafkas Zeit war.13 Bisher hat die Kafka-Forschung Ludwig Boltzmanns Reise eines deutschen Professors ins Eldorado jedoch nicht für Interpretationen von Kafkas Der Verschollene fruchtbar gemacht. Dies soll mit dieser Arbeit geschehen.

Theoretische Grundlagen: entangled naturecultures

Als theoretischen Ausgangspunkt für den vorliegenden Aufsatz möchte ich mich vor allem auf zwei sich nahestehende Konzepte aus dem Bereich der Environmental Humanities beziehen: naturecultures (Donna Haraway; dt. »Naturenkulturen«) und entanglement (Karen Barad; dt. etwa »Verschränkung«, »Verflechtung«, »Ineinander-Gewebe«), die beide der Strömung des New Materialism (dt. »Neuer Materialismus«) zuzuordnen sind.14

Donna Haraway nutzt das Konzept der naturecultures, um auf eine »Vermischung« der Dinge hinzuweisen: »Never purely themselves, things are compound.«15 Der ›Natur‹-Kultur-Dualismus (und damit eine vermeintliche Trennung von ›Natur‹ und Mensch) wurzelt ihrer Sicht nach in einer vielschichtigen Aneignung von ›Natur‹. Sie versteht die Welt als ein »Spiel« von companion species, wobei nicht (mehr) der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern Intra- und Interaktion, Gegenseitigkeit, Begegnung, Beziehung und »Werden« (»becoming with«). Bei diesem »Spiel« kann alles denkbar Mögliche als »agent« beteiligt sein, etwa Technologien, Organismen, Landschaften, Menschen.16 In ihrem Werk Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene hält Haraway fest: »Natures, cultures, subjects, and objects do not preexist their intertwined worldings. Companion species are relentlessly becoming-with.«17 Dabei bezieht sie sich auch auf Karen Barad: »Barad’s agential realism and intra-action become common sense, and perhaps a lifeline for Terran wayfarers.«18

Haraway untersucht in ihren Studien vor allem auch den materiellen Körper, dem eine andere Bedeutung zukommt als in der humanistischen Philosophie Descartes’scher Prägung. Körper sind keine bloßen, Maschinen ähnliche Objekte, die von rationalen Menschen (meist weißen Männern) definiert werden, sondern sie sind selbst aktiv an der Produktion von Bedeutung beteiligt. […] Das heißt, die Grenzen zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Dingen entstehen erst in ihrer materiellen wie sozialen Interaktion, während sie sich gegenseitig bedingen und formen. Natur und Kultur sind in Haraways Konzeption auf komplexe Weise miteinander verwoben, was sie in dem Begriff »Natureculture« zu verdeutlichen sucht.19

Der Begriff entanglement hat seinen wissenschaftlichen Ursprung in der Quantenphysik und beschreibt dort die Quantenverschränkung.20 In den letzten Jahren wurde dieser verstärkt in die Geistes-‍, Kultur- und Sozialwissenschaften übertragen. Maßgeblich für diese Übertragung war das Werk Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning von Karen Barad.21 In ihrer Arbeit bezieht sie sich auf die Quantentheorie Niels Bohrs, der eine atomistische Metaphysik und die kartesische Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt in Frage stellt. Stattdessen schlägt sie als primäre ontologische Einheit Phänomene vor. Für Barad gibt es, in Anlehnung an Bohr, keine von vornherein festgelegten Grenzen von Entitäten (»things do not have inherently determinate boundaries or properties«),22 vielmehr werden diese im Prozess der »intra-action« immer wieder neu erschaffen:

It is through specific agential intra-actions that the boundaries and properties of the components of phenomena become determinate and that particular concepts (that is, particular material articulations of the world) become meaningful. […] relata do not preexist relations; rather, relata-within-phenomena emerge through specific intra-actions. […] The world is a dynamic process of intra-activity and materialization in the enactment of determinate causal structures with determinate boundaries, properties, meanings, and patterns of marks on bodies.[23]

Die Welt wird in diesem Sinne verstanden als ein dynamischer »ongoing flow of agency«, als »open process of mattering« und »ongoing reconfiguring«.24

Der New Materialism bietet somit, so Heather I. Sullivan, vor allem zwei Hauptthesen an: »erstens, dass wir nicht von der sonstigen Welt getrennt sind, sondern daran wie alles Wirkende auf der Erde teilhaben; zweitens […], dass das Ineinander-Gewebe (entanglement) des Materiellen Formen des Kommunizierens und Interpretierens hervorbringt.«25 Diese ontologische Perspektive möchte ich für meine Interpretation von Franz Kafkas Der Verschollene fruchtbar machen, indem ich mittels einer vergleichenden Gegenüberstellung des historischen Paralleltexts Reise eines deutschen Professors ins Eldorado von Ludwig Boltzmann, ausgehend von inhaltlichen Ähnlichkeiten, spezifische Eigenheiten von Kafkas Amerika-Roman herausarbeite. Durch dieses theoretisch-methodische Verfahren wird eine neue Interpretation von Kafkas Der Verschollene möglich. Meine These dabei lautet: Franz Kafkas Der Verschollene ist ein Roman, in dem sich – im Gegensatz zu großen Teilen von Boltzmanns Reisebericht – eine spezifische dynamisch-verflochtene Weltauffassung konstituiert, welche als entangled naturecultures beschrieben werden kann.

Inhaltliche Analyse und Interpretation

Bei einem inhaltlichen Vergleich der Texte ist grundsätzlich festzustellen, dass beide Hauptprotagonisten – Ludwig Boltzmann und Karl Roßmann, die einen überraschend ähnlichen Familiennamen tragen –26 nahezu dieselbe Reiseroute beschreiten. Beide überqueren zu Beginn ihrer Reise den atlantischen Ozean von Norddeutschland aus – Boltzmann von Wien kommend über Bremen, Roßmann von einem ungenannten Ort über Hamburg – und treffen schließlich mit dem Schiff in New York ein. Von dort bewegen sie sich Richtung Westen. Boltzmann reist mit der Eisenbahn bis nach San Francisco, Roßmann ist mit dem Automobil (etwa zum »Landhaus bei New York«), zu Fuß (etwa im »Marsch nach Ramses«) und zuletzt ebenfalls mit der Eisenbahn zum »Teater von Oklahama« (V, 387) unterwegs. Potenziell könnte Roßmann bei seiner Zugfahrt, genauso wie Boltzmann, die »Southern Pacific Railroad« (E, 411) genutzt haben. Beachtenswert in diesem Kontext ist außerdem eine Streichung Kafkas: Ursprünglich sollte für das »Teater« von San Francisco aus angeworben werden, worauf Jörg Wolfradt hinweist.27 Im Verschollenen findet die Stadt zudem eine Erwähnung im Landhaus bei New York: Dort übergibt Herr Green Karl Roßmann »eine Karte Dritter nach San Francisko« (V, 124). Als ursprüngliches Reiseziel für die Figur Karl Roßmann war von Kafka im Verschollenen also wohl auch – genau wie bei Ludwig Boltzmann – San Francisco angedacht.

Boltzmann beschreibt in seiner Reiseerzählung verschiedene Orte und Themen, die in Kafkas Roman ebenso eine tragende Rolle spielen. Auf einige Beschreibungen möchte ich hier genauer eingehen, darunter das Meer, Wellen, Schiffe, Hafen, New York, Landhaus, Theater, Eisenbahn und Landschaft. Erstaunlich sind dabei einerseits die Parallelen zwischen Boltzmanns und Kafkas Text, exemplarisch zu nennen etwa der Verkehr, welcher durch Beschleunigung und Geschwindigkeit bestimmt wird. Andererseits lassen sich in Kafkas Text systematische und strukturelle Unterschiede erkennen, die sich als eine reflexive Distanz zu historischen Diskursen lesen lassen und eine spezifische naturkulturelle Weltauffassung zum Ausdruck bringen.

Hafen: Meer, Wellen, Schiffe

Der Hafen als Ort der Grenze zwischen Wasser und Land, Schiffe und der Ozean stellen für eine durch die Environmental Humanities gerahmte Untersuchung einen besonders interessanten Gegenstand dar.28 In seiner Reiseerzählung zeigt sich Boltzmann zunächst auffällig begeistert und emotional ergriffen vom »großen Ozean« und seinem »Wellenspiel«, insbesondere während seiner Überfahrt mit dem Schiff »Kronprinz Wilhelm« nach Amerika (und der Rückfahrt mit der »Kaiser Wilhelm II«) (E, 408f., 425). So schreibt er relativ zu Beginn seines Berichts:

Lieber Leser! Meine Eile ist groß, aber die Meerfahrt von Bremen bis New York mit diesem banalen Witz ganz abzutun, bin ich doch nicht imstande. Die großen Ozeandampfer gehören zu dem Bewunderungswürdigsten, was der Mensch geschaffen hat und die Fahrt damit findet man bei jeder Wiederholung wiederum schöner. Das wundervoll brausende Meer jeden Tag wieder anders und jeden Tag wieder staunenswürdiger! Heute weißschäumend, wild stürmend. Siehe das Schiff dort! Nun ist es von den Wellen verschlungen! Nein! Schon taucht der Kiel wieder siegend empor.
Morgen ist das Wetter ruhig, das Meer glatt aber nebelgrau; nebelgrau auch der Himmel, wie man die Melancholie malt. Dann bricht die Sonne aus dem Nebel, und gelbe und rote Funken tanzen auf den Wellen zwischen den tiefschwarzen Flächen der Wolkenschatten, das goldige Licht vermählt sich der Finsternis. Und dann ist wiederum der ganze Himmel blau, und das Meer, azur in weiß, strahlt von so überwältigendem Glanze, daß man die Augen schließen muß. Nur an auserwählten Tagen schmückt es sich mit dem schönsten, dem ultramarinblauem Kleide, eine Farbe so dunkel und doch so leuchtend, mit milchweißem Schaume wie mit Spitzen eingefaßt! Ich lachte einmal, als ich las, daß ein Maler nach einer einzigen Farbe Tage und Nächte suchte; jetzt lache ich nicht mehr darüber. Ich habe beim Anblick dieser Farbe des Meeres geweint; wie kann uns eine bloße Farbe weinen machen? Dann wieder Mondesglanz oder Meerleuchten in pechschwarzer Nacht! Um von allen diesen Herrlichkeiten einen Begriff geben zu können, müßte man Maler sein und dann könnte man es erst recht nicht. (E, 408f.)

Im weiteren Verlauf schildert Boltzmann eindringlich die Einfahrt in den New Yorker Hafen:

Wenn ich dann im Hafen von New York einfahre, so erfaßt mich immer eine Art Rausch. Diese turmhohen Häuser und die alles überragende Statue der Freiheit mit der Fackel! Dabei dieses Pfeifen und Singen der Schiffe durcheinander; das eine schroff warnend, das andere erschreckt aufschreiend, das eine munter pfeifend, das andere in Quarten melancholisch jammernd; dort erschallen gar die unnachahmlichen Töne der Sirenen! Wenn ich ein Musiker wäre, ich würde eine Symphonie komponieren: Der Hafen von New York.
Doch damals hatte ich keine Zeit zur Sentimentalität. (E, 410)

Auch in Franz Kafkas Verschollenem nehmen Wellen, Schiffe und der New Yorker Hafen eine besondere Rolle ein, so etwa zu Beginn des Romans im Heizer-Kapitel während der Überfahrt Karl Roßmanns mit der »Hamburg Amerika Linie« (V, 13). Dort schreibt Kafka:

Der Heizer klopfte respektvoll an der Türe an und forderte, als man »herein« rief, Karl mit einer Handbewegung auf, ohne Furcht einzutreten. Er trat auch ein, aber blieb an der Türe stehn. Vor den drei Fenstern des Zimmers sah er die Wellen des Meeres, und bei Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegung schlug ihm das Herz, als hätte er nicht fünf lange Tage das Meer ununterbrochen gesehen.29 Große Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben dem Wellenschlag nur soweit nach, als es ihre Schwere erlaubte. Wenn man die Augen kleinmachte, schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken. Auf ihren Masten trugen sie schmale aber lange Flaggen, die zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber noch hin und her zappelten. Wahrscheinlich von den Kriegsschiffen her erklangen Salutschüsse, die Kanonenrohre eines solchen nicht allzuweit vorüberfahrenden Schiffes, strahlend mit dem Reflex ihres Stahlmantels, waren wie gehätschelt von der sichern, glatten und doch nicht wagrechten [sic] Fahrt. Die kleinen Schiffchen und Boote konnte man wenigstens von der Tür aus nur in der Ferne beobachten, wie sie in Mengen in die Öffnungen zwischen den großen Schiffen einliefen. Hinter alledem aber stand Newyork und sah Karl mit den hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja in diesem Zimmer wußte man, wo man war. (V, 19f.)

Wenig später heißt es:

Inzwischen gieng vor den Fenstern das Hafenleben weiter, ein flaches Lastschiff mit einem Berg von Fässern […] zog vorüber und erzeugte in dem Zimmer fast Dunkelheit, kleine Motorboote […] rauschten nach den Zuckungen der Hände eines am Steuer aufrecht stehenden Mannes schnurgerade dahin, eigentümliche Schwimmkörper tauchten hie und da selbstständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich wieder überschwemmt und versanken vor dem erstaunten Blick, Boote der Ozeandampfer wurden von heiß arbeitenden Matrosen vorwärtsgerudert und waren voll von Passagieren, […] wenn es auch manche nicht unterlassen konnten, die Köpfe nach den wechselnden Scenerien zu drehn. Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke. (V, 26f.)

Vor allem drei Dinge treten bei Boltzmanns und Kafkas Beschreibungen auffällig und gleichermaßen in Erscheinung, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt und gewichtet: erstens eine emotionale Ergriffenheit der Protagonisten, zweitens konstante Bewegung und Transformation, sowie, drittens Wechselwirkung.29

Sowohl bei Boltzmann als auch bei Kafka ist zu beobachten, dass das Meer mit seinem »Wellenspiel« und der Hafen eine starke emotionale Reaktion der Hauptfiguren verursachen. So berichtet Boltzmann von einem »wundervoll brausende‍[n; N.W.] Meer«, das »jeden Tag wieder anders und jeden Tag wieder staunenswürdiger« ist. Das Spiel der Farben und des Lichts ist für Boltzmann »überwältigend« und beim Anblick einer bestimmten »Farbe des Meeres« ist Boltzmann so ergriffen, dass er weint. Auch bei der Einfahrt in den New Yorker Hafen erfasst Boltzmann »immer eine Art Rausch«. In Kafkas Roman bewirkt der Anblick der »Wellen des Meeres« mit ihrer »fröhlichen Bewegung« bei der Figur Karl Roßmann in Form des gesteigerten Herzschlages ebenfalls eine intensive emotionale Reaktion.

Das Meer und die Wellen sind sowohl bei Boltzmann als auch bei Kafka weiterhin durch eine umfassende Dynamik und regelmäßige Veränderung gekennzeichnet. Das betrifft bei Boltzmann einerseits die Gestalt des Wassers und der Wellen – diese schwankt von »weißschäumend, wild stürmend« bis hin zu »glatt« –, andererseits und noch vielmehr das Licht und die Farben des Wassers sowie des Himmels. So reicht das Farbspektrum des Meeres von »tiefschwarz« »vermählt« mit tanzenden »gelben und roten Funken«, über »nebelgrau«, »azur in weiß« bis hin zu »ultramarinblau‍[] […] mit milchweißem Schaume«. In Kafkas Hafenszene ist ebenso eine allumfassende Bewegung und Transformation zu erkennen, doch um einen entscheidenden verflochtenen Faktor erweitert. So »kreuzten« dort Schiffe »gegenseitig ihre Wege«. Bei Boltzmann »strahlt« das Meer, bei Kafka hingegen strahlt der »Reflex« des »Stahlmantels« der Schiffe. Während man bei Boltzmann die Augen »schließen muß«, muss man sie bei Kafka »klein« machen, um das »schwanken« der Schiffe zu erkennen. Nicht nur das Meer, die Wellen und der Himmel (Boltzmann) sind bei Kafka in Bewegung, sondern und vor allem auch die sich darin befindlichen und konstant bewegenden Schiffe und Menschen – und alles damit Verbundene – in Wechselwirkung mit den Elementen. Beispiele für diese naturkulturelle Verflechtung mit dem Wasser und dem Wind sind etwa die Flaggen, Schwimmkörper, Motorboote und Schiffe.

Doch auch bei Boltzmann kommen Schiffe vor. Deren Vielzahl, Gewirr und Omnipräsenz insbesondere im New Yorker Hafen stellt eine auffällige Gemeinsamkeit dar, die sich im Modus der synästhetischen Wahrnehmung allerdings im Detail unterscheiden. Boltzmann betont im Hafen vornehmlich akustische Eindrücke, er spricht von einem im »Rausch« wahrgenommenen »Pfeifen und Singen der Schiffe durcheinander«, was er als »Symphonie« des New Yorker Hafens versteht. Kafka wiederum schildert neben zahlreichen optischen Eindrücken gleichzeitig auch »Salutschüsse« von den »Kriegsschiffen«. Dies führt an dieser Stelle zu einem der entscheidenden Unterschiede zwischen Kafka und Boltzmann: Bei Boltzmann existieren die Eindrücke nur getrennt voneinander – hier die vermeintlich rein ›natürliche‹ Welt (Meer, Himmel, Licht), dort die vermeintlich rein ›menschliche‹ Welt (New York, Häuser, Freiheitsstatue, Schiffe). Boltzmanns Programm – eine getrennte, atomistische Welt mit dem Menschen an der Spitze – wird in diesem Kontext durch zwei Punkte bekräftigt: die Konjunktivkonstruktionen im Rahmen der Beschreibungen (»müßte man Maler sein«; »Wenn ich ein Musiker wäre«) und den finalen Ausspruch »Doch damals hatte ich keine Zeit zur Sentimentalität.« Kafkas Beschreibungen lassen sich hingegen, so meine These, vielmehr mit dem Konzept nonbinärer entangled natureculturesfassen, in der der Mensch untrennbar in Naturkultur verflochten ist und darin sympoietisch intra-agiert.30 Kafkas Kontrast-Programm in Form einer neuen Weltauffassung bringt damit eher folgender Satz auf den Punkt: »Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke.«

Genauso wie ›Natur‹ und ›Kultur‹ bei Boltzmann grundsätzlich getrennt sind, sind es bei ihm äquivalent die Arten der sinnlichen Eindrücke: entweder existieren diese rein optisch oder rein akustisch. Bei Kafka hingegen vermischen sich die Eindrücke in der Hafenszene als synästhetisches Gesamtbild zu einem buchstäblichen – um Kafkas Begriff zu nutzen – »Hafenleben« [eigene Hervorh.]: optisch, akustisch, räumlich, emotional.

Zuletzt ist sowohl bei Boltzmann als auch bei Kafka Interaktion zu erkennen, jedoch unterschiedlicher Art. Bei Boltzmann findet die Interaktion in getrennten Sphären statt. So beschränkt sie sich einerseits visuell auf die vermeintlich rein ›natürliche‹ Sphäre, also auf Interaktionen zwischen Meer, Himmel, Sonne und Mond, was zu regelmäßigen Farbveränderungen führt. So sind der Himmel und gleichermaßen das Meer »nebelgrau«. Plötzlich aber »bricht die Sonne aus dem Nebel, und gelbe und rote Funken tanzen auf den Wellen zwischen den tiefschwarzen Flächen der Wolkenschatten«. Analog erkennt der Physiker offensichtlich Spiegelungen des Himmels im Ozean, wenn er diese in ihren blauen und weißen Farbtönen direkt nacheinander stellt. Andererseits existiert bei Boltzmann eine davon getrennte auditive Aktivität der Schiffe des Hafens, also einer vermeintlich rein ›menschlichen‹ Sphäre. Explizit kann in diesem Punkt nicht von einer Wechselwirkung gesprochen werden, da jedes Schiff »durcheinander« unabhängig für sich tönt. Entscheidend ist dabei die mehrfach von Boltzmann unterstrichene Begeisterung für die menschlichen Errungenschaften und deren ›Sieg‹ über die Natur. So gehören für ihn »die großen Ozeandampfer […] zu dem Bewunderungswürdigsten, was der Mensch geschaffen hat«. Wenn auch die Schiffe regelmäßig »von den Wellen verschlungen« werden, tauchen sie doch stets »wieder siegend empor.« Noch bewunderungswürdiger als die »Naturschönheit« ist für Boltzmann nur die »Kunst des Menschen«, der die Natur in Boltzmanns Augen bezwungen hat. So schreibt er wenig später:

Wenn eines unserer Bewunderung noch mehr wert sein kann als diese Naturschönheit, so ist es die Kunst des Menschen, welcher in dem seit den Zeiten der Phönizier und noch viel länger geführten Kampf mit diesem unendlichem [sic] Meere so vollständig siegte. Wie unbarmherzig der Kiel die Flut durchschneidet, wie der Meergott wild aufschäumt unter der bohrenden Schraube! Fürwahr, das höchste Wunder der Natur, das ist der kunstfertige Geist des Menschen! (E, 409)

Auch bei Kafka werden Schiffe »in Mengen« verschlungen, doch nicht wie bei Boltzmann vom Meer, um daraus wie aus einem Kampf siegreich hervorzugehen, sondern von anderen Schiffen. Die Schiffe selbst indes »gaben dem Wellenschlag nur soweit nach, als es ihre Schwere erlaubte«, was man folglich mehr als ein dynamisches Wechselspiel (Kafka) statt einen Wettkampf (Boltzmann) verstehen kann. Siegt bei Boltzmann der omnipotente Mensch über die Natur, sind die Menschen bei Kafka »hilflos«. Was im Verschollenen in dieser Szene entwickelt wird, lässt sich vor diesem Hintergrund als eine Welt beschreiben, in der der Mensch untrennbarer, partiell auch machtloser, Bestandteil von Naturkultur ist.

Das Schauspiel im New Yorker Hafen betrachtet die Figur Roßmann genau an der Türschwelle – im Zwischenraum – durch »drei Fenster« des Zimmers, also durch ein trennendes, doch zugleich transparentes, durchlässiges und damit auch verbindendes Medium.31 Ein neuer produktiver Möglichkeits- und Wirklichkeitsraum entsteht, in dem die Wechselwirkung verschiedener Aktanten – Menschen, Boote, Wellen, Luft – und eine Mannigfaltigkeit an Bewegungen im Mittelpunkt stehen. Roßmann, räumlich eigentlich getrennt von den Wellen und dem Meer, wird durch sein Innehalten und empathisches Betrachten selbst Teil des Hafen-Spektakels, das sich vor seinen Augen abspielt. Er ist einerseits mit dem Schiff gemeinsam in Bewegung, bleibt jedoch an der Türschwelle »stehn«, um durch sein Sehen und Fühlen wiederum Teil einer fließenden Dynamik des New Yorker Hafens zu werden. Roßmann ist dabei emotional hochgradig bewegt, sein subjektives Ich löst sich für einen Moment auf und er wird Eins mit der Atmosphäre des Hafenschauspiels, was sich mit Stacy Alaimo als »trans-corporeality« fassen lässt.32

Auch für Boltzmanns auffällige Beschreibung der Freiheitstatue und der New Yorker Hochhäuser findet sich bei Kafka eine Entsprechung, wobei sich Kafkas Beschreibung in einem entscheidenden Detail unterscheidet. Bei Kafka heißt es in Bezug auf die Freiheitsstatue im ersten Satz des Romans:

Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, […] in dem langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
»So hoch«, sagte er sich (V, 7)

So wird die Fackel der Statue bei Kafka bekanntermaßen zum Schwert, während sie bei Boltzmann, der Realität entsprechend, eine Fackel ist – eine geringfügige, jedoch beachtenswerte Änderung.34 Übereinstimmung zwischen Boltzmann und Kafka besteht indes in der imponierenden Höhe und Größe der Gebäude.

Verkehr: Geschwindigkeit, Züge, Automobile

Mobilität, Verkehr und das Reisen erfahren in den umweltorientierten Geistes- und Sozialwissenschaften hohe Beachtung.35 Aus Perspektive der Environmental Humanities und in dieser Arbeit ist dabei vor allem die Tatsache interessant, dass Mensch-Natur-Beziehungen beim Reisen besonders klar zutage treten.36 In seinem Eldorado-Reisebericht zeigt sich Boltzmann etwa besonders begeistert von der Verkehrsgeschwindigkeit in den USA. Eine »Tramwayfahrt« in New York – »welch reichen Stoff der Unterhaltung und Beobachtung bietet nur eine einfache Tramwayfahrt!« (E, 411) – kommentiert er mit: »wie rasend schnell eine freie Strecke durchmessen wird« (E, 411). Die Zugfahrt mit der »Southern Pacific Railroad« wiederum schildert er wie folgt: »In vier Tagen und vier Nächten kam ich von New York nach San Franzisko [sic]. Man wird einfach fortgeschleudert, gewissermaßen fortgeschossen.« (ebd.) Die Zuggleise beschreibt er bei seiner Fahrt als »endloses Band, das mit rasender Geschwindigkeit unter dem Wagen hervorgezogen wird.« (E, 411f.)

Auch in Kafkas Amerika spielt die Geschwindigkeit – vor allem auch in Verbindung mit dem Verkehr – eine auffällige Rolle, worauf die Kafka-Forschung vielfach hingewiesen hat:37 »Alle Entwicklungen gehn hier so schnell vor sich« (V, 68). Wird man als Passagier bei Boltzmann im Zug »einfach fortgeschleudert, gewissermaßen fortgeschossen«, schreibt Kafka über eine Fahrt Roßmanns mit der »Untergrundbahn« vom Hotel occidental in die Stadt Ramses: »die Fahrt vergieng im Nu, als werde der Zug ohne jeden Widerstand nur hingerissen« (V, 194). In beiden Fällen findet sich eine Passiv-Formulierungen, jedoch mit einem kleinen Unterschied: Bei Boltzmann betreffen die Verben die individuellen menschlichen Passagiere, bei Kafka hingegen das ganze ontologische Geflecht »Zug«. Das Verb ›schießen‹ im Verkehrskontext findet sich bei Kafka außerdem in Bezug auf Automobile, so »schoß« im Verschollenen etwa »hie und da […] ein Automobil aus dem Nebel« (V, 139f.). »Kolonnen von Fuhrwerken«, die sich »so ununterbrochen dahinzogen, daß niemand die Straße hätte überqueren können« (V, 140) werden im Roman darüber hinaus beschrieben – und ein Verkehr, der »blitzschnell vorbeijagte« (V, 141), Automobile, die »vorübereilten« (V, 151) oder »Eisenbahnzüge«, die »auf den hoch sich schwingenden Viadukten donnern.« (V, 151)

In Kafkas Verschollenem spielt – stets verflochten mit Dynamik und Geschwindigkeit – allerdings noch ein weiterer Aspekt eine Rolle, der in diesem Kontext eine essentielle Unterscheidung zu Boltzmann darstellt: Konstante Transformation und Vermischung. Über New York schreibt Kafka:

Und morgen wie abend und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der von oben gesehn sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue vervielfältigte wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob (V, 55)

Kafkas Amerika zeichnet sich also nicht alleine durch Geschwindigkeit und neue Technologien wie Automobile, »sprühende‍[s; N.W.] elektrische‍[s; N.W.] Licht« (V, 66), Züge und »elektrische‍[] Straßenbahn‍[en; N.W.]« (V, 74) aus, sondern diese befinden sich zudem in einer »unaufhörlichen« Veränderung, Verflechtung, Vermischung. Ganze 36 Mal kommt im Roman etwa der Begriff »immerfort« vor, »ununterbrochen« immerhin zehn Mal und »unaufhörlich« sieben Mal. So ist im »riesenhaften« (V, 66) Betrieb des Onkels, für dessen »Durchsicht man viele Tage verwenden mußte, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen haben wollte« (V, 67), besonders die telefonische Abteilung paradigmatisch, welche »unaufhörliche telephonische und telegraphische Verbindungen mit den Klienten unterhalten mußte.« (V, 66) In diesem ›Verbindungssaal‹, in dem ein »beständiger Verkehr« (V, 67) herrscht, diesem Ineinander-Gewebe, welches man mit Timothy Morton als mesh fassen könnte,38 werden »unaufhörlich« Verbindungen gelöst und neu erschaffen. Ob nun der »alles umfassende Verkehr« (V, 270), die Stadt New York als »ineinandergestreute Mischung […], von der sich noch eine neue vervielfältigte wildere Mischung […] erhob«, oder die »unaufhörlichen« Verbindungen im Betrieb des Onkels: Ich möchte diese Form der Darstellung mit Karen Barad als entanglement fassen – Kafkas Welt im Verschollenen lässt sich als eine Welt verstehen, die sich im Prozess der intra-action immer wieder neu erschafft, als ein »ongoing flow of agency«, als »open process of mattering«, als »ongoing reconfiguring«.39 Genau in diesem Punkt geht Kafka einen Schritt weiter als Boltzmann. Während bei Boltzmann, dem atomistischen Physiker, die Weltauffassung getrennt ist – dezidiert in Form einer binären Trennung der Sphären ›Kultur‹ und ›Natur‹ – ist die Welt in Kafkas Verschollenem vielmehr eine »aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung«: Naturkultur.

Landhaus: Luxus, Dinner, Klavierspiel

Neben dem Verkehr und der Geschwindigkeit finden sich zwischen Boltzmann und Kafka weitere Parallelen. Eine erste ist das amerikanische Landhaus, das sowohl bei Boltzmann als auch bei Kafka eine essentielle Rolle spielt und als Grenzort zwischen Stadt und Land aus Perspektive der Environmental Humanities beachtenswert ist.40 Während seiner Zeit in Berkeley wird Boltzmann auf den »prachtvollen Landsitz in der Nähe von Livermore« von »Mrs. Hearst« eingeladen, die die Universität Berkeley mit ihrem Privatvermögen finanziert:41

Am nächsten würde man der Wahrheit kommen, wenn man sagte, sie ist die Universität Berkeley. In Europa ist die alma mater eine antike Idealgestalt, in Amerika ist es eine wirkliche Dame und, was am wichtigsten ist, mit wirklichen Millionen, von denen sie alljährlich so etliche zur Erweiterung der Universität hergibt; auch meine Amerikareise wurde natürlich aus ihrem Gelde bezahlt. Der Präsident der Universität […] ist nur das ausführende Organ der Trustees, an deren Spitze Mrs. Hearst steht. (E, 417)

Über das Landhaus von Mrs. Hearst schreibt Boltzmann weiter:

Sie hatte mich, wie schon erwähnt, mit einer Reihe anderer an der Sommerschule lehrenden [sic] Professoren nach ihrem Landsitze in der Nähe von Livermore geladen, einem Juwel, wie es Luxus, Reichtum und guter Geschmack nur in so verschwenderisch ausgestatteter Natur zu schaffen vermögen. Auf der Bahnstation empfingen uns die Kutschen und bald ging es durch ein stark phantastisches aber nicht unschönes Eingangstor nach einem Parke von fabelhafter Baumpracht und Blumenschönheit. Der Reichtum setzt sich hier in Wasser um, und wo dieses nicht gespart wird, ersteht in Kalifornien ein Blumenflor, der Sommer und Winter gleichmäßig fortblüht. Lange, doch für mich noch zu kurz, durchquerten wir den Park, der auch die schönsten Aussichtspunkte nach dem Mount Diable und Mount Hamilton bietet. Endlich erreichten wir das Wohnhaus. Es ist in portugiesisch-mexikanischem Stile erbaut, ein Kranz von Gebäuden rund um einen durch schwere eiserne Tore verschlossenen Hof; offenbar eine Art Festung. Den Mittelpunkt des Hofes bildet ein antiker Marmorbrunnen, den die Besitzerin selbst in Verona kaufte und bis ans stille Meer hatte transferieren lassen. Nach ihm heißt der ganze Landsitz »Hazienda del pozzo di Verona«. (E, 419f.)

In Franz Kafkas Verschollenem nimmt Pollunders »Landhaus bei New York« indes bekanntlich gar ein ganzes Kapitel ein (V, 76–127). Genauso wie Boltzmann beschreibt Kafka das Landhaus als riesenhaft, pompös und verschwenderisch:

»Wir sind angekommen«, sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karls verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung Newyorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume, zwischen denen – das Gitter war schon geöffnet – ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hauses führte. (V, 76)

Eine auffällige Parallele zwischen Boltzmanns Reisebericht und Kafkas Roman ist die Tatsache, dass beide den Begriff »Festung« für das Landhaus verwenden. Daneben gibt es weitere Gemeinsamkeiten.

Sowohl bei Boltzmann als auch bei Kafka finden sich in den Landhaus-Beschreibungen, erstens, Luxus und Reichtum in verschwenderischem Ausmaß.

Zweitens verfügen beide Landhäuser über einen großen Garten mit parkähnlicher Struktur, in denen Pflanzen eine zentrale Rolle einnehmen. Bei Boltzmann findet sich dort eine »fabelhafte Blumenpracht«, bei Kafka sind es »Kastanienbäume« und eine »Kastanienallee« (V, 76). Die Blumen wiederum finden sich bei Kafka dann wenig später im Speisezimmer des Landhauses: »schob Karl und Klara vor sich in das Speisezimmer, das besonders infolge der Blumen auf dem Tische, die sich aus Streifen frischen Laubes halb aufrichteten, sehr festlich aussah« (V, 79). Das Speisezimmer verfügt darüber hinaus über eine »große Glastüre zum Garten hin«, durch die »ein starker Duft […] herein‍[wehte; N.W.] wie in eine Gartenlaube«. (V, 80). Erneut sind hier bei Kafka starke Vermischungen festzustellen, in diesem Fall zwischen Kultur und Pflanzenwelt.

Drittens sticht bei beiden Beschreibungen das Tor bzw. Gitter heraus. Boltzmann beschreibt »einen durch schwere eiserne Tore verschlossenen Hof«, Kafka ein geöffnetes »Gitter«. Auch an einer anderen Stelle in Kafkas Amerika-Roman finden sich darüber hinaus relativ prägnant Gitter bzw. Gittertore, und zwar auf dem »Marsch nach Ramses«, ebenfalls in Verbindung mit luxuriösen Landhäusern und Gärten:

Gegen Abend kamen sie in eine mehr ländliche fruchtbare Gegend. Ringsherum sah man ungeteilte Felder die sich in ihrem ersten Grün über sanfte Hügel legten, reiche Landsitze umgrenzten die Straße und stundenlang gieng man zwischen den vergoldeten Gittern der Gärten, mehrmals kreuzten sie den gleichen langsam fließenden Strom und viele mal [sic] hörten sie über sich die Eisenbahnzüge auf den hoch sich schwingenden Viadukten donnern. (V, 151)

Kafka spricht hier im Verschollenen – möglicherweise als Hinweis auf San Francisco, das ursprünglich angedachte Reiseziel Roßmanns – von »vergoldeten Gittern der Gärten«, Boltzmann an anderer Stelle vom »goldene‍[n; N.W.] Tor« als Synonym für die »Bai von San Franzisko« [sic] (E, 416).42 Boltzmann artikuliert in diesem Zusammenhang seinen offenbar unmöglichen »Wunsch, malen zu können«, den er »wie schon oft auf der Amerikareise« (E, 416) hat, Kafka an anderer Stelle freilich den berühmten unmöglichen Wunsch, Indianer zu werden.43

Entscheidender Unterschied zwischen Boltzmann und Kafka ist in Bezug auf das Landhaus erneut die Art der Weltbeschreibung: bei Boltzmann eher trennend, bei Kafka eher vermischend. So ist das Wohnhaus bei Boltzmann vom Park mit seinen zahlreichen Pflanzen streng getrennt. Die Grenze zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ stellt für Boltzmann hier »ein Kranz von Gebäuden« und ein durch »schwere eiserne Tore« verschlossener Hof dar. In Kafkas Beschreibung hingegen ist das Gitter »geöffnet«, genauso wie die (zumindest bis zur Schließung durch Herrn Green) geöffnete »große Glastüre zum Garten hin«, durch die »ein starker Duft« hereinweht und das Speisezimmer für Roßmann wie »eine Gartenlaube« erscheinen lässt. Auch ist das Landhaus bei Kafka nur teilweise und nicht vollständig elektrisch beleuchtet – »Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt« (V, 88) –, weshalb das Haus gleichzeitig durch »Armleuchter« von Dienern beleuchtet wird. In Boltzmanns Wohnung in Berkeley ist hingegen dezidiert »alles elektrisch beleuchtet« (E, 414). Auch Karls Schlafzimmer ist durch das Fenster zum Garten durch eine Offenheit und verbindende Eigenschaften geprägt. Mit anderen Worten: Die ›kulturelle‹ und die ›natürliche‹ Sphäre sind in Kafkas Landhaus nicht getrennt, sondern stets »streng zusammengehörig‍[]« (V, 108) – entangled naturecultures.

Ein überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einen Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte Vögelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht war, konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. [...] Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus: Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes zu drängen. Die Pfeife eines Newyorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land. Sonst war es still. (V, 89)

Trotz der zahlreichen inhaltlichen Parallelen in den Landhaus-Beschreibungen zeigt sich hier also die maßgebliche Differenz zwischen Kafka und Boltzmann: So ist im Verschollenen alles – egal ob organisch oder anorganisch, mechanisch oder biologisch (exemplarisch hier etwa die analoge Nennung von »Vögelgesang« und der »Pfeife eines Newyorker Vorortzuges«) – untrennbar verflochten. Selbst die Grenze zwischen innen und außen scheint sich hier aufzulösen, wenn das Speisezimmer zur »Gartenlaube« wird oder »Baumwipfel« ins Schlafzimmer dringen, sodass »man allerdings fast gar nichts unterscheiden« kann. Verdeutlicht wird diese Verflochtenheit nochmals eindringlich an anderer Stelle in Kafkas Landhaus-Kapitel. Der gesamte Weg vom Landhaus bis zum Haus des Onkels in New York – Gebäude, Gärten, Alleen, Straßen, ländliche und urbane Landschaften einschließend – erscheint Roßmann in dieser Szene »als etwas streng zusammengehöriges«:

Der Weg zum Onkel durch die Glastüre, über die Treppe, durch die Allee, über die Landstraßen, durch die Vorstädte zur großen Verkehrsstraße, einmündend in des Onkels Haus, erschien ihm als etwas streng zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihn vorbereitet dalag und mit einer starken Stimme nach ihm verlangte. (V, 108)

Sowohl bei Boltzmann als auch bei Kafka nimmt außerdem eine umfangreiche Essensszene im Landhaus Raum ein, wobei beide Protagonisten – Ludwig Boltzmann und Karl Roßmann – in diesem Moment über keinen Appetit verfügen und sich darüber, vor allem in Bezug auf Ihre Gastgeber:innen, Sorgen machen. Boltzmann schreibt:

Bei Tisch saß ich, als einziger anwesender Europäer zur Rechten der Mrs. Hearst. Das erste Gericht waren Brombeeren. Ich dankte. Dann kam eine Melone, welche die Hausfrau eigenhändig für mich recht appetitlich gesalzen hatte. Ich dankte wieder. Dann kam oat-meal, ein unbeschreiblicher Kleister aus Hafermehl, mit dem man in Wien vielleicht die Gänse mästen könnte; ich glaube aber eher nicht, denn Wiener Gänse würden das kaum fressen. Ich hatte aber schon beim Abweisen der Melone einen etwas ungnädigen Blick der alma mater bemerkt. Auf ihre Küche ist ja auch eine alma mater stolz. Ich würgte also mit abgewandtem Gesicht und danke Gott, daß mir nichts Menschliches [sic] dabei passierte. […] Glücklicherweise kam dann noch Geflügel, Kompott und manches, womit ich den Geschmack wieder decken konnte. (E, 420f.)

Auch bei Kafkas Essensszene im Landhaus ist Karl Roßmann der »einzige‍[] anwesende‍[] Europäer«. Kafka schreibt:

Das Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen […]. Hin und wieder lobte er Fräulein Klaras Kunst in der Führung des Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, während Karl versucht war ihn abzuwehren, als greife er sie an. Aber Herr Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters, ohne vom Teller aufzusehen, die auffallende Appetitlosigkeit Karls. Herr Pollunder nahm Karls Appetit in Schutz, trotzdem er als Gastgeber Karl auch zum Essen hätte aufmuntern sollen. […] »Ich werde schon morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein Klara durch Ihr Nichtessen gekränkt haben«, sagte Herr Green […]. »Sehen Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist«, fuhr er fort und griff Klara unters Kinn. (V, 82–84)

Bei einer Gegenüberstellung der Essensszenen im Landhaus ist erstens festzustellen, dass bei beiden eine sehr lange Essensdauer thematisiert wird, bei Boltzmann sichtbar durch die zahlreichen quälenden und für ihn unappetitlichen Gänge, bei Kafka noch expliziter die Dauer: »Das Essen vergieng langsam wie eine Plage« (V, 80). Zweitens nimmt bei beiden eine potenzielle Kränkung der Gastgeber:innen eine zentrale Rolle ein. Bei Kafka wird die Kränkung der Gastgeberin durch das Nichtessen allerdings noch expliziter formuliert – inklusive drohender negativer sozialer Konsequenzen –, jedoch nicht (wie bei Boltzmann) durch den Hauptprotagonisten selbst, sondern durch den Mitanwesenden Green. Die Rollen sind bei Kafka also anders gelagert: Während bei Boltzmann die Gastgeberin und die gekränkte Person auf eine Person fallen, die wohlhabende »alma mater« Mrs. Hearst, spalten sich die Rollen und Zuschreibungen im Verschollenen auf: Gastgeber ist (eigentlich) Herr Pollunder, in dessen Landhaus sich die Anwesenden befinden. Die Rolle des Gastgebers und Wortführers übernimmt allerdings immer mehr der als abstoßend (»ihm wurde fast übel«; V, 82) beschriebene Herr Green. Die Kränkung wiederum soll vor allem bei der Figur Klara erfolgen, der Tochter des eigentlichen Gastgebers Pollunder. Ob Klara tatsächlich gekränkt ist, ist jedoch fragwürdig, so wird dies im Text nie explizit artikuliert, die Attribution der vermeintlichen Kränkung erfolgt vielmehr durch den vermeintlichen Gastgeber Green. Der tatsächliche Gastgeber Pollunder verteidigt indes sogar noch Karls Appetitlosigkeit.

Es lässt sich diesbezüglich folgendes Zwischenfazit ziehen: In beiden Essens-Szenen werden mögliche Kränkungen der Gastgeber:innen thematisiert, jedoch unterschiedlich eingebettet und akzentuiert. Die gekränkte reiche Witwe und Gastgeberin Mrs. Hearst unterscheidet sich von der vermeintlich gekränkten Gastgeber-Tochter Klara. In Kafkas Verschollenem existiert jedoch an anderer Stelle ebenfalls eine reiche Witwe, die im Roman als ›Gastgeberin‹ fungiert und Diener beschäftigt, von denen Roßmann stellenweise sogar selbst einer ist: Brunelda.

Der größte Unterschied zwischen den Landhaus-Essensszenen ist freilich deren Ausgang. Bei Boltzmann ist dieser ›positiv‹, so berichtet er am Ende von Speisen, mit denen er »den Geschmack wieder decken konnte.« Man könnte vor diesem Hintergrund also sagen, dass sich Boltzmann am Ende ›zusammenreißt‹ und damit das worst case scenario – eine ernsthafte Kränkung der Gastgeberin Mrs. Hearst – verhindert. Die Figur Roßmann hingegen reißt sich nicht zusammen und verhindert damit auch keine Kränkung, die potenziell eigentlich vielmehr Herrn Green zugeschrieben werden könnte. Das Landhaus-Kapitel endet bei Kafka mit dem worst case scenario: dem folgenreichen Brief des Onkels, den Roßmann nachts – passenderweise von Green – übergeben bekommt: »muß ich Dich nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fortschicken […]. Du hast Dich gegen meinen Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fortzugehen, dann bleibe auch bei diesem Entschluß Dein Leben lang« (V, 122f.).

Zuletzt finden sich im Landhaus sowohl bei Ludwig Boltzmann als auch bei Franz Kafka prägnante Klavierszenen, bei Kafka sogar noch eine zusätzliche im Haus des Onkels.44 Boltzmann schreibt über sein Klavier-Erlebnis im Landhaus bei Mrs. Hearst:

Nach Tisch ging man in das Musikzimmer, ein Raum, wenn ich recht schätze, ungefähr so groß, wie der Bösendorfer Saal, aber welche phantastisch-barocke Ausschmückung! An Schönheit wüßte ich ihm keinen der kleineren Wiener Konzertsäle zu vergleichen. Die Kunde von meinem armseligen Klavierspiel war bis in die Hazienda gedrungen. Ich wurde aufgefordert, das Konzert zu eröffnen. Nach einigem Sträuben setzte ich mich an den Flügel, einen Steinway von der allerhöchsten Preislage. Ahnungslos griff ich in die Tasten; einen Flügel von solcher Klangschönheit hatte mein Ohr vielleicht schon in einem Konzerte gehört, nie mein [sic] Finger berührt. Wenn mich je die Strapazen meiner kalifornischen Reise gereut hätten, von jetzt an nicht mehr. Ich spielte eine Sonate von Schubert, anfangs freilich war mir die Mechanik etwas fremd, aber wie leicht gewöhnt man sich an das Gute! Schon der zweite Teil des ersten Satzes ging gut und im zweiten Satze, einem Andante, vergaß ich mich selbst; nicht ich spielte die Melodie, sondern diese lenkte meine Finger. Ich mußte mich mit Gewalt zurückhalten, nicht auch noch das Allegro zu spielen und das war gut, denn dort wäre meine Technik abgefallen. Nach mir spielte eine Schülerin Barths in Berlin mit ebensoviel Technik als Musikverständnis. Unter den Anwesenden war auch ein Professor der Musik in Milwaukee, eine martialisch männliche Gestalt, sicher ein vortrefflicher Bärenjäger; aber auch musikalisch gründlich gebildet. Er hatte ebenfalls bei Barth Klavierspiel betrieben, man kann nicht sagen, gelernt. Er wußte, daß Beethoven neun Symphonien geschrieben hat und daß die neunte davon die letzte ist. Mir tat er unverdiente Ehre an; denn gelegentlich einer Debatte, ob Musik auch humoristisch sein könne, ersuchte er mich, das Scherzo aus der neunten vorzuspielen. Sollte ich sagen, ich kann es nicht, einem Professor in Milwaukee gegenüber? Da ward auch ich humoristisch und sagte: »Gerne, nur bäte ich ihn, die Pauke zu spielen, es nimmt sich besser aus, wenn die ein zweiter hineinspielt.« Darauf wurde er mit seiner Bitte still. (E, 421f.)

Genau wie bei Boltzmann existiert bei Kafka im Landhaus nach dem Essen eine Klavierszene:

»Nach dem Nachtmahl«, so sagte sie, »werden wir wenn es Ihnen recht ist gleich in meine Zimmer gehen, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind […]. Und sie werden dann so freundlich sein mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt, wie gut Sie das treffen, ich aber bin leider ganz unfähig Musik auszuüben und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe.« (V, 79)

Bereits im Kapitel zuvor, beim Onkel Jakob in New York, nimmt das Piano einen gewissen Raum ein. Auf einen Hinweis Karls – »In den ersten Tagen […] hatte Karl auch erzählt, daß er zu hause [sic] wenig zwar, aber gern Klavier gespielt habe« (V, 59) – schafft der Onkel tatsächlich ein »prachtvolles Piano« (V, 116) für Roßmann an: »etwa acht Tage später sagte der Onkel fast in der Form eines widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangt« (ebd.).

Als er es in seinem Zimmer hatte und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrische Freude, daß er statt weiterzuspielen aufsprang und aus einiger Entfernung die Hände in den Hüften das Klavier lieber anstaunte. Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnet und sie trug dazu bei sein anfängliches kleines Unbehagen, in einem Eisenhause zu wohnen, gänzlich verschwinden zu lassen. (V, 60)

Das Klavierspiel Karls beschränkt sich beim Onkel allerdings – mehr offenbart der Text nicht – vor allem auf »ein altes Soldatenlied seiner Heimat«, sowie »amerikanische‍[] Märsche« und die »Nationalhymne« (V, 60f.). Im Landhaus wiederum spielt Roßmann schließlich auch, mit einiger Verzögerung, Klavier, nicht ohne zuvor Klara einzugestehen »ich kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann« (V, 116f.), und auf seine limitierten Liedkenntnisse hinzuweisen: »es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu so einem großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten.« (V, 116) Das Musikspiel selbst gestaltet sich dann ernüchternd und für Roßmann emotional niederschmetternd:

»Wollen Sie Noten haben?« fragte Klara. »Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen«, antwortete Karl und spielte schon. Es war ein kleines Lied, das wie Karl wohl wußte ziemlich langsam hätte gespielt werden müssen, um besonders für Fremde auch nur verständlich zu sein, aber er hudelte es im ärgsten Marschtempo hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. »Ganz schön«, sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel, die Karl nach diesem Spiel hätte schmeicheln können. […] »Entweder oder. Ich muß ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines kann ich nach Möglichkeit gut spielen.« Und er fieng sein geliebtes Soldatenlied an. So langsam, daß das aufgestörte Verlangen des Zuhörers sich nach der nächsten Note streckte, die Karl zurückhielt und nur schwer hergab. Er mußte ja tatsächlich wie bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen, aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehn, das über das Ende des Liedes hinaus, [sic] ein anderes Ende suchte und es nicht finden konnte. »Ich kann ja nichts«, sagte Karl nach Schluß des Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an. (V, 118f.)

Damit kann an dieser Stelle zunächst festgehalten werden: Beide Protagonisten – sowohl Ludwig Boltzmann als auch Karl Roßmann – spielen Klavier im Landhaus. Beide werden von ihren Gastgeber:innen zum Vorspielen aufgefordert und sind dabei von ihren geringen Fähigkeiten überzeugt. In beiden Texten wird außerdem die hohe Qualität der Instrumente und der Akustik betont.

Neben diesen auffälligen Gemeinsamkeiten gibt es allerdings erneut entscheidende Abweichungen, insbesondere in der musikalischen Ausführung, den musikalischen Inhalten des Klavierspiels und zuletzt dessen Bewertung. Boltzmann gelingt es nach einigen Anfangsschwierigkeiten, gut und erfolgreich zu spielen. Bei Kafka hingegen gelingt es der Figur Karl Roßmann durchgehend bis zum Ende nicht, angemessen und zufriedenstellend zu spielen, was für ihn letztendlich in einer emotionalen Katastrophe endet. Diesen Eindrücken entspricht – dies unterstreichend – auch die externe Bewertung durch die (nicht-)‌anwesenden Figuren. Stößt Boltzmann mit seinem Klavierspiel in der Abendgesellschaft im Haus von Mrs. Hearst sogar bei einem Musikprofessor auf Wohlgefallen, wird Roßmanns schlechtes Klavierspiel wenig später von Mack, der im Nebenzimmer heimlich zugehört hat, bestätigt: »Es ist ja reichlich anfängerhaft und selbst in diesen Liedern, die Sie doch eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie einige Fehler gemacht« (V, 120). Vereinfacht könnte man sagen: Das Klavierspiel endet bei Boltzmann in »Schönheit«, bei Roßmann in »Leid«. Ein entscheidender Unterschied findet sich darüber hinaus auch in den musikalischen Inhalten des Klavierspiels. So spielt Boltzmann mit einer »Sonate von Schubert« Hochkultur, Roßmann im Gegensatz dazu ein primitives »Soldatenlied«. Auch hier zeigt sich Boltzmanns – im Kontrast zu Kafka stehende – überschwängliche Begeisterung für die kulturellen Errungenschaften des Menschen und dessen herausragende Stellung in der Welt, was sich im Folgenden anhand des Theaters noch weiter veranschaulichen lässt.

Landschaft: Theater, Eisenbahn, Gebirge

Neben der Eisenbahn, die einerseits als Technik der Weltbeherrschung,45 andererseits als lebendiges Werkzeug für eine durch Verbindung und Wechselwirkung geprägte Weltauffassung verstanden werden kann, stellt auch das Theater einen besonderen transmedialen Ort der Reflexion über das Verhältnis von ›Natur‹ und ›Kultur‹ dar.46 Ein Theater wird bei Boltzmann im Rahmen seines Aufenthaltes in Berkeley erwähnt. Er schreibt:

Dafür hörte ich Sonntag den 2. Juli die half hour of music, die wie jeden Sonntag im griechischen Theater gratis zum besten gegeben wurde. Dieses Theater ist eine getreue Kopie des Sophokleischen Theaters in Athen, nur, wie mir schien, noch vergrößert. Da es in Berkeley im Sommer nie regnet und doch auch wegen des häufigen Nebels die Sonne wenig scheint, so tut das vollständig unbedeckte Theater gute Dienste. Nur die Musik war in dem architektonisch wunderschönen, rings von Eukalyptus und lifeoaks umrahmten Raume unendlich dünn. Da hätte Mahler mit den Philharmonikern hingehört, die dritte Symphonie spielend, so daß die Bäume vor Wonne gezittert hätten und der stille Ozean aufhorchend noch stiller geworden wäre; die Menschen dort hätten es ja doch nicht verstanden. (E, 416)

Bei Kafka hingegen ist das »Teater von Oklahama« selbst nur sehr bruchstückhaft auf einer Fotografie beschrieben (vgl. V, 412f.), dafür jedoch sehr umfangreich der phantastische Aufnahmeprozess für das nach Aussage Fannys »größte Teater der Welt« (V, 394) auf dem »Rennplatz in Clayton« (V, 387). Kafka schreibt:

Als er in Clayton ausstieg, hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten. Es war ein wirrer Lärm, die Trompeten waren nicht gegeneinander abgestimmt, es wurde rücksichtslos geblasen. Aber das störte Karl nicht, es bestätigte ihm vielmehr daß das Teater von Oklahama ein großes Unternehmen war. Aber als er aus dem Stationsgebäude trat und die ganze Anlage vor sich überblickte, sah er, daß alles noch größer war, als er nur irgendwie hätte denken können, und er begriff nicht wie ein Unternehmen nur zu dem Zweck um Personal zu erhalten derartige Aufwendungen machen konnte. Vor dem Eingang zum Rennplatz war ein langes niedriges Podium aufgebaut, auf dem hunderte Frauen als Engel gekleidet in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken auf langen goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand auf einem Postament, das aber nicht zu sehen war, denn die langen wehenden Tücher der Engelskleidung hüllten es vollständig ein. Da nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen die Gestalten der Frauen riesenhaft aus […]. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte man Postamente in der [sic] verschiedensten Größen verwendet, es gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen schwangen sich andere Frauen in solche Höhe hinauf, daß man sie beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesen alle diese Frauen. (V, 389f.)

Sowohl Boltzmann als auch Kafka präsentieren in ihrem Text ein Theater und beide betonen dabei, erstens, dessen Größe. Zweitens wird in beiden Beschreibungen die Architektur der Theater als besonders ästhetisch und prachtvoll hervorgehoben. Boltzmann spricht einerseits von einem »architektonisch wunderschönen […] Raume«, Roßmann sagt andererseits später zu Fanny: »Es ist ja schön« (V, 392) – und Fanny betont: »Es ist sehr schön, wie überhaupt die ganze Ausstattung sehr kostbar ist.« (V, 393) Drittens spielt bei beiden Theater-Beschreibungen die Musik eine herausragende Rolle, die allerdings bei beiden als qualitativ minderwertig empfunden wird. Bei Kafka ist schon gar nicht mehr von Musik die Rede, sondern von einem wirren »Lärm« der Trompeten. Feiner Unterschied zwischen Boltzmann und Roßmann ist hier, dass Boltzmann die »dünne« Musik offensichtlich stört, wobei er in diesem Zusammenhang auch den Musikgeschmack der Menschen vor Ort kritisiert, der »Lärm« im Verschollenen hingegen »störte Karl nicht«. Später heißt es in diesem Kontext bei Kafka weiter:

Er hatte gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete, nur zum Lärmmachen bestimmt, aber nun zeigte sich daß es ein Instrument war, das fast jede Feinheit ausführen konnte. Waren alle Instrumente von gleicher Beschaffenheit, so wurde ein großer Mißbrauch mit ihnen getrieben. (V, 393)

Boltzmann hört die Musik nur (und empfindet sie als minderwertig), Roßmann hört die Musik und spielt sie zugleich: »Karl blies, ohne sich vom Lärm der andern stören zu lassen mit voller Brust ein Lied das er irgendwo in einer Kneipe einmal gehört hatte« (V, 393). Das, was Boltzmann in seinem Eldorado-Reisebericht immer wieder als nie erreichten Wunsch artikuliert (»müßte man Maler sein«; »Wenn ich ein Musiker wäre«), erreicht Roßmann überraschend am Ende des Romans durch sein Musikspielen, was ihm Fanny bestätigt: »Du bist ein Künstler« (V, 393).

Weiterhin beachtenswert ist, dass bei Boltzmann Bäume und der Ozean im Rahmen der Theaterbeschreibung eine Rolle spielen. Sie sind für Boltzmann in dieser Situation bessere Zuhörer als die Menschen, vorausgesetzt ein Meisterwerk von Gustav Mahler würde dort statt der »unendlich dünn‍[en; N.W.]« Musik gespielt. Dies ist eines der Beispiele, in denen Boltzmann seine eher trennende Weltsicht – exemplarisch hierfür in der Eldorado-Reiseerzählung das Meer, welches durch die Schiffe und die vom Menschen und dessen Leistungen übertroffen und beherrscht wird – partiell für einen Moment verlässt. Hier sind plötzlich die Bäume und der Ozean die besseren Zuhörer, »die Menschen dort hätten es ja doch nicht verstanden«: »so daß die Bäume vor Wonne gezittert hätten und der stille Ozean aufhorchend noch stiller geworden wäre«. Durch das meisterhafte Wirken des Menschen, bei Boltzmann versinnbildlicht in Form der dritten Symphonie von Mahler, wird ›Natur‹, die hier von Boltzmann zugleich eine agency zugeschrieben bekommt, mit ›Kultur‹ verflochten und verfeinert. Boltzmann imaginiert demzufolge buchstäblich ein ›Naturtheater‹ mit einer immer anwesenden, mithörenden und wechselwirkenden ›Natur‹.

Auch bei Kafka finden sich beim ›Ersatz-Theater‹ am Rennfeld in Clayton Bäume: »Er blieb sogar stehn und überblickte das große Rennfeld das auf allen Seiten bis an ferne Wälder reichte. Ihn erfaßte Lust einmal ein Pferderennen zu sehn« (V, 404). Es kann dabei als Ironie angesehen werden, dass gerade Roßmann, dessen Name sich aus einem Tier und einem Menschen zusammensetzt, »einmal ein Pferderennen« sehen möchte [eigene Hervorh.]. Über das tatsächliche »Teater von Oklahama« ist im Verschollenen wie gesagt nur relativ wenig zu lesen. Es ist ausschließlich auf Fotografien zu sehen, die beim gemeinsamen Essen »von Hand zu Hand gehen sollten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die Bilder und so geschah es daß bei Karl, der der Letzte war nur ein Bild ankam.« (V, 412) Über das Bild schreibt Kafka:

Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Scheere ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons früherer Präsidenten angebracht […]. Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe kamen Strahlen von Licht; weißes und doch mildes Licht enthüllte förmlich den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich faltenden Sammt [sic] der an der ganzen Umrandung niederfiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle rötlich schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. (V, 412f.)

Eine Parallele zu Boltzmanns »Kopie des Sophokleischen Theaters in Athen« zeigt sich hier bei Kafka an den »mit der feinsten Scheere ausgeschnittenen Säulchen« als Bezug auf das antike Griechenland. Während bei Boltzmann allerdings die Größe betont wird, wird dies bei Kafka – sichtbar am Diminutiv »Säulchen« – partiell und temporär in ein geradezu belustigendes Gegenteil verkehrt.

Über seine Zugfahrt wiederum schreibt Boltzmann an zwei Stellen in seinem Reisebericht. Über die Hinfahrt von New York nach Berkeley:

Die Püffe [sic], die man beim Gehen durch den endlos langen Zug nach dem Speisewagen, Aussichtswagen usw. erhält, sind nicht gerade angenehm. Die Aussichtswagen sind rückwärts ganz offen, man kann sich auf das Abschlußgitter setzen oder darüber hinausbeugen und hat dann einfach acht zu geben, daß man nicht bei einem jähen Stoße hinunterfällt.
Die Landschaft war freilich meist einförmig, doch ist schon die direkte Beobachtung der Schnelligkeit der Fahrt interessant. Wenn man vom Aussichtswagen aus nach rückwärts blickt, so erscheinen die Eisenbahnschienen wie ein endloses Band, das mit rasender Geschwindigkeit unter dem Wagen hervorgezogen wird. Interessant war auch die Fahrt auf dem riesigen Holzdamm mitten durch den Salzsee und die ausgedehnten von Salzkristallen wie mit Schnee bedeckten Felder vor und nach demselben. Gegen das Ende der Fahrt [sic] ist der Übergang über die Sierra-Nevada wunderschön. Er erinnert an den Semmering, freilich nicht ganz so malerisch, aber noch viel großartiger an Länge der Strecke und Höhe der Berge. (E, 411f.)

Und über die Rückfahrt von Berkeley nach New York:

Die Fahrt war wunderschön, wenn es nur immer Tag gewesen wäre! Das Herrlichste ist der Mount Shasta mit seinem hohen schneebedeckten Haupte in der subtropischen Vegetation. An manchem See fuhr ich vorüber, bergumragt, waldumkränzt, gegen den der Gmundner- und Attersee unbedeutend erscheinen. Hier sieht man kein Haus an dessen Ufer, ich weiß nicht einmal, ob alle schon Namen haben. Über den Yellowstonepark sage ich nichts. Er ist ein Wunder, wie es schwerlich in der Welt noch irgendwo existiert. Man lese das im Baedeker nach oder betrachte gute Bilder davon oder am besten, man sehe es sich in der Natur an, wenn man ausreichend Zeit, Geld und guten Humor hat. Aber man mache es nicht so wie ich. Man gehe anfangs [sic] Juni hin, wo die Hitze noch nicht so groß ist, und widme dazu 14 Tage oder besser einen Monat, daß man alles mit Muße ansehen kann und vom Staunen auch zum Genießen kommt. […] Dazu die fürchterliche Hitze. Ich hatte immer ein Handtuch in der Hand, die man glücklicherweise in den amerikanischen Bahnen in beliebiger Menge bekommt, um mir den Schweiß abzuwischen. Ich begreife jetzt, was ein Schweißtuch ist. Zudem lieben es die Amerikaner, ihre Eisenbahnwagen hermetisch zu verschließen, nicht aus Furcht vor dem Luftzug, die sie nicht kennen, sondern vor dem Ruß. Die schönen Aussichtswagen ganz hinten, wo weniger Ruß ist, gibt es auf dieser Strecke nicht. Ich ließ einmal in meinem Abteil, das mehr vorne war, längere Zeit das Fenster offen, wurde aber dann so schwarz (E, 430f.)

Bei Kafka wird am Ende des Romans die Zugfahrt zum »Teater von Oklahama« im Vergleich dazu wie folgt beschrieben:

Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erst begriff Karl die Größe Amerikas. Unermüdlich sah er aus dem Fenster [...]. Alles was sich in dem kleinen, selbst bei offenem Fenster von Rauch erfüllten Coupee ereignete vergieng vor dem was draußen zu sehen war. Am ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulichschwarze Steinmassen giengen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren, breite Bergströme kamen eilend als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund und in sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken über die der Zug fuhr und sie waren so nah daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. (V, 418f.)

Bei einer gegenüberstellenden Analyse von Boltzmanns und Kafkas Eisenbahnszenen sind die Übereinstimmungen zunächst abermals beachtlich. So spricht Boltzmann von einem Aussichtswagen, der »rückwärts ganz offen« ist, Kafka von einem Fenster, das »geöffnet« ist. Boltzmann beschreibt ein »Rauchkoupé« (E, 415), Kafka ein »von Rauch erfüllte‍[][s; N.W.] Coupee«. In Bezug auf die amerikanische Landschaft erwähnt Boltzmann die »Höhe der Berge« sowie den »hohen« Mount Shasta, Kafka ein »hohes Gebirge«. Boltzmann beschreibt ein »Abschlußgitter« des Zuges, über das man sich »hinausbeugen« kann, Kafka schreibt schlicht »man beugte sich aus dem Fenster«. Ein zusätzlicher interessanter Aspekt in diesem Kontext ist eine Formulierung Kafkas, die zunächst unlogisch scheint: »Alles was sich in dem kleinen, selbst bei offenem Fenster von Rauch erfüllten Coupee ereignete« – warum sollte das Coupee selbst bei geöffnetem Fenster »von Rauch erfüllt« sein?47 Ludwig Boltzmann liefert die Antwort, indem er darauf verweist, dass »die Amerikaner« es lieben, »ihre Eisenbahnwagen hermetisch zu verschließen«, um sich vor dem Ruß der Lokomotive zu schützen. Weiterhin schildert Boltzmann »die Fahrt auf dem riesigen Holzdamm«, Kafka wiederum beschreibt »Brücken über die der Zug fuhr«. In diesem Kontext ist auch die von Boltzmann erwähnte, 1854 eröffnete Semmeringbahn beachtenswert, eine zu Kafkas Zeit berühmte österreichische Gebirgs-Bahnstrecke, die über zahlreiche Viadukte führt. Potenziell kannte Kafka die Semmeringbahn, etwa durch Fotografien oder Postkarten.

Viadukte, die so zahlreich bei der österreichischen Semmeringbahn vorkommen, finden sich indes an anderer Stelle in Kafkas Amerika-Roman – im Kapitel »Marsch nach Ramses«:

Gegen Abend kamen sie in eine mehr ländliche fruchtbare Gegend. Ringsherum sah man ungeteilte Felder die sich in ihrem ersten Grün über sanfte Hügel legten, reiche Landsitze umgrenzten die Straße und stundenlang gieng man zwischen den vergoldeten Gittern der Gärten, mehrmals kreuzten sie den gleichen langsam fließenden Strom und viele mal [sic] hörten sie über sich die Eisenbahnzüge auf den hoch sich schwingenden Viadukten donnern. (V, 151)

Interessant in diesem landschaftlichen Kontext sind auch die Formulierungen Boltzmanns. Er spricht von Seen, die »bergumragt, waldumkränzt« sind, wobei er feststellt: »Hier sieht man kein Haus an dessen Ufer«. Kafka spricht im Vergleich dazu in dieser Szene von »ungeteilte‍[n; N.W.] Felder‍[n; N.W.]«, die sich »ringsherum« befinden und sich »über sanfte Hügel legten« – und zugleich, das ist wichtig, von »reiche‍[n; N.W.] Landsitze‍[n; N.W.]«, die die Straße »umgrenzten«. Bei Boltzmann umgrenzen Berge und Wälder die Seen, bei Kafka umgrenzen »Landsitze« und »Gärten« die Straße. Mein Fazit an dieser Stelle: Bei Boltzmann existiert ›echte Natur‹ nur ohne Menschen, bei Kafka nur Naturkultur.

Neben einer eher getrennten, atomistischen Weltauffassung bei Boltzmann und einer untrennbar vermischten bei Kafka, ist der größte Unterschied in den Eisenbahn-Szenen freilich die Landschaftsbeschreibung selbst, insbesondere in Hinblick auf Boltzmanns Hinfahrt von New York nach Berkeley. So schreibt er dort: »Die Landschaft war freilich meist einförmig, doch ist schon die direkte Beobachtung der Schnelligkeit der Fahrt interessant.« Wenig begeistert zeigt sich Boltzmann demzufolge von der Landschaft, vielmehr ist er fasziniert von der Geschwindigkeit des Zuges. Die Figur Karl Roßmann in Kafkas Roman dagegen ist von der Landschaft vollkommen eingenommen und scheint geradezu mit ihr zu verschmelzen – paradigmatisch für ein landschaftliches embodiment.48 Deutlich wird eine große emotionale Bewegtheit des Protagonisten Karl Roßmann, der »unermüdlich« aus dem Fenster sieht und von der Landschaft, wie in der Hafen-Szene zu Beginn des Romans, vollständig in Anspruch genommen ist. Die Nähe der »Bergströme« während der Zugfahrt ruft bei Roßmann eine körperliche Reaktion hervor und lässt ihn »erschauern«. Die amerikanische Landschaft dringt, wie im Landhaus, in den Zugwaggon ein und die Grenze zwischen innen und außen verschwindet.49 Der Roman gipfelt in einer finalen Grenzauflösung, nämlich derjenigen zwischen Subjekt und Objekt: Das ganze Coupee, in dem sich Roßmann befindet, löst sich gemeinsam mit ihm auf und alles »vergieng vor dem was draußen zu sehen war.«

Durch eine vergleichende Analyse konnte veranschaulicht werden, dass zwischen Ludwig Boltzmanns Reise eines deutschen Professors ins Eldorado und Franz Kafkas Roman Der Verschollene einerseits erstaunliche inhaltliche Parallelen bestehen. Dies betrifft etwa Beschreibungen des New Yorker Hafens, von Landhäusern, Theatern und Landschaften bei Zugfahrten durch die USA. Andererseits konnten entscheidende Differenzen aufgezeigt werden, die vor allem das Verhältnis von ›Natur‹ und ›Kultur‹ betreffen. Während der atomistische Physiker Ludwig Boltzmann in seiner Reiseerzählung zum Großteil eine Weltauffassung vertritt, in der der Mensch als externe Entität außerhalb von ›Natur‹ steht und diese durch Wissenschaft ›objektiv‹ beobachten und beherrschen kann, entwickelt Kafka in seinem Amerikaroman verflochtene Naturenkulturen, in denen der Mensch einen »hilflosen« und untrennbaren konstitutiven Bestandteil einer »immerfort« wechselwirkenden Welt darstellt. Vor diesem Hintergrund kann Boltzmanns Reisetext als historischer Paralleltext zu einem besseren Verständnis von Kafkas Der Verschollene beitragen.


Fußnoten

1 Dieser Artikel stellt ein modifiziertes Kapitel der Dissertation »Kafka entangled. Das Werk Franz Kafkas aus Perspektive der Environmental Humanities« dar. Die Publikation erfolgt voraussichtlich im Jahr 2025. 2 Ludwig Boltzmann (1905): Populäre Schriften. Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth, S. 403–435 (=Kapitel: Reise eines deutschen Professors ins Eldorado). Fortan zitiert mit der Sigle E und Seitenzahl. 3 Franz Kafka (1983): Der Verschollene. Roman in der Fassung der Handschrift. Textband. (Kritische Ausgabe) Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Zitiert mit der Sigle V und Seitenzahl. 4 Vgl. Manfred Engel (2010): Der Verschollene. In: ders. / Bernd Auerochs (Hgg.): Kafka Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler, S. 175–191, hier S. 175f.; Literatur wird in den Fußnoten nach der ersten vollständigen Nennung zitiert mit Nachname und Kurztitel. 5 So besuchte Kafka etwa einen Vortrag Einsteins zur Relativitätstheorie am 24. Mai 1911. Vgl. Ekkehard W. Haring (2010): Leben und Persönlichkeit. In: Manfred Engel / Bernd Auerochs (Hgg.): Kafka Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler, S. 1–27, hier S. 12; Peter-André Alt (2005): Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München: Beck, S. 192; zu den Verbindungen zwischen Kafka und Einstein vgl. weiterhin Martin Bartelmus (2022): Kafka-Einstein-Verschränkungen. In: Alexander Kling / Johannes F. Lehmann (Hgg.): Kafkas Zeiten. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft Bd. 7. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 159–183. 6 Vgl. etwa Thomas Anz (2009): Franz Kafka. Leben und Werk. München: Beck, S. 69. 7 Im Gegensatz zu Boltzmanns wissenschaftlichen Publikationen waren die Populären Schriften für eine »breitere Öffentlichkeit« bestimmt. Vgl. Engelbert Broda (1979): Einleitung. In: Ludwig Boltzmann: Populäre Schriften. Eingeleitet und ausgewählt von Engelbert Broda. Braunschweig: Vieweg, S. 1–12, hier S. 1. »Die ›Populären Schriften‹, die bei ganz verschiedenartigen Gelegenheiten und für unterschiedliche Zuhörerkreise verfaßt wurden, sind im ungleichen Maß [im Vergleich zu den wissenschaftlichen Publikationen; N.W.] ›populär‹. Zu beachten ist auch die Weite des Feldes, das Boltzmann behandelte, ohne daß man jemals das Gefühl bekäme, es mit einem Dilettanten zu tun zu haben.« Broda: Einleitung, S. 2. 8 Als Kafkas Quellen für den Verschollenen gelten heute – neben Zeitungsartikeln und eventuellen Berichten von Verwandten aus Amerika – Der kleine Ahasverus von Vilhelm Jensen, Amerika heute und morgen von Arthur Holitscher, der Reisebericht Amerika a jeji úřednictvo von František Soukup sowie David Copperfield von Charles Dickens. Vgl. Engel: Der Verschollene, S. 177f.; Hartmut Binder (1983): Erlesenes Amerika: »Der Verschollene«. In: ders.: Kafka. Der Schaffensprozeß. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 75–135; Alt: Franz Kafka. Der Ewige Sohn, S. 354–356; Anthony Northey (1988): Die Entdeckung der Neuen Welt. Kafkas amerikanische Vettern und sein Amerika-Roman. In: ders.: Kafkas Mischpoche. Berlin: Wagenbach, S. 47–60; Ritchie Robertson (1988): Kafka: Judentum, Gesellschaft, Literatur (Orig. Kafka. Judaism, politics, and literature, 1985). Aus dem Englischen übers. v. Josef Billen. Stuttgart: Metzler, S. 56–119; Harald Neumeyer (2013): Raum – Zeit – Macht. Franz Kafkas Der Verschollene und Arthur Holitschers Amerika. In: Harald Neumeyer / Wilko Steffens (Hgg.): Kafka interkulturell. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 451–483. 9 Vgl. exemplarisch etwa Harald Neumeyer (2004): »Das Land der Paradoxa« (Robert Heindl). Franz Kafkas In der Strafkolonie und die Deportationsdebatte um 1900. In: Claudia Liebrand / Franziska Schößler (Hgg.): Textverkehr. Franz Kafka und die Tradition. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 291–334; zur Diskursanalyse vgl. überblicksweise Harald Neumeyer (2013): Diskurs. In: Roland Borgards / Harald Neumeyer / Nicolas Pethes et. al. (Hgg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 32–35; zur historischen Diskursanalyse vgl. auch Clemens Kammler (2005): Historische Diskursanalyse (Michel Foucault). In: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 32–56. 10 Zu den entangled naturecultures vgl. Donna Haraway (2003): The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness. Vol. 1. Chicago: Prickly Paradigm Press; Donna Haraway (2008): When Species Meet. Minneapolis: University of Minnesota Press; Donna Haraway (2016): Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham/London: Duke University Press; Karen Barad (2007): Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham/London: Duke University Press; Friederike Gesing / Michi Knecht / Michael Flitner et al. (Hgg.) (2019): NaturenKulturen. Denkräume und Werkzeuge für neue politische Ökologien. Bielefeld: transcript Verlag. 11 Zur Positionierung von Boltzmann zum Atomismus vgl. etwa das Kapitel Für und gegen Atome (Boltzmann versus Mach) bei Erhard Scheibe (2007): Die Philosophie der Physiker. München: Beck, S. 80–98. 12 Zur Tatsache, wie die Quantenphysik die Weltauffassung veränderte, vgl. etwa Carlo Rovelli (2021): Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert (Orig. Helgoland, 2020). Aus dem Italienischen übers. v. Enrico Heinemann. Hamburg: Rowohlt Verlag; zwischen der Quantenphysik und den Environmental Humanities besteht indes eine beachtenswerte Verbindung, vgl. dazu insb. Barad: Meeting the Universe Halfway. 13 Zur Rolle Boltzmanns zu Kafkas Zeit vgl. etwa Hartmut Binder (1979): Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Bd. 1.: Der Mensch und seine Zeit. Stuttgart: Kröner, S. 35; Monika Schmitz-Emans (2010): Franz Kafka: Epoche – Werk – Wirkung. München: C. H. Beck, S. 33. 14 Einen guten Überblick über den New Materialism und den Material Turn geben etwa Heather I. Sullivan und Christa Grewe-Volpp. Vgl. Heather I. Sullivan (2015): New Materialism. In: Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe (Hgg.): Ecocriticism. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag, S. 57–67; Christa Grewe-Volpp (2015): Ökofeminismus und Material Turn. In: Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe (Hgg.): Ecocriticism. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag, S. 44–56; Zum Neuen Materialismus, insbesondere auch zu Donna Haraway und Karen Barad, vgl. weiterhin etwa auch Katharina Hoppe / Thomas Lemke (2021): Neue Materialismen zur Einführung. Hamburg: Junius. 15 Haraway: When Species Meet, S. 250. 16 Vgl. Haraway: When Species Meet, S. 3–8, 14–16, 18–20. »For many years I have written from the belly of powerful figures such as cyborgs, monkeys and apes, oncomice, and, more recently, dogs. In every case, the figures are at the same time creatures of imagined possibility and creatures of fierce and ordinary reality; the dimension tangle and require response. When Species Meet is about that kind of doubleness, but it is even more about the cat’s cradle games in which those who are to be in the world are constituted in intra- and interaction. The partners do not precede the meeting; species of all kinds, living and not, are consequent on a subject- and object-shaping dance of encounters. Neither the partners nor the meetings in this book are merely literary conceits; rather, they are ordinary beings-in-encounter in the house, lab, field, zoo, park, office, prison, ocean, stadium, barn, or factory. As ordinary knotted beings, they are also always meaning-making figures that gather up those who respond to them into unpredictable kinds of ›we.‹« Ebd., S. 4–5. 17 Haraway: Staying with the Trouble, S. 13. 18 Haraway: Staying with the Trouble, S. 34. 19 Grewe-Volpp: Ökofeminismus und Material Turn, S. 49f.; mit Verweis auf Haraway: The Companion Species Manifesto, S. 2. 20 Vgl. etwa Francisco J. Duarte (2019): Fundamentals of quantum entanglement. Bristol: IOP Publishing; Jed Brody (2020): Quantum Entanglement. Cambridge/London: MIT Press; Rovelli: Helgoland, insb. S. 91–100. 21 Vgl. Barad: Meeting the Universe Halfway; Zur Bedeutung von Karen Barad für den New Materialism vgl. etwa Grewe-Volpp: Ökofeminismus und Material Turn, S. 49; Sullivan: New Materialism, S. 59. 22 Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 138. 23 Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 140. 24 Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 140f. 25 Sullivan: New Materialism, S. 59. 26 Im Familiennamen findet sich bei beiden an zweiter Stelle der Buchstabe »o« sowie die Endung »mann«. 27 Vgl. Jörg Wolfradt (1996): Der Roman bin ich. Schreiben und Schrift in Kafkas »Der Verschollene«. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 154; mit Verweis auf Franz Kafka (1983): Der Verschollene. Apparatband. (Kritische Ausgabe) Hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 255. 28 Vgl. etwa Stacy Alaimo (2012): States of Suspension: Trans-corporeality at Sea. In: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment19/3, S. 476–493; Astrida Neimanis (2017): Bodies of Water. Posthuman Feminist Phenomenology. London/New York: Bloomsbury Publishing; Nils Markwardt (2020): Meer denken. Philosophie Magazin 24.10.2020. https://www.philomag.de/artikel/meer-denken (28.03.2023); Gunter Scholtz (2016): Philosophie des Meeres. Hamburg: Mare Verlag; Ralf Konersmann (2003): Die Philosophen und das Meer. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 50/3, S. 218–233; Rudolf Holbach / Dietmar von Reeken (2014): Das Meer als Geschichtsraum, oder: Warum eine historische Erweiterung der Meeresforschung unabdingbar ist. In: Dies. (Hgg.): »Das ungeheure Wellen-Reich«. Bedeutungen, Wahrnehmungen und Projektionen des Meeres in der Geschichte. Oldenburg: BIS-Verl. der Carl-von-Ossietzky-Univ., S. 7–22. 29 Laut Birgit Ottmüller-Wetzel dauerten die Überfahrten mit der H.A.P.A.G. von Hamburg nach New York auf den 1889 in Betrieb genommenen Doppelschrauber-Schnelldampfern etwa sieben Tage, auf den Auswandererschiffen, die vor allem Passagiere im Zwischendeck und Frachtgut transportierten, etwa neun Tage. Vgl. Birgit Ottmüller-Wetzel (1986): Auswanderung über Hamburg. Die H.A.P.A.G. und die Auswanderung nach Nordamerika. 1870–1914. (Diss.) Berlin/Hamburg: Freie Univ. Berlin, S. 65. 30 Meer und Wellen repräsentieren nicht nur bei Kafka und Boltzmann Mannigfaltigkeit, Bewegung, Wechselwirkung, Transformation und rufen emotionale Reaktionen hervor. Vgl. hierzu überblicksweise etwa Scholtz: Philosophie des Meeres; Alaimo: States of Suspension: Trans-corporeality at Sea; Konersmann: Die Philosophen und das Meer. 31 Vgl. Haraway: The Companion Species Manifesto; dies.: When Species meet; dies.: Staying with the Trouble; Barad: Meeting the Universe Halfway; Gesing et al.: NaturenKulturen. 32 Jörg Wolfradt etwa spricht von einem sich wiederholenden Motiv der »höheren Beobachtung« im Verschollenen im Zusammenhang mit Fenstern, Balkonen oder Galerien. Vgl. Wolfradt: Der Roman bin ich, S. 148f. 33 Vgl. Stacy Alaimo (2010): Bodily Natures: Science, Environment and the Material Self. Indianapolis: Indiana University Press; Alaimo: States of Suspension: Trans-corporeality at Sea; vgl. auch Timothy Mortons »ambient poetics«, Timothy Morton (2009): Ecology Without Nature. Rethinking Environmental Aesthetics. Cambridge/London: Harvard University Press, S. 34; vgl. in diesem Kontext etwa auch Ursula K. Heise (2008): Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global. New York: Oxford University Press, S. 15–115 (=Teil 1: World Wide Webs: Imagining the Planet). In ihrem Aufsatz States of Suspension: Trans-corporeality at Seabemerkt Alaimo, dass der Ozean mit den Grenzen des terrestrisch-menschlichen Verstehens konfrontiert. Vgl. Alaimo: States of Suspension: Trans-corporeality at Sea, S. 477. Das Erkennen dieser Grenzen »may be an epistemological-ethical moment that debars us from humanist privilege and keeps us ›fixed or lost as in wonder or contemplation.‹« Ebd.; für Alaimo ist die suspension, also eine Unterbrechung oder Aufschub in Form einer »receptiveness«, dasjenige, wodurch die Intra-Aktion materieller Agenzien in der Welt erkannt werden kann. Vgl. ebd.; Alaimo arbeitet in ihrem Konzept von trans-corporeality dezidiert mit den Theorien von Donna Haraway und Karen Barad. Vgl. ebd., S. 479; sie sieht in der suspension eine Lebenskraft (»buoyancy«), »a sense that the human is held, but not held up, by invisible genealogies and a maelstrom of often imperceptible substances that disclose connections between humans and the sea.« Ebd., S. 478. 34 Über das Schwert wurde in der Kafka-Forschung vielfach diskutiert. Vgl. etwa eine Übersicht bei Neumeyer: Raum – Zeit – Macht, S. 458f.oder Karlheinz Fingerhut (1997): Auswandern – Schreiben. Kafkas Der Verschollene als doppeltes Erzählspiel und als Experiment einer doppelten Lektüre. In: Maurice Godé / Michel Vanoosthuyse (Hgg.): Entre critique et rire. Le Disparu de Franz Kafka. Montpellier: Groupe de Recherche Etudes Germaniques et Centre-Européennes de l’Université Paul-Valéry, S. 117–143, hier S. 118. 35 Vgl. etwa Michael Cronin (2022): Eco-Travel. Journeying in the Age of the Anthropocene. Cambridge: Cambridge University Press; Peter Adey (2017): Mobility. Second Edition. Oxon/New York: Routledge; Peter Merriman / Lynn Pearce (Hgg.) (2018): Mobility and the Humanities. Oxon/New York: Routledge; Julie Cidell / David Prytherch (Hgg.) (2015): Transport, Mobility, and the Production of Urban Space. New York/Oxon: Routledge; Thomas Zeller (2022): Consuming Landscapes. What We See When We Drive and Why It Matters.Baltimore: Johns Hopkins University Press; Sigurd Bergmann / Thomas Hoff / Tore Sager (Hgg.) (2014): Spaces of Mobility. The Planning, Ethics, Engineering and Religion of Human Motion. Oxon/New York: Routledge. 36 Vgl. etwa Michael Cronin: »Human encounters with the natural world are inseparable from the history of travel.«; »The natural world is profoundly shaped by human agency and human agency is, in turn, deeply influenced by the constructs it uses to interpret or understand that world. These constructs are both revealed by and elaborated through the medium of writing about travel.« Cronin: Eco-Travel, Abstract, S. 3. 37 Vgl. etwa Manfred Engel (2010): Kafka und die moderne Welt. In: ders. / Bernd Auerochs (Hgg.): Kafka Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler, S. 498–515. 38 Mesh versteht Morton als »interconnectedness of all living and non-living things«. Vgl. Timothy Morton (2010): The Ecological Thought.Cambridge/London: Harvard University Press, S. 28. 39 Vgl. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 140f. 40 Zum amerikanischen Landhaus vgl. etwa Clive Aslet (2004): The American Country House. New Haven/London: Yale University Press; historisch vgl. etwa Charles Edward Hooper (1905): The Country House. A Practical Manual of the Planning and Construction of the American Country Home and its Surroundings. New York: Doubleday, Page & Company; im größeren Kontext vgl. etwa Thomas F. Gieryn (2002): What buildings do. In: Theory and Society 31/1, S. 35–74. 41 Phoebe Hearst (1842–1919), Witwe des Multimillionärs, Bergbauunternehmers und Politikers George Hearst (1820–1891). Vgl. Phoebe A. Hearst Museum: Our Founder: Phoebe Apperson Hearst. https://hearstmuseum.berkeley.edu/phoebe-heast/ (28.03.2023) sowie Matthew Bernstein (2021): George Hearst. Silver King of the Gilded Age. Norman: University of Oklahoma Press. 42 Den Namen »Golden Gate« erhielt die die Meerenge bereits 1846 von John C. Frémont, der damals die Unabhängigkeit Kaliforniens von Mexiko erklärte und die Meerenge als Chrysopylae bezeichnete (griech. für »Golden Gate«, wohl auch in Anspielung an das Goldene Horn am Bosporus, griech. Chrysokeras, welches gewissermaßen die ›Grenze‹ zwischen Europa und Asien darstellt). Vgl. Golden Gate Bridge, Highway and Transportation District: Key Dates in Bridge District History. https://www.goldengate.org/bridge/history-research/moments-events/key-dates/ (28.03.2022); »The name given by John C. Frémont in 1846 to the entrance of San Francisco Bay, in anticipation not of the Gold Rush, but of the riches of Asia that would enter the port.« William Bright (1998): 1500 California Place Names. Their Origin and Meaning. A revised version of 1000 California Place Names, by Erwin G. Gudde, third edition. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, S. 37. 43 Franz Kafka (2010): Wunsch, Indianer zu werden. In: ders.: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Hrsg. v. Roger Hermes. Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 7. 44 Zur Musik im Werk von Franz Kafka vgl. weiterführend etwa Steffen Höhne / Alice Stašková (Hgg.) (2018): Franz Kafka und die Musik.Köln/Weimar/Wien: Böhlau. 45 Vgl. hierzu exemplarisch der österreichische Nationalökonom Emanuel Herrmann in seinem Werk Cultur und Natur. Studien im Gebiete der Wirthschaft (1887): »Der Planet Erde ist eine Maschine, welche dem Druck des Menschengeschlechts so gehorchen sollte, wie die Locomotive dem Hebeldrucke ihres Führers.« Emanuel Herrmann (1887): Cultur und Natur. Studien im Gebiete der Wirthschaft. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur, S. 23. 46 Zum Theater vgl. exemplarisch die Critical Theatre Ecologies, einführend etwa bei Martin Middeke / Martin Riedelsheimer (2022): Co-Mutability, Nodes, and the Mesh: Critical Theatre Ecologies – An Introduction. In: Journal of Contemporary Drama in English 10/1, S. 2–25; zum Theater als Raum vgl. auch Erika Fischer-Lichte / Benjamin Wihstutz (Hgg.) (2013): Performance and the Politics of Space. Theatre and Topology. New York/Oxon: Routledge. 47 Mein Gedanke ist hier, dass wenn das Fenster geöffnet ist, der Rauch aus dem Coupee entweichen müsste, und dieses somit nicht »von Rauch erfüllt« sein kann. Andererseits könnte entgegengesetzt argumentiert werden, dass das Coupee gerade bei geöffnetem Fenster von Rauch erfüllt sein müsste, da das Fenster explizit aufgrund des Rauchens innerhalb des Coupees geöffnet wird. 48 Vgl. exemplarisch Nancy K. Dess (2021): A Multidisciplinary Approach to Embodiment. Understanding Human Being. New York/Oxon: Routledge. 49 Vgl. dazu das Konzept trans-corporeality. Alaimo: Bodily Natures.