Marietta Schmutz: »Posthumanismus. Transhumanismus. Jenseits des Menschen?« Tagungsbericht zur 7. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG), 25.5.-28.5.2022, Universität Graz

Im Mai 2022 fand die mittlerweile siebente Jahrestagung der KWG diesmal mit dem Titel »Posthumanismus. Transhumanismus. Jenseits des Menschen?« statt, zu der die ehemalige Gesellschaftsvorsitzende Hildegard Kernmayer an ihre Heimatuniversität nach Graz einlud. Marietta Schmutz war für die Organisation und Mitkonzeption der Veranstaltung zuständig. Im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen stand, wie im Titel bereits antizipiert, nicht weniger als die Frage nach dem Menschsein, die im beginnenden 21. Jahrhundert erneut Relevanz gewinnt.

Sowohl im kritischen Posthumanismus als auch im Transhumanismus, die zwar ganz unterschiedliche ideologische und epistemologische Voraussetzungen besitzen, ist das ›protagoräische‹ Diktum vom Menschen als dem ›Maß aller Dinge‹ angesichts sich erweiternder Bio- und Informationstech­nologien, aber auch angesichts der systematischen Zerstö­rung von Lebensraum und natürlichen Ressourcen an sein (vorläufiges) Ende gelangt. Unterschiedliche Visionen, Vorstellungen und Ziele gibt es in den beiden Strömungen auch im Hinblick auf eine mögliche und wünschenswerte Zukunft ›jenseits des Menschen‹: In transhumanistischen Entwürfen wird die Optimierung (oder gar Überwindung) des als unspezialisiertes biologisches Mängelwesen wahrgenommenen Menschen herbeigesehnt, wobei technologische Verfahren wie Digitalisierung, Interfacing oder Robotisierung die Grenzen des Menschen und seiner Umwelt nach und nach überschreiten sollen. Konzepte des Kritischen Posthumanismus, in denen auch versucht wird, dekonstruktivistische Theorien mit sogenannten ›Neuen Materialismen‹1 zu versöhnen, gehen von der prinzipiellen ›Vernetztheit‹ jeglicher Materie aus und postulieren eine Gleichwertigkeit oder Gleichberechtigung von unterschiedlichen Seinsformen, seien diese nun ›tierisch‹, ›menschlich‹, ›pflanzlich‹ oder auch ›technologisch‹.

Das Echo auf den Call for Papers zu diesem umfassenden Thema war groß und die Veranstaltung wurde, wie erhofft, zu einer gelungenen transdisziplinären kulturwissenschaftlichen Reflexion über Entwicklungen, die im öffentlichen Diskurs in erster Linie als naturwissenschaftlich-technologische verhandelt werden.

Programmpunkte und Ziele

Das umfangreiche, viertägige Programm umfasste 23 Panels, 3 Keynotes, 4 Rahmenprogrammpunkte, eine Podiumsdiskussion sowie eine KWG-Mitliederversammlung. Mit insgesamt 8 von 23 Panels hatten die Sektionen der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft einen großen Anteil an der Gestaltung des Tagungsprogramms. Die vormalige stellvertretende Vorsitzende Astrid Fellner wurde auf der Mitgliederversammlung zur neuen Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt. Die Tagung diente zudem der neu formierten KWG-Studierendensektion zum Kennenlernen und als Vernetzungsrahmen. Nicht zuletzt sorgte das Rahmenprogramm für die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit des Tagungsthemas in der (Grazer) Öffentlichkeit, u.a. durch Kooperationen mit lokalen Medien (z.B. Kleine Zeitung), dem Kunsthaus Graz und dem Grazer Zentrum für zeitgenössische Kunst rotor.

Highlights

25. und 26. Mai

Mit einer ersten Keynote wurde die Veranstaltung am 25.5.2022 von der an der University of West London beheimateten Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Helen Hester eröffnet, die über die im (kritischen) Posthumanismus öfter bemühte und vor allem durch Donna Haraway bekannt gewordene Figur des Cyborgs sprach, insbesondere wie sie in der Raumfahrt Mitte des 20. Jahrhunderts verhandelt wurde, um die Veränderlichkeit des Körpers und Ideen rund um die sogenannte »partizipative Evolution« (Clynes & Kline) zu untersuchen. Das Konzept des Anthropoforming wurde von Hester als Kontrapunkt und Ergänzung zum Konzept des Terraforming vorgeschlagen und führte sie zur Artikulation einer Politik der kollektiven und individuellen Selbstgestaltung.

Dieter Mersch, Professor für Ästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste, sprach am nächsten Tag in einer zweiten Keynote über das im Politischen mitgedachte Soziale, wofür ihm der aristotelische Ausdruck ›koinōnia politikē‹, ursprünglich ›Versammlung des Politischen‹, als Ausgangspunkt diente. Mersch kam zu dem Schluss, dass posthumanistischen Theorien ein angemessener Begriff des Sozialen fehle und dass ein immer schon humanistisch bestimmtes Verständnis des Sozialen überhaupt erst Voraussetzung dafür sei, eine relationalistische (posthumanistische) Ökologie und entsprechend auch einen ›Neuen Materialismus‹ denken zu können.

Am zweiten Tag der Veranstaltung gab es unter den Panels einen Schwerpunkt zum Thema »Sprache und Kommunikation unter posthumanistischen Bedingungen«: ein Panel etwa über »Lautliche Kommunikation und ihre Konzeptualisierung im Zeitalter von Mensch-Maschine-Interaktion«, ein anderes über »Transhumane oder Posthumane Translation« und ein Treffen der KWG-Sektion Sprache und Kommunikative Praktiken, in dem Kommunikations- und Interaktionspraktiken ›in Transition‹ zwischen Mensch und Nichtmensch in Theorie und Empirie diskutiert wurden.

Der zweite Schwerpunkt konnte in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem bzw. im Posthumanismus und ihrer Rezeption gefunden werden: Im Panel »Zerfallen – Zerfließen – (Re-)‌Konstruieren: Ambivalenzen der textuellen Subjektbildung« wurden Perspektiven der literarischen Anthropologie und des Posthumanismus zusammengeführt, um theoretische und analytische Möglichkeiten dieser Verbindung auszuloten. Die an der Universität Graz ansässige Literaturwissenschaftlerin Anne-Kathrin Reulecke präsentierte zudem ein umfangreiches Panel über »Imaginationen des Künstlichen Menschen und Grenzen des Humanen in zeitgenössischen Romanen, Filmen und Serien«.

Ein weiterer Beitrag aus Graz kam von Forscher*innen des Institutes für Psychologie, die den »Trans- und Posthumanismus aus psychologischer und neurowissenschaftlicher Perspektive« beleuchteten. Das Panel der Sektion Materielle Kulturen diskutierte die Veränderungen, die eine post- bzw. transhumanistische Perspektive auf Materialität mit sich bringt und z.B. die materiell-diskursiven, prozesshaften sowie agentiellen Aspekte von Dingen betont. Auf positiven Widerhall stieß an diesem Tag vor allem das Panel der neu formierten KWG-Studierendensektion – unter der Federführung von Nadine Linschinger (Graz) und Jann Mausen (Berlin) –, die zu einem kritischen Spaziergang durch den Botanischen Garten der Universität Graz mit anschließendem Gespräch einlud. Angeregt wurde die Diskussion durch die Einsicht, dass in Botanischen Gärten menschliches und pflanzliches Streben, Welt zu erzeugen, aufeinandertreffen und dass diese Begegnung nicht nur (post-)‌koloniale Hintergründe, sondern auch (speziesübergreifende) Optimierungsbestrebungen (z.B. Genetik) evoziert.

Ein Doppelpanel mit anschließendem Sektionsworkshop wurde von der KWG-Sektion Transkulturelle Lebenswelten gestaltet und setzte sich unter anderem mit künstlerischen und soziokulturellen Kollaborationen, die eine sprichwörtliche Annäherung der verschiedenen Spezies an menschliche wie nicht menschliche Tiere, pflanzliche Organismen und extraterrestrische Lebensformen vorschlagen, auseinander. Das Panel beinhaltete auch einen Teil des Rahmenprogramms: Die Düsseldorfer Künstlerin Mona Schulzek präsentierte ihre interaktive Installation »Outer Space Transmitter« auf dem Vorplatz des Grazer Kunsthauses, die viele interessierte Passant*innen anlocken konnte.

Als weiterer Rahmenprogrammpunkt an diesem Tag wurde in Kooperation mit Hannes Krämer (Duisburg-Essen) aus gegebenem Anlass ein Roundtable zum Krieg in der Ukraine veranstaltet. Mit Nataliya Kovtonyuk und Anna Kryvenko konnten zwei Research Fellows an der Universität Graz gewonnen werden, die mit Sonja Koriolov (Graz) und Alexander Wöll über mögliche Ansätze diskutierten, wie sich die Kulturwissenschaften im Kontext des Kriegs in der Ukraine in die Gestaltung einer europäischen Wissenschaftsgemeinschaft einbringen können.

27. Mai

Am Freitag gab es zunächst einen Schwerpunkt zur digitalen Gesellschaft: Das Panel »Dezentrierungen« diskutierte etwa, inwiefern einzelne Menschen genauso wie menschliche Kollektive dezentrierenden Dynamiken digitaler Technologie ausgeliefert sind, die die Vorstellung vom Menschen als kulturschaffendem Wesen verändern. Die Vorträge und Impulsreferate im Panel der Sektion Kulturtheorie und Kulturphilosophie behandelten u.a. die Frage, wie sich Spiel und Normgebung respektive Normbefolgung im digitalen Zeitalter zueinander verhalten und was dies für den Begriff des Menschen und des Humanen bedeutet. Im Panel »Wissenskulturelle Aspekte trans- und posthumanistischer Wissenskonstellationen« wurde nach dem Wer und Wo des Wissens gefragt: Nicht nur im Hinblick auf ritualisiertes und kollektives Wissen, sondern auch angesichts von Digitalisierung und ›intelligenten‹ Maschinen relativiere sich unsere Vorstellung vom Individuum als Sitz des Wissens.

In Kooperation mit der Sektion Naturen/Kulturen fand das Doppelpanel »›Netzwerke des Lebendigen‹: multispecies agencies und Formexperimente in hybriden Genres« statt, in dem Fallbeispiele von Darstellungs- und Ausdrucksformen diskutiert wurden, die die bisherigen Zuordnungen und Einteilungen ästhetisch untergraben, zerfasern oder überwuchern und auf andere Weise neu konstituieren. Die Vorträge des Panels »Aktanten der Künste. Ästhetische Produktion-Rezeption in ihren Subjekt-Objekt-Relationen« der Sektion Kulturwissenschaftliche Ästhetik versuchten wiederum zu ergründen, wie sich eine relationale Ästhetik konstituiert, welche die Verflechtung von menschlichen und nicht menschlichen Aktanten und von Subjekt-Objekt-Relationen in den Mittelpunkt stellt. Nicht zuletzt diskutierte man im Panel der Sektion Kulturwissenschaftliche Border Studies über die vielfältigen Anschlüsse und Irritationen des Posthumanismus mit Blick auf die Kulturwissenschaftliche Grenzforschung, während andernorts (im Panel: »Postdisciplinarity and Posthumanism«) über die Notwendigkeit, die Möglichkeiten und Grenzen von Postdisziplinarität gesprochen wurde.

Ein gelungener Veranstaltungstag endete mit einer Podiumsdiskussion im Kunsthaus Graz. Julia Grillmayr sprach mit den Podiumsdiskutant*innen Christine Blättler, Alfred Nordmann und der Künstlerin Tatyana Leys über ihre Ansichten zur möglichen ›Zukunft des Körpers‹.

28. Mai

Am letzten Tag der Veranstaltung gab es eine dritte Keynote von dem langjährigen Posthumanismus-Forscher Stefan Herbrechter, der über das Verhältnis zwischen der Kritik am ›liberal humanistischen Subjekt‹ auf der einen Seite und der Kritik der Gewalt sowie der Frage nach der Gerechtigkeit auf der anderen Seite sprach. Daran schlossen sich notwendigerweise einige Fragen an: Gibt es einen Posthumanismus ›jenseits‹ von Gewalt (von Menschen an Menschen, von Menschen an Nichtmenschen oder aber auch umgekehrt, Naturgewalt usw.)? Ist eine Welt ›ohne‹ Menschen eine gerechtere Welt? Oder ist dies genau die (rhetorische) Frage, auf die ein Humanismus immer hinausläuft?

Inhaltliche Breite in den Panels erwartete die Zuhörer*innen auch am Samstag: Um literarische Texte der besonderen Art ging es im Panel »The Uncanny Valley – Representations of Technological Utopias, Ecological Dystopias and Posthuman Uncanniness in Recent Anglophone Media Products«, in dem politische, soziale und kulturelle Implikationen der Verbindung zwischen ökologischen und technologischen Erfahrungen des Unheimlichen (»uncanniness«) untersucht wurden. »Spiel-Arten des Theaters« präsentierte dem Publikum zeitgenössische Theater- und Performanceproduktionen und spürte dem Posthumanen/Transhumanen in den sinnlichen, bildhaften und polyphonen Ausdrucksweisen der performativen Künste nach.

Die Vorträge im Panel »Kulturelle Narrative des Posthumanismus« gewährten auf verschiedenen Ebenen Zugänge zu den Narrationsformen des Posthumanismus und stellten sich unter anderem der Frage, inwieweit der Posthumanismus die interdisziplinäre, narrative Manifestation einer wechselseitigen Wirkung von (subkultureller) Literatur, insbesondere Science-Fiction-Literatur, und Philosophie sei. Um eine noch ungeschriebene posthumanistische Narratologie wiederum ging es im Workshop mit dem bezeichnenden Titel »Wie soll man das erzählen?«, in dem klassische narratologische Kategorien wie Erzählperspektive, Modus und Zeit nach Genette neu kontextualisiert und auf ihre humanistische Codierung sowie ihr posthumanistisches Weiterentwicklungspotential hin befragt wurden. ›Wie soll man das lesen?‹ fragten im übertragenen Sinne die Vortragenden des Panels »Posthuman-queere Lektüren«, in dem das Potential verschiedener Denkfiguren und Begrifflichkeiten aus dem Bereich posthumaner/queerer Theorien für die Untersuchung literarischer Texte bzw. Comics ausgelotet wurde.

Jenseits der Universität in der Grazer Innenstadt fand schließlich der Workshop »Wir Erdbewohner!nnen. Menschenbilder, Solidarität und Konflikte im Anthropozän« statt, in dem (prä- und post-)‌anthropozäne Menschenbilder und Praktiken mit Fokus auf verschiedene sozialräumliche Kontexte (z.B. urbane, rurbane, mariterrestrische) verhandelt wurden. Der Workshop wurde als Kooperation mit dem Zentrum für zeitgenössische Kunst rotor veranstaltet: Die dort kuratierte Ausstellung »Wesen & Kreaturen. Kapitel 1: Auf einer beschädigten Erde« verstand sich als Teil des Rahmenprogramms und konnte über den Zeitraum der Tagung von den Konferenzgästen rund um die Uhr besucht werden.

Insgesamt wurde die Tagung von den teilnehmenden Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Zuhörer*innen sehr positiv aufgenommen und erwies sich als gelungene Zusammenschau interdisziplinärer Zugänge zu Fragen des Mensch- oder nicht-Menschseins im vielzitieren und -kritisierten Zeitalter des Anthropozäns (Crutzen & Stoermer 2000). Materie oder Objekte als handlungsmächtig und (relativ) unabhängig von Vorstellungen humanistisch geprägter Subjektivität zu denken, wurde unter anderem als Herausforderung begriffen, die sich ja – von erkenntnistheoretischen Gewinnen abgesehen – auch in ethisch-politischen Diskursen als relevant erweist.

Das vollständige Tagungsprogramm und weitere Informationen zur Veranstaltung finden sich im offiziellen Programmheft unter:

Download

KWG_2022-Broschuere

Fußnoten

1 Vgl. u.a. Donna Haraway (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M./New York: Campus; Rosi Braidotti (2014): Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt a.M. [u.a.]: Campus; Jane Bennett (2020): Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge. Berlin: Matthes & Seitz.