Moritz Ingwersen und Sina Steglich: Moderne Zeitlichkeiten und das Anthropozän
Abstract:
Framed by the difficulty of coming to terms with the disruptive temporalities of the climate crisis, the proposition of the Anthropocene invites a critical re-contextualization of modern concepts of time and subjectivity. The declaration of the human as an agent of geological stratification both re-inscribes and challenges the temporal self-image of western modernity as an anthropocentric narrative of progress and ontological supremacy. Establishing a dialogue between historiography and the environmental humanities, this article embeds the Anthropocene hypothesis in recent scholarship on the pluralization of modern temporalities and suggests opportunities to revisit and decenter the specific hegemonic preconceptions and implications of considering modernity and the Anthropocene as temporal regimes with universalist, yet contingent claims on divergent conceptions of being-in-time. Contextualized with references to the emergence of historicism in the late 19th century and decolonial critiques that help frame the articulation of western modernity as a practice of temporalized hegemony, this article provides a stepping-stone and introduction to what it might mean to revisit and pluralize modern times against the backdrop of the Anthropocene.
Keywords: Moderne, Zeitlichkeiten, dekoloniale Kritik, historische Kulturwissenschaften, Klimakrise
Die Klima- und Umweltkrise ist auch eine Krise der zeitlichen Ordnung. Die temporalen Skalen des Artensterbens, der Atmosphärenphysik und globalen Erderwärmung, der Extremwetterverhältnisse, des Rohstoffabbaus, der Eisschmelze und der irreversiblen Transformation von Lebensumwelten durch Toxine lassen sich schwer in Wahrnehmungsmuster und Erzählweisen integrieren, die das anthropozentrische Zeitverständnis der westlichen Moderne als singulären Referenzrahmen voraussetzen können. Moderne Zeitlichkeiten im Spiegel des Anthropozän sind kein einfacher Gesprächsgegenstand, eher ein schillerndes Kompositum, das ganz unterschiedliche Charakterzüge zeigen oder auch verbergen kann. Hier kann und soll es daher nicht um die Zeit oder Zeitlichkeit „an und für sich“ gehen, nicht um Zeit in ihrer Totalität und als abstrakte Größe, sondern um spezifische Zeitlichkeitsentwürfe, die das Grundverständnis der Moderne geprägt haben. Vor diesem Hintergrund gehen wir von den zwei heuristischen Grundannahmen aus, dass Zeitlichkeiten der Moderne (1) im Plural zu verstehen und (2) stets als Faktur zu erachten sind. Die Moderne als eine originär europäische, normativ angelegte Selbstbeschreibungskategorie mit universalistischem Anspruch hat das Denken von Zeit und die Figurierung hegemonialer Zeitlichkeitsentwürfe grundlegend motiviert.1 Mit der aktuell breit debattierten Hypothese des Anthropozän wurde die europäische Fortschrittserzählung seit 1800 zudem mit einem neuen Epochenkonzept konturiert, das ambivalent „the apotheosis, or […] the erasure, of the human as the master and end of nature“ zu implizieren scheint und in seiner Artikulation als Geologisierung eines problematisch universalisierten Anthropos die Handlungsmuster der industriellen Moderne als planetarische Spur antizipiert.2 Im Anthropozänbegriff sind sowohl eine Zukunft als auch eine Vergangenheit „without us“ eingeschrieben3 – ein Spektrum, das bereits die europäischen Zeitlichkeitsdiskurse des 19. Jahrhunderts zwischen evolutionistisch-geologischer Tiefenzeit und entropisch-eschatologischen Endzeitvisionen geprägt hat.4 Als Periodisierungskonzept, das in seiner Ambivalenz sowohl soziotechnisches Handeln in naturgeschichtliche Prozesse einbettet und gleichzeitig den Menschen als Namensgeber der geophysischen Weltordnung einschreibt, wird das Anthropozän zur paradigmatischen Signatur dessen, was Bruno Latour als das fundamentale Paradox der Moderne diagnostiziert hat: eine gleichzeitige und getrennt gehaltene Praxis der Übersetzung oder Vermischung und der Reinigung oder „großen Trennung“ zwischen „Natur“ und „Kultur“.5 Den thematischen Horizont dieses Heftes bildet die These, dass nicht nur der Anthropozändiskurs selbst und zentrale der in ihm vorgetragenen Argumente im Kontext mit anderen Modellierungen von Zeitlichkeit geschärft, herausgefordert, neu justiert oder transformiert werden können, sondern dass umgekehrt auch diese Zeitlichkeiten unter Rekurs auf die Positionen, die unter dem Dach des Anthropozän verdichtet zusammenfinden, auf ihre jeweilige historische wie kulturelle Bedingtheit befragt und ihre soziopolitischen Funktionen herausgearbeitet werden können.
Die Forschung zum Thema Zeit in ihrer historischen Dimension ist in den vergangenen Jahren sichtlich intensiviert und von zahlreichen Disziplinen aufgegriffen worden,6 was für das weitaus jüngere Konzept des Anthropozän analog gilt. Die Arbeiten Dipesh Chakrabartys mögen als paradigmatisch dafür gelten, wie (nicht nur) etablierte geschichtswissenschaftliche Zeitlichkeitskonzepte durch das Anthropozän herausgefordert werden, nicht zuletzt in der Überbrückung der genuin modernen Spaltung zwischen Erdgeschichte und Menschheitsgeschichte.7 Rezente kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem An thropozän sind oftmals von einer tiefgehenden Kritik an universalistischen Vorstellungen des modernen Subjekts getragen, deren Ausschlussmechanismen durch die Homogenisierung des Menschen als Spezies Anthropos verschleiert werden.8 Sowohl die spezifischen Zeitlichkeiten des Anthropozän als auch die der Moderne werden vor diesem Hintergrund neu perspektiviert und insbesondere auf ihre Eigenlogiken hin befragt.9 Dabei ist es jedoch auffällig, dass beide Epochenkonzepte selten konkret aufeinander bezogen werden, genauer: dass zwar durchaus Zeitlichkeit(en) des Anthropozän erörtert, diese aber oft pointiert als genuin „andere“, naturwissenschaftlich inspirierte Zeitlichkeitsentwürfe präsentiert und entsprechend selten als weitere Nuancen diachroner (und als solcher zu historisierender) Konzepte in den Diskurs einer kulturwissenschaftlich offenen Zeiten-Geschichte eingebettet werden.10 Das ist zumindest in zweierlei Hinsicht erklärungsbedürftig: erstens, da das Anthropozän die Spaltung zwischen nicht- und menschlichen Zeitlichkeiten dezidiert zu transzendieren sucht und damit ein „modernes“ geschichtliches Zeitverständnis, das vom Menschen getragen und um ihn zentriert ist, wenn nicht bedroht, so doch herausfordert. Und zweitens, da allein die Begriffsbildung An thropozän ja bereits darauf verweist, dass es sich hierbei nicht nur um ein prospektives und aktivierendes Denkmodell handelt, sondern um ein Epochenkonzept, das unsere hegemoniale Epochengliederung aufzusprengen und neu zu setzen sucht.11 Jenseits der Frage, welches Kultur-, Natur-, (Um-) Welt- oder Menschheitsverständnis dem Konzept des Anthropozän zugrunde liegt, welche politischen wie gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen es zu beleuchten vermag, scheint es zunächst einmal unstrittig, dass die Sprache vom Anthropozän immer auch temporale Wahrnehmungs- und Ordnungsmuster evoziert, die es zu explizieren und zu diskutieren gilt. Insbesondere gekoppelt mit den affektiven Dimensionen der Klima- und Umweltkrise, steht das Anthropozän einerseits für disruptive Temporalitäten sowohl des Schocks als auch der Latenz, der unvermittelten Katastrophe erratischer Wetterphänomene und der verzögerten Kausalketten von Giftabfällen und CO2-Ausstoß.12 Andererseits kommuniziert das Anthropozän, einer der Grunderfahrungen der Moderne vergleichbar, auch eine Zeitstauchung, die sich in Ästhetiken prospektiver Erschöpfung und Dringlichkeit niederschlägt.13
Das Spannungsfeld, in dem sich moderne Zeitlichkeiten und das Anthropozän befinden, lässt sich versuchsweise wie folgt kartieren. Es ließe sich heuristisch zunächst annehmen, dass es ein zentrales Signum moderner Zeitlichkeiten ist, dass Vielzeitigkeit unter Rekurs auf temporale Leitorientierungen zu homogenisieren versucht wurde. Wenngleich neben Naturzyklen immer auch religiös-sakrale, geschichtliche und nicht-westliche Zeitvorstellungen existierten, die zueinander, zuweilen hierarchisierend, in Position gesetzt wurden, lässt sich ein Impuls beobachten, diese temporale Vielfalt – zumindest ideell und diskursiv – einzuebnen.14 Darüber hinaus war es in christlicher Codierung unter dem Dach des Schöpfungsnarrativs möglich, nicht- und menschliche Zeitlichkeiten gemeinsam zu denken, während mit der sich in Europa ab 1800 durchsetzenden geschichtlichen Konfigurierung von Zeitlichkeit eine Engführung auf den Menschen vorgenommen wurde, die sich unter dem Topos der „zwei Kulturen“ bis heute gehalten hat.15 Dies kulminierte um 1900 in der Krise des Historismus, die laut Ernst Troeltsch zwei Folgen zeitigte. Denn der Historismus „bedeutet dann die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. […] Das festigt auf der einen Seite den Sinn für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten überindividuellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zu. Aber es erschüttert auf der anderen Seite alle ewigen Wahrheiten […].“16 Historisierung hieß demnach einerseits Eingebettet-Sein in die Zeit, Aufgehoben-Sein im zeitlichen Werden, aber damit eben auch im Vergehen, was andererseits dem Eindruck grundlegender Relativität von Zeit Raum gab und deren Qualität als orientierungsstiftende Größe nachhaltig erschütterte.17 Und angesichts der Einsicht, dass Zeit stets nur relativ verstanden werden kann, war damit die „Heimkehr“ in eine Vorstellungswelt temporaler Homogenität gewissermaßen unmöglich geworden. Es ließ und lässt sich also durchaus noch etwa Zeit physikalisch berechnen, religiös mit Sinn ausstatten, sozial funktionalisieren oder geologisch bestimmen, aber nur vor dem Hintergrund des Wissens um andere Formen der Zeitmodellierungen. Der Dualismus, dass „die Welt […] zur Natur [wird], wenn wir sie unter dem Aspekt des Allgemeinen betrachten“, und sie „historisch [wird], wenn wir sie unter den Arten des Besonderen und des Individuellen untersuchen“, blieb bestehen, verfestigte sich disziplinär, aber war sich doch stets der jeweils „anderen“ Seite gewahr.18 Und es ist just dieser Dualismus, der vom Konzept des Anthropozän aufgelöst und zu transzendieren gesucht wird. Das Anthropozän ist insofern als eine Art Prisma zu sehen, in dem sich zentrale Annahmen modernen Zeitdenkens und daraus resultierende Herausforderungen bündeln und das sich gerade deshalb idealiter anbietet, diese auf ihre jeweiligen Voraussetzungen und Implikationen zu befragen. Zunächst ist dies offensichtlich die Frage nach dem Anthropos des Anthropozän bzw. dessen Reichweite und mitunter angenommener Universalität. Denn ähnlich wie die Moderne ihrem Selbstverständnis nach universell und doch ein originär europäisches und als solches zu dezentrierendes Projekt ist,19 rekurriert auch der Anthropozändiskurs bereits begrifflich auf eine Einheit namens Mensch(heit) und muss sich entsprechend damit auseinandersetzen, wie die damit insinuierte Homogenität, die weder synchron eine ist noch diachron je eine war, zu nuancieren ist. Denn weder sind alle Menschen gleichermaßen vom Klimawandel betroffen noch sind alle zu gleichen Teilen für dessen Ursachen und Folgen, für Artensterben, globale Erderwärmung und Rohstoffverbrauch verantwortlich. Und doch ist es der Rekurs auf den Anthropos, im Singular, der der Rede vom Anthropozän zuallererst diskursives Gewicht gibt. Die Frage, in wessen Namen die Debatten des Anthropozän geführt werden, für wen sie sprechen und wer jeweils als (Um-)Welt- und Zeitgestalter*in mit „Agency“ ausgestattet wird, ist insofern eine unhintergehbare.20 Wie Donna Haraway in ihrer einschlägigen Anthropozänkritik schreibt: „Die Spezies Mensch macht keine Geschichte. […] ‚Der Mensch und sein Werkzeug‘ machen keine Geschichte. Das ist nur die Geschichte, die der menschliche Exzeptionalismus über Geschichte erzählt.“21 Die Frage nach dem Anthropos des Anthropozän tangiert unmittelbar auch dessen zweiten Wortbestandteil: das von Charles Lyell geprägte Suffix „-zän,“ oder etymologisch „neue“ als Epochenmarker. Denn dass ein Erdzeitalter nach dem Menschen getauft wird, evoziert ja zwangsläufig die Frage, welche Zeitalter vor diesem des Menschen waren und inwiefern diese als nicht- oder vor- bzw. nachmenschlich oder gar posthuman zu verstehen wären. Insofern fordert das Anthropozän dazu auf, Wahrnehmungsmuster und Erzählweisen von Zeit, die in der und durch die Moderne hegemonial wurden und zum vermeintlich singulären Referenzrahmen avanciert sind, zu überdenken und ein qualitativ anderes, eben nicht mehr exklusiv anthropozentrisches oder zumindest differenzierteres Epochenkonzept anzunehmen. Trianguliert durch die drei dominierenden Vorschläge zur Ursprungsdatierung des Anthropozän – dem Beginn des Nuklearzeitalters und der sogenannten großen Beschleunigung um 1950,22 der Erfindung der Dampfmaschine und dem Beginn der ersten industriellen Revolution um 1800 und dem Höhepunkt des Columbian Exchange im Zuge der Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents um 1600 –23 erscheint dessen Namensgeber als hegemonialer Akteur eines genuin modernen Fortschrittsregimes der Ressourcenextrahierung und kolonialen Raumaneignung, das nicht zuletzt durch ideologische Konstruktionen der Differenz zum nicht-menschlichen und prämodernen legitimiert wurde.24
Insofern bündeln sich in der Idee des Anthropozän all jene Transformationen des Zeitdenkens, die für die Moderne als symptomatisch zu erachten sind, und sie ermöglicht es damit auch, diese als solche zu problematisieren. Zeit in der Moderne bedeutet das Paradox, dass sich formierende Disziplinen zwar spezifische Eigenzeiten – entropisch oder relativistisch angelegte in der Physik, tiefenzeitlich inspirierte in der Geologie, kulturhierarchisierende in der Anthropologie oder auch evolutionistisch argumentierende in der Biologie – ausgebildet haben, diese jedoch vom hegemonialen Fortschrittsdiskurs imprägniert waren.25 Und dieser war getragen vom Ideal der Beschleunigung,26 von aktivierendem Zukunftsdenken27 und einer sich im Zuge der Industrialisierung und des Imperialismus verschärfenden „extractive geo-logics“28 der Aneignung und Nutzbarmachung sowohl der Erde und als auch des als anachronistisch aufgefassten und entzeitlichten Subjekts der europäischen Kolonien. Technisch unterstützte Visualisierungen von Zeit, Versuche der Standardisierung von Zeitmessung wie auch allgemeine Synchronisierungsbemühungen standen so immer neben der Faszination für und oftmals auch Exotisierung und Ausbeutung des temporal „Anderen“ sowie alternativen Modi der Zeitfigurierung, die durch eine zunehmende globale Interaktion und Vernetzung die Nicht-Natürlichkeit von Zeit nur umso offensichtlicher machten.29 Während die Paläontologie des 19. Jahrhunderts Fossilien als die paradigmatischen Zeugen vergangener Zeiten präsentierte und fossile Brennstoffe in den Dampfmaschinen der industriellen Revolution den Beginn der anthropogenen Klimaerwärmung einleiteten,30 wurden indigene Bevölkerungen im Brennglas der europäischen Ethnologie und des amerikanischen Siedlungskolonialismus als romantisierte Fossilien einer Prämoderne stilisiert, deren Darstellung nicht zuletzt mit der modernen Erfindung von „Natur“ als ein der Kultur gegenübergestellter und kommodifizierbarer Rohstoff korrelierte.31 Vor diesem Hintergrund zielen aktuelle Kritiken des Anthopozän nicht zuletzt auf eine Dekolonialisierung moderner Zeitlichkeitskonzepte, indem unter Berufung auf „Indigenous temporal sovereignty“ nicht-westliche und oftmals zirkuläre Zeitverständnisse in den Vordergrund gerückt und durch die Pluralisierung von Zukünften und Futurismen ein emanzipatorisches Gegenmodell entworfen wird.32 Als Spielfeld für den Entwurf techno-utopischer, kolonialer und expansionistischer Zukünfte sieht sich die Moderne im Spiegel des Anthropozän und der eskalierenden Klimakatastrophe mit den Grenzen ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit konfrontiert und die Kulturwissenschaft ist aufgefordert „to pull apart the clunky (albeit effective) apparatus of an enlightened modernity, exposing the multiple fictions of this narrative and bringing to light the truths of the modern buried beneath the shiny drama of progress that proclaims that each year is better (richer, bigger, freer) than the one before it.“33 Derart aufgeschlüsselt, scheint das Anthropozän die Widersprüchlichkeiten, die moderne Zeitlichkeiten in sich bergen, nicht nur zu illustrieren, sondern uns pointiert auf sie zu stoßen und zu einer Auseinandersetzung anzuregen.34 Ausgehend von diesen heuristischen Charakterisierungen des Anthropozän erachten wir es daher für lohnenswert, dessen Argumente historisch und kulturell kontextualisiert zu explizieren und auf ihren Mehrwert hin zu befragen. Denn erst auf diese Weise lässt sich auch erörtern, inwiefern das Anthropozän eine Alternative zu unseren inkorporierten Zeitmodellierungen anzubieten und uns zugleich von diesen produktiv zu entfremden vermag.
Die hier unter dem Dach „Moderne Zeitlichkeiten und das Anthropozän“ zusammengeführten Beiträge gehen auf einen von der Gesellschaft für Geschichte der Wissenschaften, der Medizin und der Technik geförderten Workshop zurück, der im Herbst 2020 an der Universität Konstanz stattfand. Dessen Ziel war es, unterschiedliche disziplinäre Zugriffe auf den Themenkomplex miteinander ins Gespräch zu bringen und damit den gegenwärtig ebenso virulenten wie konzeptionell zuweilen unscharfen Diskurs um das Anthropozän explizit im Kontext mit anderen, oft disziplinspezifischen oder wissenschaftlich legitimierten Zeitlichkeiten zu setzen und dadurch temporale Modellierungen hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Motivationen, ihren Funktionen und nicht nur ideellen Auswirkungen zu erörtern. Diese Diskussion beginnen drei Beiträge, die sich jeweils mit unterschiedlichen Epochenschwerpunkten mit der Spezifik der geschichtlichen Zeitlichkeit auseinandersetzen und damit mit eben jener Zeitlichkeit, die den zentralen Gegenpart zu Zeitlichkeiten gemäß der Idee des Anthropozän darstellt. Mit dem Konzept des Mediozän als Referenz auf die Pluralisierung von Medientechniken im langen 19. Jahrhundert analysiert Tilman Richter frühneuzeitliche diplomatische Schriftpraktiken als eine Art Vorgeschichte der mediatisierten Moderne. Am Beispiel von Johann Gottfried von Meierns gigantomanischem Versuch, alle Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges zu erschließen, zu kommentieren und in Form einer Edition zu publizieren, stellt Richter die Bedeutsamkeit der Konfiguration als authentisch erachteter Quellen dar. Sie wurden zur Voraussetzung zukünftiger Auseinandersetzung mit vergangenen Zeiten und präfigurierten entsprechend, was jeweils legitim als geschehen und damit als Fundament der jeweiligen Gegenwart erachtet werden konnte. In diesem Akt der Stratifizierung erkennt Richter eine Analogie zu ökologischen Relationen, durch die historische Quellen zu einer Art medialen Umwelt der Gegenwart wurden. Und diese wurde vor allem diachron bedeutsam, da die als objektiv gedachten Rechtshandlungen in zukünftige Quellen transformiert wurden. Am Beispiel der Rechtspraxis der Kontrasignatur erörtert Richter, wie Dokumente, die später potenziell als historische Quellen gelten konnten, so bereits in ihrem Entstehungskontext in die Zukunft verwiesen, wodurch die von Martin Heidegger 1916 konstatierte „Zeitferne“ zwischen Historiker*innen und ihrem Gegenstand materiell überbrückt werden konnte.35 Mit dieser geschichtlichen Konfiguration von Zeitlichkeit setzt sich auch Sina Steglich in ihrem Beitrag auseinander. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Verweise auf das Anthropozän als einer qualitativ neuen Erdepoche, die es erlaube und erforderlich mache, menschliche und „natürliche“ Zeiten gemeinsam zu denken, erläutert sie eine grundlegende Transformation des europäischen Welt- und Geschichtsdenkens, in deren Folge „natürliche“ Zeiten aus dem Bereich der menschlichen herausgeschrieben wurden. Die Norm von Geschichte als einer an den Menschen gebundenen im Unterschied zu anderen, mit einschränkenden Präfixen versehenen Vor-Geschichten setzte sich, so ihre Argumentation, just in dem Moment durch, als der Erde selbst ein Gewordensein zugeschrieben wurde, das nicht nur größere Skalen erforderlich machte, sondern den Menschen als erlebendes wie erzählendes Subjekt der Geschichte marginalisierte. Geschichtskonzeptionen der Aufklärungshistorie lassen sich entsprechend als Versuche lesen, Geschichte wieder in den Gestaltungsbereich des Menschen zu verlegen, und vermögen für das geschichtliche Gewordensein unseres derzeitigen Zeitverständnisses und dessen Kontingenz zu sensibilisieren. Mariya Savina schließlich weitet den Blick bis in das frühe 20. Jahrhundert und erdet den aktuellen An thropozändiskurs philosophiehistorisch, indem sie ihn ins Gespräch mit Walter Benjamins Überlegungen zur Katastrophe als eines Kerncharakteristikums der Moderne bringt. Sie liest beides als Zeitdiagnosen und erprobt, inwiefern sich aus Benjamins Argumentation seit den 1920er Jahren Schlüsse auf die gegenwärtige Zeitwahrnehmung ziehen lassen. Am Beispiel seiner Ausgestaltung der Topoi des Fortschritts, der Urgeschichte und der Unterbrechung sowie des Endes der Geschichte bietet Savina so einen Reflexionshorizont für den Anthropozändiskurs, der dessen inhärentes Zeitverständnis freilegt und auf seine produktiven Potenziale befragt. Sie trägt damit nicht zuletzt zur Historisierung gegenwärtiger Argumentationen bei und stellt ihnen mit Walter Benjamins kritischer Zeitgenossenschaft einen chronologischen Vor- und ideellen Mitdenker an die Seite.
Die daran anschließenden Beiträge von Simon Probst und Justus Pötzsch mobilisieren literaturwissenschaftliche und wissenssoziologische Perspektiven, um die epistemologischen Konsequenzen einer Konfrontation des Selbstverständnisses der Moderne und des geologischen Paradigmas der Tiefenzeit zu untersuchen. Im Rückgriff auf literarische Texte, die sich ins Gespräch mit dem Anthropozän bringen lassen, zielt Probst mit seinem Beitrag darauf, die Dichotomie zwischen anthropozentrischer, geschichtlicher Zeitlichkeit und Zeitlichkeiten der Erde oder (Um-)Welt zu überwinden und bietet, unter anderem bezugnehmend auf Donna Haraway und Anna Tsing, ein Konzept von ineinander verwobenen, sympoietischen Zeiten an. Er problematisiert dabei, dass selbst aktuelle Argumente und methodische Prämissen des kulturwissenschaftlichen An thropozändiskurses das binäre Schema von nicht-/menschlicher Zeit zwar kritisieren, aber doch fortschreiben und illustriert demgegenüber, wie literarische Texte dazu beitragen können, die Relationalität pluraler Zeitlichkeiten sichtbar zu machen. Unter Rekurs auf Reinhart Kosellecks Metapher der „Zeitschicht“ führt Pötzsch diese Überlegungen fort und setzt sich konkret mit den stratifikatorischen und stratifizierenden Grundannahmen unseres Zeitdenkens auseinander. Er betont dabei, dass beide – sowohl nicht- als auch menschliche Zeitlichkeiten – erdene Spuren in Form konkreter Ablagerungsprozesse hinterließen und entsprechend in dem, was er als „Pedosphäre“ benennt, aufeinander bezogen werden könnten. Unabhängig von den jeweiligen ideellen, politischen oder wissenschaftlichen Implikationen, böte sich die „Pedosphäre“ an, als modernes Fundament einer Zeitlichkeit des Anthropozän eingeschätzt und untersucht zu werden. Sie könne dadurch schließlich auch Ausgangspunkt einer umfassenden epistemologischen Synchronisierung werden.
In die unmittelbare Vorgeschichte unserer Gegenwart führen die letzten beiden Aufsätze, die sich mit den politischen und gesellschaftlichen Folgen von Zeit- als Zukunftsdenken auseinandersetzen, wie es durch den Anthropozändiskurs derzeit wieder (re-)aktiviert und aktualisiert wird. Lukas Doil untersucht in diesem Zusammenhang die Geschichte der Technikfolgenabschätzung in den USA, der OECD und der Bundesrepublik im Vergleich. Ab Ende der 1960er Jahre und nicht zuletzt im Kielwasser des vom Club of Rome in Auftrag gegebenen Berichts The Limits to Growth habe die Planungseuphorie westlicher Staaten abgenommen und einem skeptischeren Zukunftsdenken Raum gegeben, das sich dezidiert mit den Folgen technischer Innovationen auseinandersetzte und zu eruieren suchte, wie potenziell negative oder gar destruktive Entwicklungen zu verhindern oder in ihren Auswirkungen einzudämmen seien. Doil erachtet diese Form des progressiven Zukunftsdenkens, das von einer möglichen technologischen und kybernetischen Gestaltbarkeit von Zukünften getragen war, als verwandt zum Anthropozändiskurs. Anthropozän und Technozän werden so als zwei Spielarten zukunftsbezogenen Zeitdenkens erörtert, die grundiert sind von der Vorstellung, gegenwärtig Zukünftiges in der Auseinandersetzung mit ökologischer wie politischer Krisenerfahrung gestalten zu können und zu müssen. Im Gespräch mit Erhard Schüttpelz werden abschließend – und ausblickend – die Perspektiven der Kulturwissenschaften, der Medienwissenschaften und der Geschichtswissenschaft zusammengeführt. Ausgehend von der Idee der Allochronie, die für die moderne Ethnologie grundlegend war und sich prominent in der Figur des „Primitiven“ manifestierte, werden Zeitorientierungen durch eine als reifiziert gedachte Zeitordnung und die Folgen temporaler Hierarchisierung und Exklusion diskutiert. Vor diesem Hintergrund lassen sich so auch aktuelle Zeitmodellierungen und -erfahrungen, sei es die durch das Anthropozän aufgerufene Realität prekärer Zukünfte oder jüngst die während der Pandemie zu beobachtende Zeitdehnung, historisch rückbinden und überdisziplinär perspektivieren. Bestrebungen der Zeitordnung werden als menschliches Bedürfnis und gleichermaßen als genuiner Machtgestus erkennbar, deren jeweils zugrunde liegende Motivationen und epistemologische Kontexte es zu berücksichtigen gilt. Im gemeinsamen Gespräch lässt sich auch vor der als „natürlich“ erachteten Zeit ein Schritt zurücktreten und sie aus kritischer Distanz in ihrer eigenen Faktur erkennen.
Diese thematisch heterogenen, dezidiert überdisziplinären Annäherungen an die für alle historischen Kulturwissenschaften grundlegende Frage nach modernen Zeitlichkeiten und ihrer Aktualisierung wie Engführung unter dem Kennzeichen Anthropozän sollen nicht etwa einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben oder als diskursive Schließung erachtet werden. Viel eher verstehen sie sich als Gesprächsangebot und Übungsfeld, um unterschiedliche Konfigurationen von Zeitlichkeiten, vergangenen wie gegenwärtigen und prospektiven, als je kontextgebundene und nicht zuletzt auch in ihrer wissenschaftlichen Ausgestaltung disziplinär spezifischer Formationen zu diskutieren. Sprechen im Namen der Zeitlichkeit(en) ist so stets ein Sich-Gewahr-Werden von Eigenzeitlichkeit und der begrenzten Reichweite dieser. Diese Eigenzeitlichkeit gilt es jedoch nicht bloß zu konstatieren, sondern zu brechen, indem unterschiedliche Zeitlichkeiten aufeinander bezogen, in Abgrenzung voneinander auf ihre Erkenntnis- und Deutungspotenziale befragt werden und so gemeinsame Grundannahmen oder nicht aufzulösende Differenzen sichtbar gemacht werden. Diesem Verständnis folgend muss Zeitlichkeit als relative, historisch wie kulturell kontingente Größe verstanden werden, wofür die hier vorgestellten Beiträge jeweils exemplarisch stehen mögen, um als ein diskursives Stimulans einen Anlass zu weiterem Nachdenken zu geben.
Literaturverzeichnis
Fußnoten
1 Vgl. Giddens 1990. 2 Szerszynski 2010, S. 16. 3 Chakrabarty 2009, S. 198; vgl. Thacker 2011, S. 5. 4 Vgl. Clarke 2001; Gould 1992. 5 Latour 1998, S. 20. 6 Für die Virulenz des Themas Zeitlichkeit, besonders in Auseinandersetzung mit „der“ Moderne, sprechen neben zahlreichen Einzelstudien auch größere Verbundforschungsprojekte, wie etwa das an der Universität Duisburg-Essen angesiedelte Graduiertenkolleg 1919 „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ sowie das DFG-Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“ mit ihren jeweiligen Publikationsreihen. Vgl. insbesondere Gamper 2020; Geppert/Kössler 2015; Hühn/Schneider 2020; Rothauge 2017. 7 Vgl. Chakrabarty 2009; Chakrabarty 2018; Chakrabarty 2021. 8 Vgl. Bonneuil/Fressoz 2017, S. 65–96; Horn/Bergthaller 2019, S. 79–99; Malm/Hornborg 2014. 9 Vgl. Adam 1998; Bensaude-Vincent 2021; Gamper u.a. 2020; Horn 2016; Hühn/Schneider 2020; Nordblad 2021. 10 Ein aktueller Beitrag in dieser Richtung ist Isberg 2020. 11 Vgl. Davis 2017. 12 Vgl. Bonneuil/Fressoz 2017; Nixon 2013. 13 Vgl. Brennan 2013; Kern 2003, S. 98–108. 14 Vgl. Blumenberg 1986; Conrad 2018; Elias 1982; Fryxell 2019; Gumbrecht 2012 und 2010; Landwehr 2014; Ogle 2015 und 2013; Radkau 2017; Zerubavel 1982. 15 Vgl. Assmann 2013; Hartog 2003; Koselleck 2003; Simmel 1916; Tamm/Olivier 2019. 16 Troeltsch 1922, S. 437. 17 Vgl. Körner 2011. 18 Descola 2011, S. 127. Vgl. auch Descola 2014. 19 Vgl. Chakrabarty 2008. 20 Vgl. Chwałczyk 2020; Haraway 2018; Latour 2014; Malm/Hornborg 2014. 21 Haraway 2018, S. 72. 22 Vgl. Yusoff 2018, S. 44–49; Zalasiewicz/Waters 2019. 23 Vgl. Crutzen/Steffen 2003; Morton 2013, S. 7. 24 Vgl. Davis/Todd 2017; Yusoff 2018, S. 28–39. 25 Vgl. Engels 2000; Fabian 2002; Gamper 2020; Gould 1992; Heisenberg 1927. 26 Vgl. Rosa 2005; Virilio 1980. 27 Vgl. Hölscher 2016; Seefried 2015. 28 Yusoff 2018, S. 16; vgl. Rifkin 2017. 29 Vgl. Sommer 2016; Wenzlhuemer 2011; Wishnitzer 2015. 30 Vgl. Daggett 2019; Malm 2016. 31 Vgl. Rifkin 2017; Yusoff 2016. 32 Rifkin 2017, S. 2; vgl. Dillon 2012; Escobar 2018; Todd 2015; Whyte 2018. 33 Szeman/Boyer 2017, S. 1. 34 Vgl. Horn 2020; Latour 2017. 35 Heidegger 1978, S. 427.