Manuel Bolz: »Let’s Talk About Revenge! Retributive Emotions, Justice, And Moral Repair!« Tagungsbericht zur internationalen und interdisziplinären Konferenz am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI), 14.-16.07.2022.
Die Moderne, so der Ausgangspunkt der internationalen und interdisziplinären Hybridtagung »Let’s Talk About Revenge! Retributive Emotions, Justice, And Moral Repair!«, behauptet, das Phänomen der Rache überwunden zu haben. Der gesellschaftlichen Fortschrittserzählung und dem Zivilisationsnarrativ zufolge wurde Rache durch die rationale Praxis des Rechts ersetzt: Praktiken der Selbstjustiz und selbstermächtigende Ausgleichsformen nach erfahrenen Ungerechtigkeiten wurden durch Rechtsinstitutionen, Gesetzestexte und Disziplinierungsmaßnahmen abgelöst.
Mehr noch, politisch-philosophische Argumentationen wie zum Beispiel von Francis Bacon (1625) und Thomas Hobbes (1651) formulierten die These, dass Rache und Recht sich gegenseitig ausschließen würden. Im Gegensatz dazu wird jedoch in empirischen Wirklichkeiten und modernen Selbstverständnissen deutlich, dass rachsüchtige Affekte und Emotionen der Vergeltung keineswegs verschwunden, sondern nach wie vor präsent sind – jedoch meist nicht sichtbar in Erscheinung treten. Des Weiteren wird Rache als psychosoziale Regulierungsinstanz, umgekehrter Gabentausch oder anthropologische Grundkonstante konstruiert. Auf dieser Grundlage wurden in der frühen Ethnologie teils ganze Gesellschaftsdiagnosen (»Rachegesellschaften«) formuliert.
Es wird deutlich: Rache ist nicht nur eine Reizvokabel und Worthülse, sondern verweist auch auf eine Dimension der gelebten Erfahrung und entsprechende Deutungsmuster. Das Konzept wird im Alltag vielfältig genutzt. Rache wird aufgeladen – wird emotionalisiert, moralisiert und polarisiert und wird häufig als antisozial, destruktiv und negativ verstanden. Gleichzeitig steckt im Begriff der Rache eine affektive und normative Rahmung von menschlichen Handlungsweisen, die für menschliche Selbstverständnisse und Biographien auch (re)aktivierend, produktiv und ordnend sein kann (Bernhardt 2021).
Das Ziel der Tagung bestand darin, differenzierte Aussagen über die vielfältigen Formen, Funktionen und Figurationen der Rache in der Gegenwart und Vergangenheit zu treffen. In diesem Zusammenhang wurde u.a. die Frage diskutiert, in welche Emotionskomplexe Rache eingebunden ist und welche Moralvorstellungen sich in sie einschreiben.
In diesen Spannungs- und Konfliktfeldern zwischen divergierenden Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Handlungsmacht und Strategien von moral repair setzten die Vorträge an. Sie konturierten die Potenziale von Rache in individuellen, institutionellen und strukturellen Konfliktlösungen, sowohl empirisch-quellenbezogen als auch theoretisierend-reflexiv.
Die Tagungsprogramm bot 13 Vorträge aus Literatur-, Medien-, Theater-, Politik-, Rechts- und Altertumswissenschaft, Philosophie sowie Sozial- und Kulturanthropologie in den drei Panels »New Perspectives on Revenge – in Philosophy, Ethics, and Religion«, »Practices of Revenge – Criminal Law, Retaliation, and Institutionalized Revenge in Different Cultural Settings« und »Narratives of Revenge – Destructive Emotions, Retribution, and Poetic Justice in Arts and Media«. Ergänzt wurden die Vorträge durch einführende Worte zum Thema »Rache« sowie die jeweils abschließenden Paneldiskussionen.
Die Philosophin Maria-Sibylla Lotter (Ruhr-Universität Bochum) wies in ihrer Einführung auf die Aktualität von Rache hin, beispielsweise in medialen Diskursen über kriegerische Auseinandersetzungen, Genozide und nationale Erinnerungskulturen. Ein kritischer und analytischer Zugriff darauf erlaubt es, über konkrete Phänomenbereiche zu informieren, in denen Rache nach wie vor präsent ist und gleichzeitig die Rache-Konstruktionen sichtbar zu machen. Denn, so führte Lotter aus, bis heute existieren verschiedene soziale Ordnungen innerhalb von Gesellschaften, die den Stellenwert, das Verständnis und den Umgang mit Rache prägen.
Die Philosophie hat sich in ihrer Fachgeschichte wiederholt mit ›Rache‹ beschäftigt.
Um das moderne Inkognito der Rache zu beschreiben, nutzte der Philosoph Fabian Bernhardt (Freie Universität Berlin) die Metapher der »Verdunklung«: Sowohl der wissenschaftliche Umgang als auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rache lagerten Rache außerhalb Europas aus oder stellten sie dem Recht gegenüber. Eine Perspektive, die zu verkürzt sei, so Bernhardt.
Der Oliver Hallich (Universität Duisburg-Essen) näherte sich dem Phänomen auf der philosophisch-konzeptuellen Ebene an und stellte Begrifflichkeiten wie zum Beispiel »Rache«, »Strafe« oder »Vergeltung« einander gegenüber. Er schlussfolgerte, dass die Verwendungen des Begriffs ›Rache‹ im Alltag, in der Populärkultur und auf politischen Bühnen variieren, sie jedoch einen ähnlichen Kern haben: Die erlittene Verletzung und den Ausgleich eines erlittenen Unrechts. Myisha Cherry (University of California, Riverside) schloss an die Diskussion an und versuchte das Wesen von Rache aus einer philosophischen Perspektive zu charakterisieren. Sie legte den Schwerpunkt auf die menschliche Emotionspraktik des Rache-Fühlens und schlug fünf Bausteine vor, die für Rache konstitutiv sind: Plans, Passions, Pleasures, Products and Powers.
Rache, Emotionen und Sprache spielten auch in den althistorischen Ausführungen und klassisch-philologischen Argumentationen eine Rolle. David Konstan (New York University) zeigte anhand antiker Quellen wie Rache als ein Komplex aus Emotionen (Wut, Trauer usw.) verstanden werden kann anstatt selbst als eine spezifische Emotion. Und auch Bernadette Descharmes (Technische Universität Braunschweig) knüpfte hier an und formulierte die These, dass Emotionen um Rache integrativ oder desintegrativ wirken können. Auf der Basis von Rachekonzepten in Tragödien zeichnete sie nach, wie der Rache im klassischen Athen eine soziale Funktion zugeschrieben wurde und sie Emotionen der Solidarität begründete, etwas, dass in gegenwärtigen eher negativ konnotierten Racheverständnissen verschwunden ist.
Die Frage nach Zugehörigkeiten und Kollektivierungen griff auch der Ethnologe Günther Schlee (Max-Planck-Institut, Halle) auf. Basierend auf seiner mehrjährigen Feldforschung in Afrika stellte er verschiedene Fälle von »revenge killings« vor, in denen Gruppen und Familienmitglieder aufgrund von Verwandtschaftsverhältnissen und Gefühlen der Solidarisierung Rache ausübten. Wie nah Rache und (institutionalisierte) Rechtsformen beieinander liegen können, diskutierte auch die Rechtswissenschaftlerin und -philosophin Tatjana Hörnle (Max-Planck-Institut, Freiburg im Breisgau) anhand der Geschichte des deutschen Strafrechts und gegenwärtiger Straf- und Disziplinierungstheorien.
Neben den philosopisch-konzeptuellen, den sprachlichen und rechtshistorischen Einordnungen von Rache wurden auch künstlerischen Erscheinungsformen diskutiert. So dekonstruierte die Literaturwissenschaftlerin Juliane Prade-Weiss (Ludwig-Maximilians-Universität München) anhand dokumentarischer Fiktionen von Massengewalt und Genoziden spezifische Erzähl- und Inszenierungsformen von Rache. Für Prade-Weiß fungieren die Medien als Archive und bedingen spezifische Praktiken des Erinnerns. Der Literaturwissenschaftler Sebastian Schirrmeister (Universität Hamburg) widmete sich daran anknüpfend der jüdischen Literatur und Erinnerungskultur nach der Shoah. Er zeigte, wie der Topos von »rächenden Jüd:innen« sich durch die Kulturgeschichte bis in die Gegenwart zieht und mit Ängsten, antisemitischen Stereotypen und religiösen Deutungsmustern einhergeht, gleichzeitig aber auch Raum für eine kreative und humoristische Aneignung der Narrative bietet. Die Philosophin Alice Maclachlan (York University) widmete sich der Kunstform Film und diskutierte das Motiv Rape and Revenge (deutsch: Vergewaltigung und Rache). Sie zeigte, wie weibliche Rache als eine Antwort auf das Erleben sexualisierter Gewalt und die Verletzung der eigenen körperlichen Integrität interpretiert werden könnte. Auch die Literaturwissenschaftlerin Saskia Fischer (Leibnitz-Universität Hannover) diskutierte anhand der Seeräuberin Jenny aus Bertolt Brechts (1898–1956) Dreigroschenoper aus dem Jahr 1926 (Englisch: 1954) geschlechtsspezifische und gewaltvolle Rachefantasien. Fischer arbeitete am Beispiel der Figur Jenny weibliche Widerstände und Emanzipationsstrategien durch/mit Rache gegen männliche Unterdrückung und Herabsetzungen heraus.
Abseits der literarischen und visuellen Fallbeispiele formulierte der Politikwissenschaftler und Philosoph Roger Berkowitz (Bard College New York) sein Konzept einer »beautiful revenge«. Er übertrug ästhetisch-künstlerische Prinzipien in der Analyse von Kunstwerken wie zum Beispiel Symmetrie, Harmonie oder die Gestaltbarkeit menschlicher Handlungen auf Vorstellungen von Rache und Gerechtigkeit.
Die Tagung zeigte, dass die Komplexität von Rache und ihre sozialen, kulturellen, ökonomischen, symbolischen und politischen Facetten erst durch einen interdisziplinären Zugang greifbar gemacht und analysiert werden können. Es geht also weniger darum, eine allgemeine Definition von Rache zu formulieren, sondern konkrete Forschungsfelder, historische Kontexte, Beziehungsformen und Rachepraktiken zu benennen sowie die Formen und Bedeutungen, die Rache hier einnehmen kann. Es benötigt also eine weitere Auseinandersetzung, um individuelle menschliche Rachekonstruktionen sichtbar zu machen und gleichzeitig auf gesellschaftsstrukturelle Mechanismen und ihre Handlungszwänge hinzuweisen.