Gabriele Dürbeck und Simon Probst: Tiefenzeitliche Erinnerungen in der anthropozänen Literatur. Auf dem Weg zu einer Theorie des naturkulturellen Gedächtnisses

Abstract: With the increasing interconnectedness of nature and culture in the Anthropocene, new narratives about humanity’s past, present, and future have been emerging. This is associated with a restructuring of cultural memory in the context of Earth history. To contribute to a better understanding of these changes, this paper takes recourse to approaches from Memory Studies. In a post-humanist extension of Memory Studies, the so-called archives of nature (sediments, fossils, ice cores, tree growth rings, corals) are described as the material basis of a natural-cultural memory. The concept of natural-cultural memory refers to the totality of cultural practices and institutions which make the archives of Earth history accessible and thereby constitute a culturally significant time horizon. A crucial question here is how the interplay of cultural archives and the archives of nature as repositories of the past contributes to the specific functioning of natural-cultural memory and which commonalities and differences are constituted in the process. The article develops the general outline of a theory of natural-cultural memory through a comparative analysis of Esther Kinsky’s poetry collection Schiefern (2020) and Robert Macfarlane’s travelogue Underland. A Deep Time Journey (2019). As a result, it becomes clear how literary texts of the self-conscious Anthropocene reflect on memory processes in a deep-time context, albeit its continuity is threatened by the cumulative effects of human activities.

Keywords: Archive der Natur, Memory Studies, naturkulturelle Verflechtungen, Esther Kinsky, Robert Macfarlane, anthropozäne Literatur

Memory Studies im Anthropozän

Die unter den Begriff des ›Anthropozän‹ (vgl. Crutzen/Stoermer 2000) gestellte Gegenwartsdiagnose, dass menschliche Aktivitäten nahezu alle Ebenen des Erdsystems tiefgreifend verändern, hat in den letzten Jahren zur Herausbildung neuer kultureller Narrative geführt (vgl. Dürbeck 2018). In diesen Narrativen spielen nicht nur Prognosen über die Zukunft der Erde (vgl. Zalasiewicz 2009; Steffen et al. 2018) eine wichtige Rolle, sondern auch neue Erzählungen über die Vergangenheit und die Inter­dependenzen von geo­logi­scher und menschlicher Geschichte (vgl. Chakrabarty 2009; Bonneuil/Fressoz 2016; Le­wis/Maslin 2018). In der Auseinandersetzung mit ökologischen Krisen wie dem menschen­gemachten Klimawandel und dem sechsten Massenaussterben gewinnt die tiefenzeitliche Perspektive der Erdgeschichte gesellschaftliche Brisanz und das kulturelle Gedächtnis strukturiert sich in diesem erweiterten historischen Kontext um.1 Der neue kulturell-politische Horizont der Erdgeschichte ist deshalb auch eine Herausforderung für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung (vgl. Crownshaw 2014).

Um diese Veränderungen im kulturellen Gedächtnis verstehen und reflektieren zu können, muss die Gedächtnisforschung, die bislang vor allem innerhalb der epistemolo­gischen Gren­zen der Natur-Kultur-Trennung gearbeitet hat, erweitert werden. Stef Craps (2018) spricht in »Memory Studies and the Anthropocene« von einer vierten Phase der Gedächtnisforschung: Nach der von Astrid Erll (2011) beschriebenen Entwicklung der Idee eines kollektiven Gedächtnisses im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die vor allem mit Maurice Halbwachs assoziiert ist, einer zweiten Phase in den 1980er und 1990er Jahren, die sich mit Pierre Noras Konzept der lieux de mémoire auf einen nationalstaat­lichen Rahmen konzentrierte, und einer mit der Jahrhundertwende einsetzenden transnationalen, transkulturellen, multidirektionalen, postkolonialen und globalen Perspektive stehe jetzt eine neue Phase an, die über den Anthropozentrismus der bisherigen Gedächtnisforschung hinausgehen müsse (vgl. Craps 2018, 500). Dabei gehe es darum, Erinnerungsprozesse im Rahmen der multiskalaren, mehr-als-menschlichen Komplexität planetarer Systeme zu beschreiben und die Memory Studies so aus ihren »›humanist enclosures‹« (Crownshaw 2018, 501) herauszuführen.

Der vorliegende Aufsatz will einen Beitrag zu einer solchen posthumanistischen Erweiterung der Gedächtnisforschung im Rahmen des Anthropozän leisten. Dafür werden die komplementären Konzepte der naturkulturellen Archive und des naturkulturellen Gedächtnisses entwickelt. Ausgangs­punkt der Theoriebildung ist die Integration der für die Erdgeschichtsschreibung zentralen Archive der Natur (wie Sedimente, Fossilien, Eisbohr­kerne, Baumringe, Korallen) als Grundlage einer Theorie von kollektiven Gedächtnisprozessen. Denn wenn im Anthropozän Geschichte und Erdgeschichte miteinander konvergieren, muss eine an dieser neuen Situation orientierte Gedächtnisforschung kulturelle Archive und die Archive der Natur zusammendenken (vgl. Mercer 2018; Lee 2021). Darauf aufbauend lässt sich theoretisch beschreiben, durch welche kulturellen Praktiken (wissenschaftlich, politisch, künstlerisch) die Archive der Natur und mehr-als-menschliche Inskriptionsprozesse (vgl. Colebrook 2018, 507) als naturkulturelle Archive formiert und als Teil eines naturkulturellen Gedächtnisses aktualisiert werden. Dabei geht es um die gegenwarts- und identitätsbezogenen Rekonstruktionen von Vergangenheit (vgl. J. Assmann 1988, 13), mit denen Gesellschaften ihre Narrative, Identitäten und Zukunftsvorstellungen im tiefenzeitlichen Rahmen der Erdgeschichte verorten.

Einen Ankerpunkt für unsere Überlegungen bilden zwei literarische Texte, die sich dem »selbstbewusst«gewordenen Anthropozän (Keller 2018) zuordnen lassen: Esther Kinskys Lyrikband Schiefern (2020) und Robert Macfarlanes Reisebericht Underland. A Deep Time Journey (2019). Beide Texte beziehen sich explizit auf die Archive der Natur, reflektieren auf die Prozesse von deren Übersetzung in menschliche Kontexte, stellen sich selbst in einen erdgeschichtlichen Zusammenhang und lassen sich deshalb, so unsere Hypothese, als Ausdrucksformen eines naturkulturellen Gedächtnisses im Anthropozän lesen. Unter einem naturkulturellen Gedächtnis soll in diesen Lektüren die Gesamtheit der kulturellen Praktiken und Institutionen verstanden werden, durch welche die Erdgeschichte erschlossen und als ein kulturell bedeutsamer Zeithorizont kon­stituiert wird: von der Herstellung naturwissenschaftlicher Archive aus geophysikalischen Gegebenheiten (z.B. durch Eiskernbohrungen auf einem Gletscher), der Interpretation dieser Archive der Natur sowie ihre Sammlung und Präsentation in naturkulturellen Transferarchiven (wie Naturkundemuseen) bis hin zur Darstellung von Erdgeschichte in Medien, Kunst und Literatur.

Wo sich Sprache und Steine begegnen. Eine Hinführung

In ihrem Gedichtband Schiefern (2020),2 der von der Geologie sowie dem ökologischen und sozialen Leben der Slate Islands handelt, reflektiert Esther Kinsky auf das Verhältnis von Erinnern und Tiefenzeit. Diese Konstellation ist schon dadurch angezeigt, dass sie den ersten von drei Teilen des als Triptychon angeordneten Bandes mit »Deep Time« (S 9) überschreibt und das erste Gedicht »Memory« (S 11) nennt. In der Folge stellt Kinsky zwei Formen des Gedächtnisses einander gegenüber. Unter dem Titel »Erinnerung 1« (S 12) schreibt sie über das menschliche Gedächtnis als einen »raum der abwesenheiten«, den die Tätigkeiten »unberechenbarer synapsen und unwägbarer verschiebungen von ablagerungen in den langsam entstandenen und vertieften furchen und falten des hirns« (ebd.) konstituieren und dessen Abwesenheiten nach Namen und Anrufung verlangen. In dem wesentlich kürzeren Gedicht »Erinnerung 2« (S 38) kontempliert das lyrische Ich die »erinnerung des steins als gegenstück« zu der des Gehirns – sein Gedächtnis sei nicht durch Abwesenheiten, sondern durch eine »konsolidierung und fülle« gekennzeichnet, die sich in Prozessen von »abtragung und aufbau, von stauchung und ausdehnung« (ebd.) zeige.

Obwohl die beiden Gedichte einander durch ihre Titel zugeordnet sind und »Erinnerung 2« direkt auf Worte, Bilder und Überlegungen von »Erinnerung 1« antwortet, stehen sie im Band weit auseinander. Zwischen ihnen liegen 25 Gedichte über Geologie und Flora der Slate Islands, in denen die Materialität und Zeichenhaftigkeit des Landes gleichermaßen beschworen werden. In einer linearen Lesart vollziehen die Gedichte eine Bewegung vom Gedächtnis des menschlichen Gehirns zu den vielfältigen materiellen Spuren des geografischen Ortes. Betrachtet man allerdings die Komposition, kommt noch eine andere Lesart in den Blick. Denn die beiden Gedichte bilden eine Art versteckte Klammer: »Erinnerung 1« ist das zweite, »Erinnerung 2« ist das vorletzte Gedicht des ersten Teils. In dieser Weise lassen sich die dazwischenliegenden 25 Gedichte als Ergebnisse der Verschränkungen von beiden Formen des Erinnerns lesen – die mal mehr der einen Seite (Abwesenheit), mal mehr der anderen (Konsolidierung und Fülle) zuneigen.

 Für die Recherche zu Schiefern ist Kinsky auf die Slate Islands gereist. Dort hat sie sich die geologischen Formationen der Insel angesehen, hat die Steine berührt und hat diese Eindrücke in ihrem menschlichen Gedächtnis gespeichert. Sie hat ihre Beobachtungen mit Worten und Fotografien dokumentiert. Außerdem hat Kinsky sich geschichtliches und erdgeschichtliches Wissen über die Insel angeeignet und so die geologische und soziale Zeichenhaftigkeit der Landschaft rudimentär lesen gelernt. Am Ende hat sie mit dem Material der Sprache gearbeitet, einem Sprachmaterial, das reich an geologischen Ausdrücken ist und selbst schon die Ablagerung einer Interaktionsgeschichte von Menschen, Gesteinen und Sprachen darstellt (vgl. Knott 2020). Die Gedichte, die so entstanden, sind das Resultat einer gegenwärtigen literarischen Rekonstruktion erdgeschichtlicher Vergangenheit.

Nimmt man diese Gedanken ernst, lässt sich Schiefern als das Produkt einer naturkulturellen Gedächtnisarbeit lesen. Die Gedichte verweisen auf wissenschaftliche Praktiken und Vokabeln, arbeiten mit dem geologischen Sprachmaterial und verbinden das mit verkörperten Erfahrungen, individuellen Geschichten und kulturell überlieferten Erinnerungen an das Leben auf den Slate Islands. Auf diese Weise bestehen die Gedichte in einer komplexen kulturellen Gedächtnisarbeit mit den Archiven der Natur. Daraus folgt unter anderem, dass eine literaturwissenschaftliche Analyse, die das Funktionieren von Kinskys Gedichten systematisch verstehen will, berücksichtigen muss, wie Steine und Landschaften erdhistorische Bedeutungen tragen und welche Relationen von literarischem Text und Landschaft sich auf dieser Grundlage beschreiben lassen; darauf kommen wir im letzten Teil zurück. Im Folgenden werden wir zeigen, wie sich diese Beziehung zwischen menschlichem und geologischem Gedächtnis strukturell verstehen lässt und erklären, wie darin eine Formation entsteht, die wir das naturkulturelle Gedächtnis nennen.

Das naturkulturelle Gedächtnis. Theoretische Grundlagen

Wie entsteht nun die naturkulturelle Form des Gedächtnisses? Um das zu verstehen, muss zunächst geklärt werden, inwiefern für einen Stein (oder auch für Sedimentschichten, Fossilien, Lufteinschlüsse im Eis, Baumringe, Korallen, Stalagmiten etc.) der Begriff ›Gedächtnis‹ verwendet werden kann. Von dort ausgehend lassen sich dann die Beziehungen dieses Gedächtnisses zu sprachlichen und kulturellen Praktiken des Erinnerns beschreiben.

Für die Beantwortung dieser Frage ist es aufschlussreich, sich einem Komplex von in der Geologie fest etablierten Sprach- und Denkfiguren zuzuwenden: den sogenannten ›Archiven der Natur‹ oder ›Archiven der Erde‹. Mit diesen unterschiedlichen Redeweisen ist die Idee gemeint, dass die geologischen Formationen der gegenwärtigen Erde als materielle Spuren kausaler Effekte und somit als ein Komplex indexikalischer Zeichen für vergangene Prozesse und Zustände des Planeten oder auch kleinerer Einheiten der physischen Natur gedeutet werden können (vgl. Baker 1999, 638); sie können wie ein Archiv durchsucht oder wie ein Buch gelesen werden. Diese für die Erforschung der Erdgeschichte konstitutiven Metaphern entstanden, als im 18. und 19. Jahrhundert mit der Verzeitlichung und Historisierung der Natur (Lepenies 1976) Metho­den und Begriffe aus den Geschichtswissenschaften in die Geologie übertragen wurden (vgl. Völker 2021).

Entscheidend ist dabei, dass sich Sedimentschichten, Fossilien, Eisbohrkerne und andere materielle Spuren der Vergangenheit nicht nur metaphorisch als ›Archive der Natur‹ bezeichnen lassen. Der Philosoph Georg Toepfer (2013, 7) hat gezeigt, dass solche Spuren der Erdgeschichte eine Vielzahl von strukturellen Gemeinsamkeiten mit ›kulturellen Archiven‹ aufweisen und deshalb theoretisch begründet als Archive beschrieben werden können. So verfügen die »Archive der Erde« über »konsistente Kriterien des Ein- und Ausschlusses von Objekten« (ebd.), die auf Naturgesetzen basierend den Erhalt bestimmter Materialien und Formationen erlauben. In der Folge dokumentieren die materiellen Spuren für diejenigen, die ihre indexikalischen Verweise entlang von Naturgesetzen zu deuten verstehen, »regelmäßige Muster von Prozessen und Transformationen« (ebd.). Diese Archive dokumentieren auch die An­fänge natürlicher Prozesse. Auf diese Weise stellen die Archive der Natur »in methodo­logischer Hinsicht Rohdaten und Primärquellen zur Verfügung« (ebd.), auf deren Grundlage die Ver­gangenheit der Erdgeschichte erforscht werden kann.

Aber Toepfer hält auch einen zentralen Unterschied zwischen kulturellen und natürlichen Archiven fest. Zwar sind in beiden Archivformen viele der enthaltenen Gegenstände nicht intentional für den Zweck einer späteren Rezeption verfertigt worden, aber die ›Archive der Natur‹ sind zusätzlich »durch eine Nicht-Intentionalität auf höherer Ebene gekennzeichnet: Nicht nur ihre Objekte sind ohne Absicht einer Rezeption entstanden, auch ihre gesamte Anordnung und Zusammenstellung folgt keiner planenden […] Absicht« (ebd.). Für die ›Archive der Natur‹ fallen der Akt ihrer Rezeption – d.h. der Rekonstruktion ihrer naturgesetzlich konstituierten Kriterien des Ein- und Ausschlusses – sowie Prinzipien der Anordnung und Zusammenstellung in eins mit ihrer funktionellen Genese als Archiv.

Ganz ähnliche Überlegungen finden sich bei Claire Colebrook (2018, 507) bezogen auf die Idee eines »planetary memory«. Dieses konzipiert Colebrook in einer Kontinuität von kulturellen Formen des externalisierten Gedächtnisses (Bücher, Gemälde, Fotografien, Bauwerke) und mehr-als-menschlichen Formen der Inskription – also allen Spuren und Markern, die Naturprozesse und die Tätigkeiten des Lebendigen in den Sedimentgesteinen der Erde hinterlassen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen kommt sie zu folgendem Schluss: »It would not be too radical to claim that at the level of geology, the Earth has a memory.« (ebd.)3

Dieses geologische Gedächtnis der Erde bildet die Grundlage für die Konstruktion eines naturkulturellen Gedächtnisses. Der Prozess, in dem aus materiellen Inskriptionen Erinnerungen an die erdgeschichtliche Vergangenheit werden, lässt sich heuristisch mit einer freien Auslegung der Unterscheidung zwischen Speicher- und Funktionsge­dächtnis von Aleida Assmann (1999) beschreiben. Assmann stellt im Verhältnis von kulturellem Gedächtnis und Archiven als gesammelten Wissensbeständen einen Unterschied fest zwischen »neutrale‍[m], identitäts-abstrakte‍[m] Sachwissen« und einem »angeeignete‍[n] Gedächtnis, das aus einem Prozeß der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkonstitution« hervorgeht. Das Funktionsgedächtnis zeichnet sich durch »Gruppenbezug, Selektivität, Wertebindung, und Zukunftsorientierung« aus, während das Speichergedächtnis alle möglichen Arten von Relikten und Spuren aufbewahrt, ohne dass diese irgendeine Form des Gegenwarts- oder Identitätsbezugs aufweisen müssen. In einer Übertragung dieser Unterscheidung auf die Frage eines erdgeschichtlichen Gedächtnisses zeigt sich, dass das Speichergedächtnis der Erde ebenfalls durch »konstruk­tive Akte« (ebd.) graduell in ein natur-kulturelles Funktionsgedächtnis überführt wird.

Am Anfang stehen mehr-als-menschliche Inskriptionsprozesse, die kontinuierlich die materielle Gestalt der Erde und ihre Sedimentschichten umformen und so indexikalische Verweise auf die Vergangenheit der Erde speichern. Darauf folgt die Systematisierung und Interpretation des Speichergedächtnisses der Erde durch die Naturwissenschaften (z.B.die Interpretation von Fossilienfunden, Eisbohrkernen oder das Festlegen von Golden Spikes): also die Herstellung von naturkulturellen Archiven. In diesem Schritt überwiegt das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse und das Zusammentragen bzw. Speichern von Wissensbeständen über die Erdgeschichte, ohne dass diese unbedingt einen Gegenwarts- oder Identitätsbezug aufweisen müssen. Trotzdem lassen sich auch hier schon Aspekte eines Funktionsgedächtnisses finden, wie z.B. eine notwendige Selektivität, der Bezug auf wissenschaftliche Standards und Praktiken ebenso wie eine Prägung durch Vorstellungen der eigenen Gegenwart, darin eingeschriebene Zukunftsvorstellungen und möglicherweise auch Zukunfts­interessen.4 Wissenschaftliche Rekonstruktionen der Erdgeschichte sind auch die Ausgangslage für Projektionen in die erdsystemische Zukunft des Planeten (z.B. NRC 2011). In dieser Funktion wird das erdgeschichtliche Speichergedächtnis der Wissenschaften und ihrer naturkulturellen Archive beispielsweise in den Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (vgl. IPCC 2021) so aufgearbeitet, dass sie zur Grundlage für politische Debatten über die anthropogene Erderhitzung werden, die wiederum Zukunftsszenarien mit Identitätskonstruktionen der jeweiligen Gemeinschaften entwerfen. Auch in der kulturellen Produktion, etwa in der Gegenwartsliteratur, wird die erdgeschichtliche Perspektive aufgegriffen, indem die Erinnerung an unsere tiefenzeitliche Herkunft zum Rahmen für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart in Bezug auf die ökologischen Krisen des Anthropozän wie Klimakrise oder sechstes Massenaussterben wird (vgl. Heise 2016; Farrier 2019).

Damit lässt sich sagen, dass für physische Inskriptionen, Archive bzw. Speichergedächtnisse der Erde sowie die wissenschaftliche Generierung und Speicherung erdgeschichtlichen Wissens das gleiche gilt wie für kulturelle Archive: In ihnen ist eine relativ amorphe Masse von Inskriptionen gespeichert, die erst durch institutionelle und mediale Auswahl-‍,Ausschluss- und Vermittlungsprozesse (z.B. Erll/Nünning 2008; Erll 2017) aktualisiert und im ›kulturellen Gedächtnis‹als identitätsstiftendes Orientierungs- und Hand­lungs­wissen für Gesellschaften organisiert wird (vgl. A. Assmann 1999). So verstanden sind die Archive der Natur eine Grundlage für Prozesse der kulturellen Erneuerung und Transformation (vgl. A. Assmann 2001). Sie dienen nicht nur als passive Wis­sensspeicher, sondern sind Elemente der Herstellung von Dispositiven des Wissens (vgl. Foucault 1973; Ebeling 2014) und der kulturellen Deutungsmacht (vgl. Derrida 1997).

Sobald die physischen Inskriptionen in naturwissenschaftliche Archive überführt werden (z.B. Sammlungen von Fossilien oder Archivböden), lassen diese sich mit Foucaults Archivbegriff als das »allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen« (Foucault 1973, 188) über die Erdgeschichte definieren. Sie werden zu naturkulturellen Archiven, d.h. zu durch wissenschaftliche und kulturelle Praktiken konstituierten und institutionalisier­ten Archiven der Erdgeschichte, durch die bestimmbar ist, welche erdhistorischen Aus­sagen und damit verbundene kulturelle Deutungs­muster möglich sind – und das gilt unabhängig von den Bedingungen des Anthropozän für alle naturgeschichtlichen Aussagesysteme.

Ein Blick in die Wissenschafts­geschichte der Geologie zeigt, dass das Einschließen neuer Arten von Objekten in naturkulturelle Archive neue Typen von Aussagen über die Erdgeschichte hervorbringt. So war die Einbeziehung von Bohrkernen aus dem Eis und von Tiefseesedimenten in den 1970er Jahren die Voraussetzung für eine bis dahin ungekannte Verlässlichkeit in der Klimatologie und Erdsystemforschung (vgl. Bjornerud 2020, 164). Damit beruht das Aussagesystem des Diskurses über die Klimakrise und der damit verbundenen kulturellen, moralischen und politischen Sinn- und Handlungsrahmungen auch auf der Transformation in den naturkulturellen Archiven der Wissenschaft.

Daraus folgt, dass im Anthropozän die Erdgeschichte und die Archive der Natur eine umfassende kulturelle, moralische und politische Bedeutung erhalten (vgl. Zalasiewicz 2009).5 Mit der Beschreibung der geobiophysikalischen Wirkmacht von Menschen rückt die Tatsache in den Vordergrund, dass die wis­senschaftliche Anlage von naturkulturellen Archiven wie etwa einer Pflanzen­samenbank von be­stimmten Infrastrukturen und Machtdispositiven abhängig ist (vgl. Karafyllis 2018). Obendrein schrei­ben sich Menschen (und also auch die Forschenden selbst) durch ihre Aktivitäten in akkumulativer Weise in diese Archive ein und prägen, verändern oder zerstören diese sogar (vgl. Boes/Marshall 2014). Mit diesem paradigmatischen Übergang von der »Rezeption zur Produktion geologischer Strata« und geologischer Inskriptionen (Probst 2020, 3) werden die Archive der Natur auch in ihrem Inhalt zu maßgeblich naturkulturellen Archiven der menschlichen Geschichte. Sie speichern die gegenwärtigen Handlungen für zukünftige Generationen, so dass diese sich historisch deuten lassen werden und von moralischer und politischer Relevanz sind (vgl. Sperk 2015). Damit kommen nicht nur neue »past’s futures« (Wenzel 2018, 503) – retrospektiv betrachtete Antizipationen –, sondern auch neue »future’s pasts« (ebd.) – antizipierte Retrospektiven – in den Blick: Wie wird unsere Gegenwart dereinst anhand natürlicher Spuren und Sedimente, aber auch von Menschen hervorgebrachten Strukturen beurteilt werden? In der Folge prägt die Interpretation naturkultureller Archive im Anthropozän ebenso wie die Antizipation der Rezeption zukünftiger Archive das kulturelle Selbst­verständnis von Menschen und ihrer jeweiligen Kontexte.

Heuristisch lässt sich dieser Vorgang der Konstitution eines naturkulturellen Funktionsgedächt­nisses also in drei Bereiche gliedern: 1. die Einschreibungen von Naturprozessen in die Gesteins- und Eisschichten und Ablagerungen der Erde, 2. die wissenschaftliche Ordnung, Konstruktion und Interpre­tation dieser Archive der Natur und 3. die kulturelle, ethische und politische Bedeutungszuschrei­bung zu diesen Archiven. Die Bereiche 2 und 3 stehen dabei in engen und wechselseitigen Austausch­prozessen. Unter den Bedingungen des Anthropozän mit dem Menschen als geobiophysikalischer Kraft, von der eine Vielzahl von Inskriptionsprozessen in die Erde ausgehen, sind aber alle drei Ebenen wechselseitig untrennbar miteinander verbunden, so dass auch die semiotischen Relationen und die Verhältnisse von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ablagerungen einen neuen Komplexitätsgrad erreichen (vgl. Szerszynski 2012).

Im folgenden Abschnitt wollen wir anhand von Robert Macfarlanes Underland. A Deep Time Journey wesentliche Aspekte der Konstruktion eines naturkulturellen Gedächtnisses in der Literatur des ›bewussten‹ Anthropozän herausarbeiten. Entsprechend der oben beschriebenen Heuristik konzentrieren wir uns insbesondere auf die Darstellung von ›Archiven der Natur‹, von Praktiken ihrer Übersetzung und auf explizite erdhistorische Deutungsangebote.

Das naturkulturelle Gedächtnis in Robert Macfarlanes 'Underland. A Deep Time Journey' (2019)

Funktionen des Unterlands als anthropozäner Gedächtnisort

Macfarlanes Underland ist ein Text par excellence für die Darstellung eines naturkulturellen Gedächtnisses. Durchgehend verbindet der autofiktionale Erzähler natürliche mit anthropogenen Archiven sowohl im buchstäblichen als auch im metaphorischen Sinn. Er erkundet Phänomene der tiefen Vergangenheit und tiefen Zukunft immer in Bezug auf die Gegenwart, etwa wenn er in den verkarsteten Kalksteinhöhlensystemen der Julischen Alpen, einem lieu de mémoire, auf grausame Spuren aus dem ersten und zweiten Weltkrieg stößt, wenn er sich in die ›Wildnis‹ der schmelzenden grönländischen Gletscher begibt und in Gletschermühlen durch das »Gedächtnis« des Eises abseilt (U 389)6 oder wenn er in das labyrinthische Katakombensystem von Paris hinabsteigt und nach dem Überdauern solcher unterirdischen Stadtstrukturen in einer »nachmenschlichen Zukunft« (U 204) fragt.

Underland lässt sich mehreren Genres zuordnen, die sich ergänzen. Die Selbstbezeichnung »A Deep Time Journey« im Untertitel verweist mit dem geologischen Fachbegriff zum einen auf die Verschränkung von räumlicher und zeitlicher Bewegung und zum anderen auf die Form des wissenschaftlichen Reiseberichts, der sich seit dem 19. Jahrhundert als ›popularisierendes Genre‹ (Fisch 1989, 395) etabliert hat, das neben dem ›prodesse‹ auch auf ›delectare‹ mit subjektiver Färbung angelegt ist. Davon macht der Bericht reichlich Gebrauch, indem der Ich-Erzähler und Protagonist uns nicht nur an seinen Wahrnehmungen teilnehmen lässt und auf sie reflektiert, sondern auch nicht an abenteuerlichen Elementen spart, die männlichen Heldenmut verlangen. Der Untertitel in der deutschen Übersetzung »Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde« betont den Aspekt des Explorativen der Reise zum Preis ihrer tiefenzeitlichen Perspektive. Damit wird der Reisetext etwas unglücklich in die Reihe der großen Weltumsegelungen im ersten und zweiten Entdeckungszeitalter eingerückt, die zum größten Teil in einem kolonialistischen Kontext stehen, was für Underland gewiss nicht behauptet werden kann, das sich von einem imperialen Zugriff auf Welt distanziert.7

Zum zweiten lässt sich Macfarlanes Text als non-fiktionaler ›Naturessay‹ bezeichnen. Dieser ist Simone Schröder zufolge durch eine »Beschreibungs-‍, Introspektions- und Reflexionsebene« bestimmt, in denen »wissenschaftliche, subjektiv-emotionale und ethische Inhalte verknüpft« sind (Schröder 2018, 344). Der Erzähler von Underland verwendet für die jeweilige Darstellung geologischer, glaziologischer, paläobiologischer, botanischer, archäologischer oder anthropologischer Phänomene eine allgemein zugängliche Wissenschaftssprache und verbindet diese sowohl mit Mythen, Metaphern und Geschichten als auch mit Wertungen und politischen Bedeutungen. In Erweiterung der Kategorie des Naturessays kann Underland auch als ein exemplarischer Text des ›New British Nature Writing‹ (Lilley 2017) gelten, das nicht mehr durch einen nostalgischen oder elitären Eskapismus geprägt ist, sondern angesichts des großen Ausmaßes der Umweltzerstörung nach neuen literarästhetischen Antworten sucht. Diese neue Gattung ist durch Robert Macfarlane selbst in vielen seiner Schriften geprägt worden und er versucht, sie auch konzeptionell zu bestimmen, indem er sie keineswegs auf non-fiktionale Texte begrenzt, sondern als offen für vielfältige Formen sieht (Macfarlane 2013).

In der Kombination aus Nature Writing und Anthropozän-Thematik kann Underland zugleich als ein paradigmatischer ›anthropozäner Text‹ (Probst et al. 2022) gelten. Der Erzähler problematisiert das Anthropozän-Konzept, da das »rhetorische Wir« eine »pauschalisierte Schuld« annehme und die Idee des erneut an die Spitze der Schöpfung getretenen Anthropos einen »technokratischen Narzissmus« (U 96) artikuliere. Demgegenüber betont Macfarlane für das neue Zeitalter den Zusammenhang von »Schuld und Verwundbarkeit« (ebd.), der uns mit anderen Lebewesen verbindet und die Frage der Verantwortung aufwirft: »Wie sieht die Geschichte der Zukunft aus? […] ›Sind wir gute Vorfahren?‹« (U 97; 473)

Bevor wir die hier implizierten temporalen Perspektiven eingehender untersuchen, sei angeführt, was wir unter anthropozäner Literatur verstehen. Diese ist durch vier Merkmale gekennzeichnet, wobei das erste entscheidend ist, nämlich: 1. der »textliche Bezug auf die geophysikalische bzw. terraformende Kraft menschlicher Kollektive und deren Einschreibung auf einer räumlich und/oder zeitlich planetaren Skala«; 2. ein Bezug auf die erdhistorische Epoche, im vorliegenden Artikel das ›bewusste‹ Anthropozän seit ca. 1950; 3. die beiden formalen Aspekte der »Verstrickung von Naturen und Kulturen sowie skalare Komplexität« (Probst et al. 2022, 17f.), welche inkom­patible Größen­maßstäbe in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie in Bezug auf die Handlungsfähigkeit des Menschen bezeichnen (Horn 2018, 127); und schließlich 4. wieder­kehrende Themenkomplexe und Gegen­stände wie etwa Tiefenzeit, Artensterben, Erderwärmung und Auswirkungen des Klimawandels, Extraktivismus, petrofossile Kulturen und Infrastrukturen, Atomkatastrophe und radioaktiver Abfall, Müll und Plastik. Alle die genannten Themen spielen eine wichtige Rolle in Macfarlanes Underland und werden durch den Fokus auf ›deep time‹ maßgeblich mit der Frage nach Erinnerung und Gedächtnis und naturkulturellen Archiven verbunden.

Ausgehend von der Figur des Abstiegs ins Unterland und damit in vergangene Zeiten wie auch ältere Schichten der Erde und des Eises teilt der Erzähler seinen Text in drei »Kammern« (U 7f.) ein, die er geografisch spezifiziert und ihnen Qualitäten zuspricht: 1. »Sichtbar – Großbritannien«, 2. »Versteckt – Europa«, 3. »Heimgesucht – Der Norden« (U 7f.). Bemerkenswert ist, dass der Weg ins Unterland »durch den gespaltenen Stamm einer alten Esche« (U 11) führt,d.h., für die Erzählung wird eine mythische Grundlage geschaffen. In der griechischen und indianischen Mythologie verweist die Esche auf die Erschaffung der Menschheit, während in der germanischen Mythologie die Esche als allumfassender Weltenbaum Yggdrasil, in deren Zentrum die Menschen leben, im Kampf zwischen guten und bösen Kräften beständig in Gefahr ist, zu welken, was den Weltuntergang zur Folge hätte. Mit diesem Eingangsbild der alten Esche ist die ganze Spannweite des Textes von Ursprungsmythen bis hin zum möglichen Untergang des Menschen markiert.

Die zweite Strukturierung am Ende des Eingangskapitels betrifft den Versuch, den Leser:innen eine übergreifende Perspektive auf die »Aufgaben« des Unterlandes zu geben, die es »für alle Kulturen und Epochen erfüllt: Es soll Kostbares schützen, Wertvolles hervorbringen, Schädliches entsorgen« (U 16). Diese Aussage macht nicht nur den umfassenden kultur- und epochenübergreifenden Anspruch der Erkundung deutlich, sondern auch den Versuch, jenseits der genannten drei Qualitäten des Unterlandes in den unterschiedlichen geografischen Räumen allgemeine Funktionen zu bestimmen. Die nähere Beschreibung dieser drei Funktionen zeigt bereits die enge Verflechtung von natürlichen Archiven mit ihrer Nutzung und Repräsentation:

Schützen (Erinnerungen, wertvolle Stoffe, Nachrichten, gefährdetes Leben).
Hervorbringen (Informationen, Reichtum, Metaphern, Mineralien, Visionen).
Entsorgen (Abfall, Traumata, Gift, Geheimnisse). (U 17)

Das Unterland wird durch diese Funktionen als ambivalenter Ort zwischen Besorgnis und Bewahrung charakterisiert, wobei interessanterweise kein prinzipieller Unterschied zwischen physischen Gegenständen (Bodenschätze, Gift, Abfall) und psychischen oder kulturellen Umgangsweisen mit dem Unterland (Erinnerungen, Traumata, Metaphern) gemacht wird. Auffallend ist außerdem, dass das Unterland mit dieser Einteilung offenbar auf seine ›Aufgaben‹ beschränkt wird, d.h. auf die Rollen, die es für den Menschen spielt.

Die naturkulturelle Gedächtnisarbeit, die in Underland nachvollziehbar ist, besteht in zwei Bewegungen: einmal in dem Absteigen des Protagonisten in tiefere und ältere geologische und biologische Schichten unter der Erde, in Eisschichten, in verkarstete Höhlensysteme oder das symbiotische System der Bäume mit Pilzen, Hyphen und Rhizomorphen; zum anderen der »Aufstieg« (U 487) ganz am Ende des Textes, der gewährleistet, dass über das Verborgene erzählt werden kann. Die Katabasis, die körperliche Bewegung ins Unterland, bedeutet eine Begegnung mit der tiefen Vergangenheit und deren (möglicher) Relevanz für die Gegenwart und Zukunft, die Tiefe selbst bietet einen »Raum für Wahrheitssuche und Bewährung« (Völker 2021, 61). Sie eröffnet neue, wenig bekannte oder auch vergessene Perspektiven auf Gletscher, Steine und Landschaften, die sowohl erdhistorische als auch kulturelle Bedeutung tragen. Das gewählte Wortfeld von Grab, Begraben, Unter-die-Erde-bringen und Verschütten ist dabei von Ambivalenz geprägt; es schwankt zwischen Erinnern und Vergessen, Bewahren und Entsorgen, Tod und Wiederaneignung.

Vergangenheit der Zukunft: Atomendlager und Samenbanken als erweiterte naturkulturelle Speichergedächtnisse

Ein Kapitel über das zukünftige Endlager in Onkalo auf der Insel Olkiluoto im Südwesten Finnlands erzählt davon, wie in 1,9 Milliarden altem Gneis und Granit in 450 Meter Tiefe abgebrannte Brennstäbe mit einer mehrere Millionen oder gar Milliarden Jahre andauernden Halbwertzeit (U 473) versenkt werden sollen – eingefasst in Zirconiumbehälter, diese wiederum umschalt von Kupferzylindern und gebettet in wasserabsorbierendes Betonit und am Ende von zwei Millionen Tonnen Felsgestein zugeschüttet. Das so entstehende Endlager solle »ohne weitere Pflege 100.000 Jahre überstehen und selbst eine kommende Eiszeit überdauern« (U 460).

Oft ist die Nicht-Vorstellbarkeit von großen geologischen Zeiträumen beschrieben worden. John McPhee hat in Basin and Range (1981, 20) den Begriff der Tiefenzeit geprägt und verdeutlicht, dass Zeiträume von mehreren Tausend Jahren, seien es 50.000 oder 50 Millionen, fast dieselbe Wirkung auf die menschliche Vorstellungskraft bis zur ihrer Paralyse ausübten. Die tiefenzeitlichen Maßstäbe von mehreren Tausend oder mehreren Millionen Jahren bezieht der Erzähler in Underland durch seine Darstellung in mehrfacher Weise indes wieder zurück auf menschliches Maß. Zunächst erinnert er daran, dass vor 10.000 Jahren »drei große Flusssysteme durch die Sahara« flossen, vor 100.000 Jahren der anatomisch moderne Mensch aus Afrika auszog oder die ältesten Pyramiden 4600 Jahre alt seien (U 460f.).8 Zweitens bezeichnet er Onkalo und ein weiteres Endlager in New Mexiko als »Tabernakel«, als »größte‍[s] Grab« (U 478) und spricht von »Grablöcher‍[n], die auf ihre Leichen warten« (U 479). Drittens nimmt er der zeitlichen Überdimensioniertheit das Inkommensurable, indem er den Aufbewahrungs­ort äußerst detailliert zu erfassen sucht; die Sicherungshüllen seien sicherer als »die Grüfte der Pharaonen« (U 461). Viertens stellt er eine assoziative Verbindung zum nordischen Kaleva-Mythos her, in dem es ebenfalls um »die sichere Lagerung gefährlicher und der sicheren Bergung kostbarer Materialien«(U 470) gehe, was er als eine Art »Vorauswissen« (U 469) deutet. Es werden demnach zwei Formen von kultureller Archivierung miteinander verschränkt, die ganz unterschiedliche Funktionen haben: hier das Entsorgen und nach Möglichkeit Vergessen, dort das Aufbewahren und aktive Erinnern. Fünftens schließlich denkt der Erzähler über ein praktikables (Nicht-)‌Kennzeichnungs­system für ein atomares Endlager nach, das solche geheimen Orte entweder durch biologische Prozesse zunächst überwuchern und durch geologische Prozesse wie etwa zukünftige Gletscher auf Eis legen lässt, oder aber Codes entwickeln müsste, die auch nach Aussterben der Menschheit noch entzifferbar wären. Im florierenden Gebiet der nuklearen Semiotik räumt Thomas Sebeok Vorschlag eines »›aktiven Kommunikationssystems‹«(U 476), welches generationen­übergreifend immer wieder an die jeweiligen Standards von Geschichten und Mythen einer bestimmten Zeit angepasst und durch eine ›atomare Priesterschaft‹9 gehütet wird, die beste Chance auf Warnung vor der Lebensgefahr einer Endlagerstätte ein.

Ein weiterer Punkt der Darstellung ist die Frage eines Funktionsgedächtnisses für die Vergangenheit der Zukunft. Der Erzähler unterscheidet das atomare Endlager als Archiv grundsätzlich von anderen naturkulturellen Archiven. Beispiele sind zum einen das Global Seed Vault auf Spitzbergen, wo eine repräsentative Vielfalt an Saatgut und Pflanzenmaterial tiefgefroren »für die Zeit nach einer möglichen Katastrophe« (U 472) aufbewahrt wird, zum anderen ein »unterirdisches Archiv des deutschen Kulturerbes« (ebd.) im Barbarastollen bei Freiburg im Breisgau. Während diese »Begräbnisse« (ebd.) für die »Wiederholung und Wiederaneignung« (ebd.) gedacht sind, diene das Endlager der »Entsor­gung« und dem »Vergessen« (ebd.). Mit Bezug auf Assmanns Unterscheidung von Speicher- und Funktionsgedächtnis lassen sich Aufbewahrungsorte, deren Inhalte in Zukunft gewollte oder ungewollte Relevanz haben könnten, als naturkulturelle Speichergedächtnisse in einem erweiterten Sinn bezeichnen: Ihre Inhalte haben das Potenzial, in einem naturkulturellen Funktionsgedächtnis nicht nur mental und kulturell, sondern auch physisch, chemisch und biologisch aktualisiert zu werden. Atomare Endlager fungieren in diesem Sinn als negatives Funktionsgedächtnis. Da für seinen Inhalt gerade keine Erneuerung, Pflege und Wiederaneignung der Vergangenheit angestrebt wird, ist es kein passives Speichergedächtnis, sondern ein aktives, aber negatives Funktionsgedächtnis. Umgekehrt heißt es für die Samenarchive in einem »Weltuntergangsschutzraum«: »Die Samen warten auf ihre Zeit« (U 147f.). Hier wird die mögliche zukünftige Aktualisierung des naturkulturellen Speichergedächtnisses nicht infrage gestellt und wahrscheinlich als wünschenswert erachtet,10 obgleich die neuen Habitate, in denen die konservierten Pflanzen bestehen müssten, sich dann vermutlich geändert haben dürften.

Zukunft der Vergangenheit: das Verschwinden von Archiven der Natur und das Gedächtnis der Literatur

Wie sieht es nun für die Zukunft der Vergangenheit aus, wenn der Erzähler über lange Zeiträume zurückgeht und nach deren gegenwärtiger und zukünftiger Relevanz fragt? Im Kapitel über die Wanderung zum grönländischen Apusiaajik Gletscher beschreibt der Erzähler seine Begegnung mit dem Glaziologen Robert Mulvaney, der die Hoffnung äußert, durch die Erforschung von Eiskernen nicht nur in die Schichten von 10.000 Jahren, sondern in die ältesten, eine Million Jahre zurückliegende Schichten des Eises vorzudringen und dadurch einen wesentlichen Beitrag für »eine große Zukunft«(406) in der Klimawissenschaft leisten zu können. Diese Aussage spannt den Bogen zwischen tiefer Vergangenheit und tiefer Zukunft. Doch der Text versucht auch hier, Bezüge zur Gegenwart herzustellen, indem er zum einen näher auf die Eiskernforschung eingeht, zum anderen die dramatisch veränderten Lebensbedingungen von Inuit-Gemeinschaften durch die fortschreitende Gletscher- und Eisschmelze erwähnt und Aspekte von naturkulturellen Gedächtnisformen anschaulich macht.

Mit den beiden Sätzen »Das Eis hat ein Gedächtnis. Es erinnert Einzelheiten, und es erinnert sich mehr als eine Million Jahre lang.« (U 389) verwendet der Erzähler eine anthropomorphisierende Darstellungsweise für die Betrachtung des Eises als »Aufzeichnungs- und Speichermedium« (U 390), wie es heute in der Eiskernforschung lesbar gemacht wird. Er nennt verschiedene Beispiele von Erinnerungsspuren im Eis wie Waldbrände, steigende Meeresspiegel, die Luftzusammensetzung in der letzten Eiszeit, Temperaturveränderungen im frühen Holozän, einzelne Vulkanausbrüche (z.B. Tambora 1815) oder Luftverschmutzung (z.B. durch die Eisenverhüttung bei den Römern; tödliche Bleimengen im Benzin nach dem zweiten Weltkrieg). Damit erfasst er sehr unterschiedliche Zeiträume, ohne zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Einwirkungen zu unterscheiden. Wenn er im Weiteren den Vorgang der Bildung von Luftblasen in aus Schnee komprimierten Eiskristallen schildert, ist die Metaphorik aufschlussreich. Denn für ihn ist »jede einzelne Luftblase ein Museum, ein silberner Reliquienschrein, in dem eine Aufzeichnung der Atmosphäre verwahrt ist« (U 390). Bei der Rede von »Museum« geht es hier aber nicht um naturkulturelle Transferarchive, wie das etwa für Naturkunde­museen gilt, sondern die Bezeichnung wird für die natürliche und nicht durch kulturelle Selektions­prozesse vorgenommene Speicherung von Daten verwendet. Noch spezifischer ist die Rede vom »silbernen Reliquienschrein«, welcher als religiöser Aufbewahrungsort von oft mit Edelmetallen verzierten Überresten von Heiligen einen rituellen wie auch handwerklichen Kontext voraussetzt. Obgleich die beiden Metaphern nicht in erster Linie auf den selektiven Vorgang der Aufbewahrung verweisen, sondern auf die Kostbarkeit des Inhaltes bzw. der Information, ist ein transzendenter Zusammenhang im Umgang mit dem Speichermedium Eis nicht von der Hand zu weisen. Denn nach der Darstellung des Erzählers dient Eis als »als Übermittler ferner Nachrichten aus dem Pleistozän« zur »Kommunikation mit den Toten und allem Begrabenen, über die Kluft der Zeit hinweg« (U 391).

 Ins Zentrum rückt damit der mediale Charakter des Eises als Mittel der Kommunikation und Information; es überbrückt »die Kluft der Zeit« und kann demnach zwischen sehr langen Zeiträumen vermitteln. Zugleich wird mit dem Bezug auf Tote und Begrabene erneut der Kontext kultureller Riten aufgerufen. Die Darstellung führt kulturelle Gedächtnisformen mit dem physischen Speicher zusammen, so dass der Eindruck entsteht, dass über die Archive der Natur nur in Bezug auf kulturelle Formen von Erinnerung und Gedächtnis gesprochen werden kann. Die »Kluft«zwischen dem tiefenzeitlichen Gedächtnis des Eises und der menschlichen Gegenwart wird jedenfalls durch die glaziologisch versierte Entzifferung der gespeicherten Information überbrückt. Das ist die erste Form von gegenwarts- und zukunftsbezogener Aktualisierung der im Eis gespeicherten Vergangenheit.

Die zweite Form der Aktualisierung des vermeintlich ewigen Eises, auf die der Erzähler immer wieder zu sprechen kommt, ist die Gletscherschmelze, deren Geschwindigkeit in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Er erwähnt »die ostgrönländischen Gletscher« und deren »weltweit schnellsten Rückzugsraten und Abflussgeschwindigkeiten« (U 413) und beschreibt die plötzlich eisfrei werdenden Orte, die eine dicke Schicht von grauem Steinstaub zurücklassen, als »Artefakt« und als »Landmarke des Anthropozäns« (U 446). Wenn das Eis aber schmilzt, gehen auch die in ihm eingeschlossenen Informationen verloren. Das bedeutet einen Verlust im Speichergedächtnis der Erde und den Möglichkeiten seiner semiotischen Aktualisierung. An dem Grönlandbeispiel zeigt sich somit die Paradoxie, dass die in den Eiskernen gespeicherte Zukunft der Vergangenheit selbst zunehmend im Schwinden begriffen ist. Die Erzählungen von dem Verlust der Gletscher sind vielleicht für lange Zeit das einzige, was von ihnen übrigbleiben wird. Das heißt, das Gedächtnis des Eises in kulturellen Produktionen könnte irgendwann an die Stelle des Gedächtnisses der Gletscher selbst treten.

Strukturelle Merkmale eines naturkulturellen Gedächtnisses in der Literatur des bewussten Anthropozän

Esther Kinskys Gedichtband Schiefern und Macfarlanes Underland weisen viele strukturelle Ähnlichkeiten auf, die beide Texte als literarische Formen eines naturkulturellen Gedächtnisses im bewussten Anthropozän qualifizieren. Aufbauend auf den Beobachtungen des vorherigen Teils und mit einem Fokus auf den Gedichten Kinskys werden wir davon im Folgenden vier Aspekte vergleichend näher betrachten: 1. die Darstellung von Orten, die durch menschliche Handlungen tiefgreifend verändert wurden und werden; 2. die Hervorhebung und sprachliche Ausgestaltung der semiotischen Qualitäten materieller Strukturen, durch welche diese von der Vergangenheit der Erde ›berichten‹; 3. die Betonung der Eingewobenheit menschlicher Existenz in die Tiefenzeit; 4. die Reflexion auf das Zusammenspiel des menschlichen Gedächtnisses und kultureller Praktiken des Erinnerns mit den Archiven der Natur.

Zu 1. Beide Texte beschäftigen sich mit Orten, die intensiv von menschlichen Tätigkeiten geprägt sind und deren Spuren tragen. Während Macfarlane das in vielen Varianten inszeniert (Atomendlager, vom Klimawandel veränderte Gletscherlandschaften, von Krieg und Bergbau geprägten Höhlen), konzentriert Kinsky sich auf die vom Schiefer-Abbau geprägten Slate Islands.11 So konstatiert die poetische Instanz: »der bleibenden versehrtheit verdankt der schiefer seine bezeichnung: ein splitterstein, ein schiefes schichtwerk aus einem alle namen verschlagenden eingriff in den stand der dinge« (S 18). Sie spricht von einer augenfälligen »Geländeverstörung« und beschreibt eine durch den Bergbau entstandene Meerenge als »ausgebeutetes landunter«, das in »lesbaren kreisen« (S 36) abgetragen wurde. Aber nicht nur die Menschen schreiben sich dem Gelände ein, auch das Gelände hinterlässt seine Spuren an den Körpern, in den Erinnerungen und Geschichten der Menschen.

So versammelt der Mittelteil des Triptychon Schiefern »Siebenunddreißig Stimmen« (S 43), die sich die poetische Instanz anhand einer alten Schulfotografie erdenkt (S 45), 36 fiktive Erinnerungen der Schulkinder und eine letzte, kursiv abgesetzte des Fotografen. Dieser Mittelteil ist formal gesehen am strengsten gestaltet. Während der erste und letzte Teil des Bandes Gedichte von sehr unterschiedlicher Länge enthält, hat im Mittelteil jede der Kindererinnerungen vier Verse (nur die des Fotografen hat sechs). Außerdem sind sie zusammen mit horizontal wie Steinadern über die Seite laufenden Textbändern immer exakt gleich auf der Seite angeordnet.

Die Gedichte handeln von einzelnen Erinnerungen, bei denen jeweils ein Stein eine Rolle spielt: die Erinnerung an die Situation des Fotografiertwerdens und dem Wunsch dabei »aus‍[zu]‌sehn wie ein stein« (S 63), an eine tote Katze, die »dieselbe farbe wie die steine« (S 46) hat, daran wie der »schieferstein […] über der schule« (S 48) hängt oder an das glückliche Finden von »glitzersteine‍[n]« (S 49). Steine sind dabei Gegenstände des alltäglichen Umgangs, der Arbeit und des Spiels, sie sind so allgegenwärtig, dass sie sich sogar im Brot finden (S 57), sie bevölkern Ängste, Träume und Zukunftsvorstellungen (S 47, 50 und 51) und dienen als mentale Quelle für Vergleiche (S 46 und 63). Kinskys Text imaginiert hier Identitäten, deren Gedächtnis sich die Schieferinsel als Inhalt und Form eingeschrieben hat. Die Gedichte thematisieren auch, wie diese Identitäten mit dem Ende des Schieferabbaus verschwinden (S 88). Bestimmte Formen des Gedächtnisses an das gestörte Gelände, die sich nicht in Sprache und kulturelle Artikulation fassen lassen, sondern an die gelebte Praxis des Bergbaus gebunden und in den Körpern gespeichert sind, überdauern das Ende des Bergbaus nicht. Nur in den Gedichten wird die Erinnerung an diese Form des Gedächtnisses bewahrt.

Zu 2. Kinskys wie Macfarlanes Texte artikulieren die semiotische Dimension eines naturkulturellen Gedächtnisses. Während dieser Aspekt in Underland nur an einzelnen Stellen inhaltlich zum Tragen kommt, präsentiert sich Schiefern als eine intensive metapoetische Auseinandersetzung mit den Verflechtungen von Schrift, Sprache, Gedächtnis und der Zeichenhaftigkeit von Naturdingen und -prozessen. Dabei schreibt die poetische Instanz den geologischen Formationen der Schieferinsel Schriftcharakter (S 15, 39, 59) und potenzielle Lesbarkeit (S 36, 60, 72) zu. Diese werden visuell in Szene gesetzt, als »rostader«, die sich »bei licht in gewissem winkel / […] als schriftbild« (S 19) gibt oder als »bläulich, bräunlich, rostgeädert, zeichentragend« (S 15). Immer wieder evozieren die Gedichte auch die geologischen Prozesse und Kräfte, durch die der Schiefer entstanden ist (S 25) und auf die er indexikalisch verweist, wie »die veränderungen und verschiebungen tektonischer platten« (S 18). Im Gedichtband nehmen auch die sogenannten Schrifttierchen (Graptolithen) einen prominenten Platz ein. Diese polypenähnlichen Kleinstlebewesen tragen ihren Namen, weil ihre fossil überlieferten Wohnkammern oft an Schriftzeichen erinnern. In Schiefern sind sie titelgebend für den dritten Teil und mit einem eigenen Gedicht vertreten, in dem ihnen die Fähigkeit zugeschrieben wird, »sich lesen zu lassen als wunder« (S 82). Zwar adressieren Schrifttierchen uns nicht intentional, als Resultat menschlicher Interpretationsakte werden sie aber trotzdem Lesbares hinterlassen haben. Ein Zusammenhang zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Inskriptionen wird in der Rede von auf Schiefertafeln schreibenden Schüler:innen als »der graptolithen ungelenke erben« (S 98) hergestellt.

Neben metaphorischen Beschreibungen der Slate Islands aus dem Wortfeld der Schrift, der Lesbarkeit, des Gedächtnisses wird in den Gedichten für physische Prozesse auch geologisches Sprachmaterial verwendet. Insgesamt stehen die Gedichte so in einem kontinuierlichen Verhältnis zu materiellen Inskriptionsprozessen.12 Sie repräsentieren ein umfassendes Feld naturkultureller Gedächtnis­vorgänge, in dem Plattentektonik, die Bildung von Metamorphiten, die Aktivität von Kleinstlebewesen, die industriellen Tätigkeiten von Gesellschaften ebenso wie die Erinnerungen (im engeren Sinn) von menschlichen Körpern, Gehirnen, Sprachzeugnissen und Medien zusammenspielen. Indem sich die unterschiedlichen Ebenen physischer und sprachlicher Inskriptionen in den Gedichten übereinander lagern, wird nicht nur die Kontinuität planetarer Semiose- und Erinnerungsprozesse, sondern auch die Funktionsweise eines Gedächtnisses der Erde repräsentiert. Das gestörte Gelände erhält hier im posthumanistischen Sinn eine memorative agency, d.h., bestimmte Formen der menschlichen Erinnerung werden erst von den Gesteinsschichten ermöglicht. Diese machen Schichten der Vergangenheit zugänglich, insbesondere die erdgeschichtliche Tiefe der Zeit, an die Menschen sich ohne die Inskriptionen in den Archiven der Natur nicht erinnern könnten.

Zugleich ist ein zentraler Aspekt im ersten und dritten Teil von Schiefern die zunehmende Unleserlichkeit des Gesteins durch die Versehrung infolge des »gewinnungseingriffs« (S 36). Während in den Schiefer »ein felsengeheimnis eingeschrieben« ist, lässt »abbau und gewinnung« (S 81) nur Scherben und Bruchstücke zurück, so dass die »schrift […] auch nach ölen der fläche nicht lesbar wird« (S 85). Die Wortwahl zur Veranschaulichung der weit zurückliegenden Vergangenheit des Gesteins als »Traum«, »Erinnerungsschlaf einer Vorgeschichte« (S 34), als »Fabelwesen« (S 81) schreibt der hier adressierten erdgeschichtlichen Epoche des Präkambriums eine mythische Qualität zu. In der gestörten Landschaft der »Postindustrial Site« (S 97) erscheint Schiefer nur noch als »bruchwerk«, als »narben« (S 97), ist »Baustoff« (S 95), dessen Geheimnisse in seiner Funktion als Ressource verborgen werden. Die letzten beiden Gedichttitel »Scheitern« (S 98) und »Abkehrung« (S 99), wo nur »steinbruch»«, »trümmer«, »abriss« (S 99) übrigbleiben, schließen mit einem trauernden melancholischen Ton. Deutlich wird am Ende, dass der Neologismus »Schiefern« die Rekonstruktionsarbeit eines schwer zugänglichen, im Stein eingeschlossenen Gedächtnisses in einer zerrütteten Landschaft bezeichnet.

Zu 3. Macfarlane und Kinsky thematisieren beide explizit das Verhältnis von Tiefenzeit zur menschli­chen Existenz. So stellt das Prosagedicht »Deep Time« (S 20) die Frage, wo »die spur der fingerkuppe verzeichnet« bleibt, die sie auf eine Furche zwischen Granit und Kiefer legt und wo die Spur des Atems, der »dem bloßen auge nicht sichtbaren abgründlein« (ebd.) dringt. Man könnte diese Verniedlichung auch als eine Variation des ›abyss of deep time‹ lesen, als eine Unterwanderung der damit oft inszenierten Erhabenheit der Erdgeschichte und, im Gegenzug, als Darstellung einer ›lebensnäheren‹ Tiefenzeit. An anderer Stelle spricht die poetische Instanz davon, wie sie und eine andere Person sich den »fels zum bett gemacht« haben, sich »von gletscherstriemen zu/ gletscherstriemen« strecken, »knöchern und fleischweich/ wie es unsere Art ist« (S 28). Damit lenkt Kinsky den Blick auf die Berührung des lebendigen menschlichen Körpers mit der in den Sedimenten verräumlichten Zeit. Aus geologischer Perspektive wird diese Berührung nicht stattgefunden haben. Aber durch deren Darstellung erinnert Kinskys Text daran, dass die Tiefenzeit nicht nur eine abstrakte wissenschaftliche Zeitlichkeit ist, die großskalige Prozesse beschreibt, sondern, dass sie Menschen als räumliche Struktur umgibt und von ihnen ›bewohnt‹ wird. Die Zärtlichkeit dieser folgen- und spurenlos bleibenden Berüh­rungen steht in starkem Kontrast zu der in Schiefern immer wieder thematisierten Versehrung der Slate Islands durch industrielle Aktivitäten wie den Bergbau und gewinnt dadurch fast ein utopisches Moment. Außerdem kann die Berührung als ein Verfahren gesehen werden, die zeitliche Kluft zu überbrücken und tiefenzeitliche Spuren in menschliches Maß zu übersetzen.

Bei Macfarlane ist die Tiefenzeit das Ziel seiner Reisen und stellt für ihn räumliche Gegenwart dar. Die Reiseschilderungen setzen damit die Omnipräsenz der Erdgeschichte unter unseren Füßen in Szene, und die Reisen vollziehen ein körperliches, intellektuelles und ästhetisches Hinabsteigen in die Tiefenzeit. Der Erzähler adressiert die existentielle Dimension der Tiefenzeit auch auf philosophischer Ebene, indem er sich explizit gegen eine Perspektive richtet, die aufgrund der tiefenzeitlichen Skala die Bedeutung menschlichen Handelns moralisch relativiert.13 Stattdessen appelliert der Erzähler daran, dass Menschen sich mithilfe eines tiefenzeitlichen Blicks als Teil einer über Millionen von Jahren miteinander verbundenen Gemeinschaft des Lebens begreifen (vgl. U 26).14 Diese Haltung impliziert eine Aufgabe für das naturkulturelle Gedächtnis: Es soll vermittels einer affektiv bedeutsamen und gegenwartsrelevanten Aktualisierung von Erdgeschichte menschliche Identitäten hervorbringen, die sich mehr-als-menschlichen Gemeinschaften sozial zugehörig fühlen und für diese und deren mögliche Zukünfte Verantwortung übernehmen.

Zu 4. Beide Texte fokussieren, wie wir oben gezeigt haben, explizit auf Prozesse des Erinnerns und Gedenkens. Dabei kommt insbesondere das Zusammenspiel von kulturellen und psychologischen Formen des Erinnerns mit Archiven der Natur in den Blick, das erdgeschichtliche Erinnern wird systematisiert (Macfarlane) und sprachlich reflektiert (Kinsky). Beiden Texten ist gemein­sam, dass sie die naturkulturelle Vergangenheit nicht einfach archivieren oder auf sie zurückgrei­fen. Vielmehr hat in ihnen das ›Erinnern‹ eine »strukturierende Funktion« und wird zu einer »eigenen Aufgabe« (Assm­ann 2004, 46). Sowohl Underland als auch Schiefern übernehmen so eine Art meta-memorative Funktion. Sie bringen literarisch die Komplexität naturkultureller Gedächtnisprozesse zur Darstellung, tragen zur Entwicklung eines posthumanistischen Verständnisses von Erinnern im Anthropozän bei und sind selbst erdgeschichtliche Erinnerungsdokumente.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einbeziehung von Archiven der Natur in die Memory Studies die Formulierung einer Theorie des naturkulturellen Gedächtnisses ermöglicht, in deren Rahmen differenziert beschrieben werden kann, durch welche konstruktiven Akte die Erdgeschichte kulturelle Bedeutung erhält. Eine in dieser Weise posthumanistisch erweiterte Gedächtnistheorie antwortet auf die zunehmende kulturelle Bedeutung der Verflechtung von Natur- und Kulturgeschichte im Anthropozän. Wie wir anhand von Esther Kinskys Gedichtband Schiefern und Robert Macfarlanes Reisebericht Underland gezeigt haben, finden in der Literatur des selbstbewussten Anthropozän explizite Reflexionsprozesse auf die Archive der Natur und das Erinnern im Rahmen der Tiefenzeit statt. Dabei werden die Archive der Natur wie Schiefergestein, Einschlüsse im Eis oder Fossilienfunde als Speichermedien erdhistorischer Vergangenheit dargestellt und in dieser Eigenschaft auf die Grundlagen des kulturellen Gedächtnisses bezogen: Gehirn, Sprache, Schrift, Grabanlagen, Reliquien, Museen. In den darauf aufbauenden tiefenzeitlichen Erinnerungen werden nicht nur die Bereiche Natur und Kultur miteinander verwoben, es entsteht auch eine Kontinuität und partielle Gleichzeitigkeit der heterogenen zeitlichen Skalen von Gegenwart, Geschichte der industriellen Moderne, Menschheitsgeschichte und Geschichte des Lebens auf dem Planeten. Sowohl bei Kinsky als auch bei Macfarlane erscheinen die Archive der Natur durch menschliche Eingriffe (Gletscherschmelze durch Klimaerwärmung; Versehrung von Sedimenten durch Bergbau) bedroht. Literatur übernimmt in dieser Situation Funktionen des Andenkens, Gedenkens an und der imaginären Bewahrung von Erdgeschichte.15

Dank

Wir danken Christoph Schaub für konstruktive Kommentare zu früheren Versionen des Aufsatzes.

Literaturverzeichnis

Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck.
Assmann, Aleida (2001): Speichern oder Erinnern. Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon. In: Csáky, Moritz/Stachel, Peter (Hgg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive 2. Wien: Passagen, S. 1529.
Assmann, Aleida (2004): Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses. In: Erll, Astrid/Nün­ning, Ansgar (Hgg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kultur­spezifität. Berlin/New York: De Gruyter, S. 45–60.
Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: ders./Hölscher, Tonio (Hgg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9–19.
Baker, Victor (1999): Geosemiosis. In: Geological Society of America Bulletin 111/5, S. 633–645.
Bjornerud, Marcia (2020): Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. Aus dem Eng. v. Dirk Höfer. Berlin: Matthes & Seitz.
Boes, Tobias/Marshall, Kate (2014): Writing the Anthropocene. An Introduction. In: Minnesota Review 83, S. 60–72.
Bonneuil, Christophe/Fressoz, Jean-Baptiste (2016): The Shock of the Anthropocene. Earth, History, and Us. London: Verso.
Braungart, Georg (2009): Poetik der Natur. Literatur und Geologie. In: Anz, Thomas (Hg.): Natur – Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur. Paderborn: mentis, S. 55–78.
Cary, Mark/Jackson, M./Anotnello, Alessandro/Rushing, Jaclyn (2016): Glaciers, Gender, and Science: A Feminist Glaciology Framework for Global Environmental Change Research. In: Progress in Human Geography 40/6, S. 770–793.
Chakrabarty, Dipesh (2009): The Climate of History. Four Theses. In: Critical Inquiry 35/2, S. 197–222.
Colebrook, Claire (2018): The Intensity of the Archive. In Memory Studies 11/4, S. 506–509.
Craps, Stef (2018). Introduction. In: Special Issue »Memory Studies and the Anthropocene: A Roundtable»«, Memory Studies 11.4: S. 498–500.
Crownshaw, Rick (2014): Memory and the Anthropocene. In: Témoigner. Entre histoire et mémoire 119, S. 172–183.
Crownshaw, Rick (2018): Speculative Remembrance in the Anthropocene. In: Memory Studies 11/4, S. 500–502.
Crutzen, Paul/Stoermer, Eugene (2000): The Anthropocene. In: IGBP 41, S. 17–18.
Derrida, Jaques (1997): Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin: Brinkmann.
Dürbeck, Gabriele (2018): Narrative des Anthropozän – Systematisierung eines interdisziplinären Diskur­ses. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2/1, S. 1–20.
Ebeling, Knut (2014): Archiv. In: Kammler, Clemens/Parr, Wolfgang/Schneider, Ulrich Johannes (Hgg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 221–222.
Erll, Astrid (2011): Travelling memory. In: Crownshaw, Rick (Hg.): Transcultural Memory. New York: Routledge 2013, S. 4–8.
Erll, Astrid (2017): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 3. erw. Aufl. Stuttgart: Metzler.
Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hgg.) (2008): Cultural Memory Studies. An International and Interdiscipli­nary Handbook. Berlin/New York: Walter de Gruyter.
Farrier, David (2019): Anthropocene Poetics. Deep Time, Sacrifice Zones, and Extinction. Lon­don/ Minneapolis: University of Minnesota Press.
Fisch, Stefan (1989): Forschungsreisen im 19. Jahrhundert. In: Brenner, Peter J. (Hgg.): Der Reisebericht. Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M. 1989, S. 383–405.
Foucault, Michel (1973 [1969]): Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Heise, Ursula K. (2016): Imagining Extinction. The Cultural Meaning of Endangered Species. Chicago/ London: University of Chicago Press.
Heringman, Noah (2016): Buffons Époque de la Nature und die Tiefenzeit im Anthropozän. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1, S. 73–85.
Horn, Eva/Schnyder, Peter (2016): Romantische Klimatologie. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1, S. 9–18.
Horn, Eva (2018): Ästhetik. dies./Bergthaller, Hannes: Das Anthropozän. Einführung. Hamburg: Junius, S. 117–138.
Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) (2021): Climate Change 2021. The Physical Science Basis. Summary for Policy Makers. Schweiz: IPCC, https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1/. 10.06.2022.
Karafyllis, Nicole C. (2018): Samenbank und Weltkollektion: Über die dritte Natur der argarischen Biofakte. In: Dritte Natur 1/1, S. 23–37.
Kelly, Jason M. (2018): Anthropocenes: A Fractured Picture. In: Kelly, Jason M./Scarpino, Philip/Berry, Helen et al. (Hgg.): Rivers of the Anthropocene. Oakland, CA: University of California Press, S. 1–18.
Keller, Lynn (2018): Recomposing Ecopoetic North American Poetry of the Self-Conscious Anthropocene. Charlottesville: University of Virginia Press.
Kinsky, Esther (2013): Naturschutzgebiet. Gedichte und Fotografien. Berlin: Matthes & Seitz Berlin.
Kinsky, Esther (2020): Schiefern. Gedichte. Berlin: Suhrkamp.
Knott, Marie Louise (2020): »Ach, wir kennen uns wenig«. Esther Kinsky: »Schiefern«. In: Deutschlandfunk 28.06.2020. https://www.deutschlandfunk.de/esther-kinsky-schiefern-ach-wir-kennen-uns-wenig-100.html. 15.07.2022.
Lee, James (2021): Opening the Anthropocene Archives. https://www.publicbooks.org/opening-the-anthro­pocene-archives. 10.01.2022.
Lepenies, Wolf (1976): Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt: WBG.
Lewis, Simon/Maslin, Mark (2018): The Human Planet. How We Created the Anthropocene. New Haven: Yale University Press.
Lilley, Deborah (2017): »New British Nature Writing«. In: Garrard, Greg (Hg.): Ecocriticism. Oxford Handbooks Online. Oxford/New York: Oxford University Press.
Macfarlane, Robert (2013): »New Words on the Wild. Robert Macfarlane reflects on the recent resurgence in nature writing«. Nature 468, S. 166–167.
Macfarlane, Robert: »Why we need nature writing«. New Statesmen 02.09.2015, https://www.newstatesman.com/culture/nature/2015/09/robert-macfarlane-why-we-need-nature-writing. 15.07.2022.
Macfarlane, Robert (2019): Im Unterland. Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde. Aus dem Engl. v. Andreas Jandl und Frank Sievers. München: Penguin [Orig.: Underland. A Deep Time Journey. London 2019].
McPhee, John (1981): Basin and Range. New York: Farrar, Straus, and Giroux.
Mercer, Harriet (2018): Archives of the Anthropocene. In: History Workshop. https://www.historyworkshop.org.uk/archives-of-the-anthropocene/. 15.07.2022.
o. A.: National Research Council (NRC) (2011): Understanding Earth’s Deep Past. Lessons for Our Climate Future. Washington: The National Academics Press.
Peters, John Durham (2015): The Marvelous Clouds. Toward a Philosophy of Elemental Media. Chicago/London: University of Chicago Press.
Probst, Simon (2020): Geologische Poetik. In: Grundbegriffe des Anthropozän. https://voado.uni-vechta.de/bitstream/handle/21.11106/297/Probst_Simon_GeologischePoetik_2020_korr.pdf?sequence=2&isAllowed=y. 15.07.2022.
Probst, Simon (2022): Wie die Geschichte‍(n) der Erde bewohnen? (Literarische) Kompositionen planetarer Zeit zwischen Moderne und Anthropozän. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 7/1, S. 53–69.
Probst, Simon/Dürbeck, Gabriele/Schaub, Christoph (2022): Was heißt es von ‚anthropozäner Literatur‘ zu sprechen? Einleitung. In: dies (Hgg.): Anthropo­zäne Literatur. Poetiken – Genres – Lektüren. Berlin: Metzler, S. 1–24.
Schröder, Simone (2018): »Deskription, Introspektion, Reflexion. Der Naturessay als ökologisches Genres in der deutschsprachigen Literatur seit 1800«. In: Zemanek, Evi (Hg.): Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Göttingen: V&R, S. 337–353.
Sperk, Carolin (2015): Memory. The Archive of the Anthropocene. In: Soil Atlas. Facts and Figures about Earth, Land and Fields. Berlin und Potsdam: Heinrich-Böll-Stiftung und IASS, S. 16–17.
Steffen, Will/Folke, Carl/Richardson, Katherine/Liverman, Diana et al. (2018.) Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. In: Proceedings of the National Academy of Science 115/33, S. 8252–8259.
Szerszynski, Bronislaw (2012): The End of the End of Nature: The Anthropocene and the Fate of Human. In: Oxford Literary Review 34/2, S. 165–184.
Teutsch, Katharina (2018): Nature Writing. Über Natur schreiben heißt über den Menschen schreiben. Deutschlandfunk 28.01.2018, https://www.deutschlandfunk.de/nature-writing-ueber-natur-schreiben-heisst-ueber-den-100.html. 15.07.2022.
Toepfer, Georg (2013): Archive der Natur. In: Trajekte 27, S. 3–7.
Völker, Oliver (2021): Langsame Katastrophen. Eine Poetik der Erdgeschichte. Göttingen: Wallstein.
Watkin, Christopher (2015): Michel Serres’ Great Story: From Biosemiotics to Econarratology. In: SubStance 44/3, S. 171–187.
Wenzel, Jennifer (2018): Past’s futures, future’s past. In: Memory Studies 11/4, S. 502–504.
Zalasiewicz, Jan (2009): The Earth after Us: What Legacy Will Humans Leave in the Rocks? Oxford: Oxford University Press.

Fußnoten

1 Der primäre Bezugspunkt für diesen Aufsatz ist das selbstbewusste Anthropozän, d.h. die Gegenwart, in der menschliche Kollektive um ihre erdsystemischen Wirkmacht wissen und diesem Wissen eine zentrale Bedeutung für ihr Denken und Handeln zugestehen. In Bezug auf die vielen von dieser Gegenwart ausgehenden Rekonstruktionen der Ursprünge und Entstehungsgeschichten des Anthropozän sehen wir keine Notwendigkeit für eine narrative Vereinheitlichung (worum zum Beispiel die Anthropocene Working Group zum Zwecke der geochronologischen Formalisierung bemüht ist). Die unterschiedlichen Ansätze – ob Early Anthropocene, Columbian Exchange, Great Acceleration o.A. – haben alle gemeinsam, dass sie die Gegenwart über die rekursive Rekonstruktion von Vergangenheit anhand signifikanter Berührungspunkte von Menschheits- und Erdgeschichte neu bestimmen und dabei jeweils andere Facetten reflektieren. Aus Perspektive der naturkulturellen Gedächtnisforschung ist gerade die Vielfalt dieser unterschiedlichen erdgeschichtlichen Narrative, ihre Reibung und die damit verbundenen naturkulturellen Aushandlungsprozesse von Interesse. Eine festlegende Vereinheitlichung ist aus dieser Sicht nicht nur zweitrangig, sondern wäre sogar kontraproduktiv. 2 Die Ausgabe von Kinsky Schiefern wird im Folgenden unter der Sigle S in Klammern im Text zitiert. 3 Mittlerweile bilden Computer und die auf ihnen gespeicherten Daten, die über Wetterstationen, Satelliten und viele andere Medientechnologien eines erdsystemischen Echtzeitmonitoring gesammelt werden, einen maßgeblichen Teil des planetaren Gedächtnisses (vgl. Peters 2015, 2f.). Wir konzentrieren uns in diesem Aufsatz aber auf die nicht durch intentionale menschliche Aktivitäten entstandenen Archive, die den in der Gegenwart gemessenen Daten erst ihren tiefenzeitlichen Kontext geben. 4 Ein gutes Beispiel für eine Hybridisierung zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis ist die Arbeit der seit 2009 von der Subcommission on Quarternary Stratigraphy (SQS) eingesetzte Anthropocene Working Group (AWG) zur evidenzbasierten Feststellung eines sog. Golden Spike für den Beginn der neuen Erdepoche; http://quaternary.stratigraphy.org/working-groups/anthropocene/. 5 Die Konstruktion (durchaus heterogener) kultureller Narrative und Bedeutungen auf Grundlage der Archive der Natur reicht dabei vor das Anthropozän selbst zurück bis in die Anfänge der modernen Geologie im 18. und 19 Jahrhundert. So haben z.B. Horn und Schnyder (2016, 15) die frühe Entstehung eines »posthumanen Klimawandelnarrativs« festgestellt, Braungart (2009, 56) eine mit der ›Entdeckung der Tiefenzeit‹ einhergehende »zeitlicheMarginalisierung« als kulturelle Folge beschrieben und Kelly (2018, 9) sogar auf ein bis ins 18./19. Jahrhundert zurückreichendes »anthropocenic consciousness« hingewiesen, das um die aktive Rolle des Menschen in der Erdgeschichte weiß. Auch die heftigen kulturellen Auseinandersetzungen um die Evolutionstheorie beruhen auf der Auslegung von Archiven der Natur. Mit dem Anthropozän nimmt die kulturelle, politische und moralische Bedeutung von Archiven der Natur aber eine neue Form an, weil sich die erdgeschichtlichen Auswirkungen menschlicher Aktivitäten aufgrund verbesserter Datenlage und Technologien genau bestimmen und zur (auch rechtlichen) Grundlage politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Aushandlungsprozesse machen lassen. 6 Die deutsche Ausgabe von Macfarlane (2021) wird im Folgenden unter der Sigle U mit Seitenzahl im Text zitiert. 7 Trotz dieser bewussten Distanzierung lässt sich aus einer postkolonialen und feministischen Perspektive beobachten, dass Underland insgesamt ein männlich konnotiertes Wissensverständnis inszeniert (abenteuerliche Entdeckungen, Durchhaltevermögen, Heroismus, Selbstgenügsamkeit) und sich so in Traditionen eines deutlich gegenderten und mit imperialen Praktiken verbundenen Wissens von der Erde stellt (z.B. Cary et al. 2016, 772); auch ist der Text mit einigen Ausnahmen auf europäische Gedächtnisorte zentriert. Die Frage, inwiefern sich Underland bestimmten problematischen Traditionslinien einschreibt und inwiefern es diese auch unterwandert und transformiert, bedürfte einer eigenen Analyse. 8 Noah Heringmann (2016, 77) hat festgestellt, dass die Vorgeschichte der Menschheit als eine temporale »›mittlere Tiefe‹« in der zeitgenössischen Literatur von besonderem Interesse ist. Bei ihr handelt es sich zwar nicht um Tiefenzeit im strengen Sinn, sie kann aber als Bindeglied verstanden werden, das es erlaubt, menschliche Geschichte in die Erdgeschichte einzubetten. 9 Für eine literarische Imagination eines säkularen Ordens, nicht aber einer ›atomaren Priesterschaft‹ zur Weitergabe des Endlagerwissens von Generation zu Generation vgl. den Roman Tiefenlager (2021) von Annette Hug. 10 Die Wiederbelebung der natürlichen Vielfalt durch Samenkollektionen und »alte Kultursorten« betrachtet die Technik- und Wissenschaftsphilosophin Nicole C. Karafyllis im positiven Sinn als »gelebte Erinnerungskultur« (2018, 29). 11 Kinsky hat selbst wiederholt darauf hingewiesen, dass sie sich nicht primär für die »sogenannte Natur« interessiert, sondern für das »Überlappungsgebiet« von Menschen und anderen Kräften und die dadurch entstehenden Schichten. Schon in ihrem Gedichtband Naturschutzgebiet (2013) spielte der Begriff vom »gestörte‍[n] Gelände« (18) eine zentrale Rolle, der sich vom englischen ›disturbed lands‹ ableitet und auf menschliche Überprägung und mehr-als-menschliche Wiederaneignung verweist, vgl. z.B. Kinsky im Interview, in: Teutsch (2018). 12 Christopher Watkin (2015, 177) hat in Auseinandersetzung mit Michel Serres und Timothy Morton für eine solche Kontinuität argumentiert, dass menschliche Repräsentationen Umwelten nicht nur nachahmen (»ecomimesis«), sondern auch an deren mehr-als-sprachlichen Informations- und Semioseprozessen partizipieren (»ecomethexis«). Kinskys Gedichte stellen das Zusammenspiel beider Prozesse aus. 13 Georg Braungart (2009, 69) konstatiert die Relativierung menschlicher Bedeutsamkeit als zentrales Charakteristikum der literarischen Auseinandersetzung mit der Tiefenzeit und bezieht sich dabei unter anderem auf Friedrich Nietzsche und dessen Kritik der Moral. Aber aus anthropozäner Perspektive zeigt sich retrospektiv auch die Kulturgeschichte der Geologie als eine, in der die Verflechtung von menschlicher und planetarer Geschichte schon seit dem 18. und 19. Jahrhundert reflektiert wurde (vgl. Kelly 2018, 9). Auch für die Literaturgeschichte steht so möglicherweise eine differenzierende Revision an (vgl. Probst 2022, 63). 14 Die Geologin und Wissenschaftsbloggerin Marcia Bjornerud (2020, 28) glaubt in einer ähnlichen Weise, dass das »bewusstseinsverändernden Gespür für die Zeit und die Entwicklung der Erde«, von dem geologisches Denken durchzogen ist, einen Beitrag zur Entwicklung von nachhaltigeren kulturellen, politischen und ökonomischen Institutionen leisten könnte – wenn man ihm nur eine entsprechende kulturelle Bedeutung zukommen lassen würde. 15 Die weitere Entwicklung der im Aufsatz umrissenen Theorie ist Gegenstand des DFG-Projekts »Das naturkulturelle Gedächtnis im Anthropozän. Archive, Medien und Literaturen der Erdgeschichte« (01/2024–12/2026).