Harald Kleinschmidt: Eine Kritik der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung am Beispiel der Vergangenheitswahrnehmung bei Dudo von Saint-Quentin und Saxo Grammaticus

Abstract: The article scrutinises the transformation of perceptions of the past in the time span between the late tenth and the late twelfth century. In doing so, it takes issue with the argument that much of medieval historiography was based upon imperfect knowledge of the past and, as a consequence, must be subjected to severe criticism of the facticity of the information it provides. Dudo of St Quentin’s and Saxo’s narratives of the Norman and the Danish pasts are examined for evidence to the effect that medieval historiography allows access to perceptions of the past as related to the groups in its focus. Both texts also reveal changes of patterns of transmitting perceptions about the past from group-related property to freely circulating knowledge.

Keywords: Historiographie (mittelalterliche); Vergangenheitswahrnehmung; Dudo von Saint-Quentin; Saxo Grammaticus; Gastrecht

1. Einleitung: Erinnerung zwischen Fakten und Wahrnehmungen

Orale Traditionen haben als Quellen einen schweren Stand in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Vor 30 Jahren wartete Jan Assmann mit der These auf, dass die nicht in Schrift gegossene Erinnerung unzuverlässig, weil verformbar sei (Assmann 1992: 17 f.; 2000: 207). Diese These gründete er einerseits auf Überlieferungen aus der Antike, andererseits auf Befunde der Forschung des 20. Jahrhunderts, erhob gleichwohl den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit seiner These. Die in Stein gemeißelte ägyptische Inschrift diente ihm als Modell, das die Fähigkeit von Schriftzeichen zum Überdauern von Jahrtausenden belegte. Allein im Medium der Schrift auf dauerhaftem Beschreibstoff vollziehe »sich ein allmählicher Übergang von der Dominanz der Wiederholung zur Dominanz der Vergegenwärtigung, von ›ritueller‹ zu ›textueller Kohärenz‹«; im Medium der Schrift sei die »Erfindung einer normativen Vergangenheit« (Assmann 1999: 83–87) möglich, die kanonisch und durch die Zeiten überliefert werden könne (Assmann 1992: 11; nach Niethammer 1980: 8). Nur in diesem Medium niedergelegte Überlieferungen hätten demnach das Potenzial, die Basis für ein von Assmann postuliertes »kulturelles Gedächtnis« abzugeben, könnten die Verstetigung und die im Grundsatz unbeschränkte Kommunizierbarkeit von Erinnerungen leisten. Scharf grenzte er damit die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung von früheren archivarischen (Aretin 1810: Bd. 1, X–XIII, 13–24, Bd. 3, 7–44; nach: Schenckel 1610; Döbelius 1707; Dommerich 1765), empirisch-psychologischen (Ebbinghaus 1885: 77 f., 103 f.; Ribot 1882: 26, 28f.) und soziologischen (Halbwachs 1967: 3–11; 1985: 21) Richtungen ab, die Assmann zufolge die kognitiven Voraussetzungen und Grenzen der Transmission des Wissens von Vergangenheit über lange Zeitspannen aus ihrem Blickfeld ausgegrenzt zu haben schienen (Assmann 1992: 88 f.; Assmann 1995).

Vor knapp 20 Jahren trat zudem Johannes Fried als Protagonist einer geschichtswissenschaftlichen Gedächtnisforschung hervor, die er an Assmanns Thesen knüpfte, mit Befunden aus Neurophysiologie, Psychologie, Ethologie und Ethnologie anreicherte und als allgemeine Methodik der Quellenkritik betrieben wissen wollte (Fried 2004: 86–135; zu Assmann S. 85, 174 u.ö.).1 Fried attackierte, worauf die Kritik an seinem Werk selten eingegangen ist, orale Traditionen auf breiter Front, unterwarf sie dem Anfangsverdacht der Unzuverlässigkeit und verlangte, dass sie als Quellen für »Fakten« nur bei bestätigenden Belegen zur Geltung kommen dürften. Er wiederholte damit nicht nur eine Forderung, die bereits Johann Christoph Gatterer (1767b: 24 f.) aufgestellt hatte, sondern klinkte sich ein in die in der Geschichtswissenschaft übliche Kritik an oralen Traditionen (Fried 2004: 223, 378 u.ö.).2 Wie Assmann gründete er sein Verdikt auf die These, dass weder das personale noch das kollektive Gedächtnis ohne besondere Pflege Erinnerungen an Fakten über mehr als einhundert Jahre transmittieren könnten, und griff für diese These ebenso wie Assmann auf Erfahrungen der Oral-History-Forschung der 1980er Jahre zurück (Fried 2004: 174; Assmann 1992: 11, 50 f.). Dabei handelt es um eine Richtung der Zeitgeschichtsforschung, die sich auf die Auswertung der Aussagen von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen insbesondere zur Alltagsgeschichte konzentriert und damit ältere Ansätze verfeinert hat. Nach diesen Erfahrungen transmittiert das personale Gedächtnis hauptsächlich Wahrnehmungen, hier und im Folgenden begriffen im weiten Bedeutungsfeld von perceptions, sowie an diese geknüpfte Begebenheiten. Es bewahrt jedoch Fakten ohne besondere Gedächtnispflege selten über mehr als drei Generationen (Niethammer 1980: 8; 1985; 1995: 314–366). Aber weder Assmann noch Fried stellten bei der Übernahme dieser Befunde in Rechnung, dass die Oral History-Forschung nach autoptischen Erfahrungen gefragt, sich auf die Lebenszeit beteiligter Personen und auf Differenzen sowie Widersprüche zwischen Wahrnehmungen in personalen Gedächtnissen konzentriert (Jarausch 2002; Saupe 2012; Welzer 2012), mithin die über Generationen erinnerten Wahrnehmungen nicht in erster Linie untersucht hat. Die Verfügbarkeit von Erinnerungen, die auf die Lebenszeit befragter Personen bezogen sind, schließt also Wahrnehmungen nicht aus, die aus früheren Zeiten weitergereicht worden sind. Dagegen zogen Assmann und Fried für ihr Verdikt gegen orale Traditionen die Rechtfertigung allein aus der vielfach bezeugten Beobachtung, dass das personale Gedächtnis Begebenheiten und Zustände der Vergangenheit selektiert, in Wahrnehmungen kleidet, mit dem Fortgang der Zeit überschreibt und auf die Bedürfnisse der Gegenwart zuschneidet (Burke 1989; Cook 2013; Gross 2000: 11–115; Schacter 1996: 98–133).

Für das auf Gruppen bezogene kollektive Gedächtnis verwiesen Assmann (1992: 34–47, 64–66) und Fried (2004: 84 f., 314 u.ö.) zwar auf Thesen Maurice Halbwachs’ (1967: 50, 66, 68, 72 f.; 1985: 72 f.), der Modi der Transmission von Erinnerungen in Gruppen für die Dauer deren Bestehens untersucht und scharf gegen die Schriftüberlieferung als Geschichte abgegrenzt hatte. Mit seinem an die Schriftüberlieferung herangetragenen Faktizismus schloss Fried jedoch die auf die Transmission von Wahrnehmungen ausgerichtete Erinnerungsleistung nicht nur des personalen, sondern auch des kollektiven Gedächtnisses für die geschichtswissenschaftliche Forschung aus seinem Blickfeld aus. Dadurch bestritt er die Bedeutung, die Marc Bloch (1924) und Georges Duby (1978), unter vielen, den Wahrnehmungen ihren Forschungen zugrundegelegt hatten, sogar gegen die Befunde der von ihm hoch geschätzten psychologischen Gedächtnisforschung (Fried 2004: 83 u.ö., mit Bezug auf Welzer 2001: 15–18; 2002: 13–16).

Wie Assmann (1988: 12; 1992: 50 f.) nahm Fried (2004: 74, 218–222, 231, 260–270, 313–317) sogenannte »Stabilisatoren des Gedächtnisses« an, die die Weitergabe von Fakten ermöglichen können sollten. Als solche ließen beide jedoch nur die Schrift sowie Rituale zu, die durch die Zeiten wiederholt sowie mit Mythen vergesellt worden sein und auf diese Weise der die oralen Traditionen verändernden Dynamik des personalen und kollektiven Gedächtnisses entgegenwirken können sollten. Doch mit dieser Annahme schrieben Assmann und Fried eine dem frühen 19. Jahrhundert entstammende Theorie aus. Dieser Theorie zu Folge schienen orale Traditionen nur in Verbindung mit rituellen Transmissionstechniken die Bewahrung von Fakten über lange Dauer gewährleisten zu können.3 Allein nach Maßgabe dieser Theorie schien die Parallelsetzung von Mitteilungen in rezenten ethnographischen Berichten, geschrieben zumeist aus kolonialherrschaftlicher Perspektive des späteren 19. Jahrhunderts, mit archäologischen Funden aus der Frühgeschichte Europas möglich.4 Spätestens mit der Einsicht in die Kontextabhängigkeit, und damit der Wandelbarkeit, von Ritualen (Althoff 2001; 2013: 189–204; Harth 2004; Oesterle 2002: Kap. 2) brach dieses Konstrukt jedoch zusammen. Die gut dokumentierte, schon der Aufklärungshistoriographie (Gatterer 1767a: 19; 1773: 4 f.) bekannte sowie von Assmann und Fried zugestandene Transmission von Wissen von Vergangenheit mit dem Medium der oralen Traditionen auch im mittelalterlichen Europa (Mostert 1998; Richter 1994a: 81–103; 1994b) lässt sich also nicht mit dem Griff in die Trickkiste primitivistischer Theoriebildung abtun, sondern muss im Kontext der Geschichte der Vergangenheitswahrnehmungen analysiert werden.

Das Postulat, dass die Schrift am besten die veränderungsresistente Übermittlung scheinbar exakter Fakten ermögliche, ließ Fried angebliche Widersprüche in Aussagen der Quellen als Ausdruck des Versagens der Erinnerung deuten. Statt Wandlungen der spezifischen kulturellen Bedingungen zu analysieren, die personale und kollektive Erinnerungen geprägt haben und prägen, tischte er gedächtnisphysiologische Platitüden auf. Zudem bewegten sich Assmann und Fried unreflektiert in einer Vergangenheitswahrnehmung, die die drei Dimensionen der Zeit begrifflich trennt (Hölscher 1999; Völkel 2002; Oschema 2021) sowie zwischen Vergangenheit und Zukunft die Dimension der Gegenwart nicht nur als Übergang fasst, sondern mit eigener Dauer ausstattet. Infolge dessen postulierten Assmann und Fried zwischen Vergangenheit und Gegenwart einen Bruch und erwarteten, dass dadurch Vergangenheit von einer jeweiligen Jetztzeit entfremdet ist (Fried 2004: 80, 148, 392 u.ö.).5 Erst diese Erwartung von Umbrüchen und Diskontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart (Ranke 1825; Certeau 1973: 174; Nora 1995; Ricœur 1997: 441f.) erzeugt die Forderung, dass Geschriebenes diese Umbrüche und Diskontinuitäten überbrücken können müsse. Hingegen fördert die Erwartung, dass zwischen Vergangenheit und Zukunft Kontinuität bestehe, die Praxis des »lebenden Texts« (Genicot 1975: 27 f.; Cerquiglini 1989; Reimitz 2015: 127–165), mithin die im Mittelalter bekanntlich übliche Anpassung des in Schriftform Überlieferten an die Bedürfnisse der Überliefernden. Die Erwartung von Umbrüchen und Diskontinuität als Scheidelinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart entstand in Europa erst an der Wende zum 19. Jahrhundert (Zizius 1810: XII; Lueder 1817: 513–800). Sie ist an vielen Indizien erkennbar, neben Anderem an der Neubestimmung der Statistik von der Staatenkunde zur gesellschaftbezogenen Numerik (Cagnazzi 1801, 14 f.; Woerl 1841: 25), an der zur selben Zeit aufkommenden Rede von der »Vergegenwärtigung« als Vergegenständlichung des Wissens von Vergangenheit (Wolf 1869: 953; Niebuhr 1929: 165; Ranke 1949: 182, 193, 365, 376, 546, 556; Walther 1993: 186 f., 200–206; 2004) sowie dem Wandel der Bedeutung des Worts Zeitgeschichte (Geiger 1908: 88 f.; Jäckel 1975: 165–170; Hockerts 1993: 102 f.; Koselleck 1988). Dieses Wort verschob sich mit seinen lateinischen Parallelformen von der Bezeichnung der Lebenszeit einer Person (Brachelius 1652; Giovio 1554; Thou 1604) zur Bezeichnung der zwischen Vergangenheit und Zukunft liegenden Epoche (Kerner 1893: 64; Goethe 1890: 4; 1891: 72). Für frühere Zeiten ist hingegen von der Erwartung auszugehen, dass Vergangenheit keine Alterität zur Jetztzeit retrospektiv beobachtender Personen bildete, sondern in ihrem unlösbaren Bezug zu diesen verformbar und in enge Beziehung mit den in früheren Tagen (diebus suis) Handelnden gestellt erschien. Vergangenheit galt als verfügbarer Besitz derjenigen Personen und Gruppen, die sie betrachteten und Wissen von ihr transmittierten (Kleinschmidt 2009), war als solcher außerhalb religiöser Kontexte nicht per se universalisierbar. Religiöse Kontexte förderten jedoch die Erwartung der Kontinuität von Vergangenheit in Zukunft in der bewohnten Ökumene als nur durch göttlichen Ratschluss beendbare, begehbare, vom Ozeankreis umgürtete, die partikularistischen Gruppen überwölbende und als Menschheit konstituierende Raumzeiteinheit. Die neue Wahrnehmung des Bruchs zwischen Vergangenheit und Gegenwart formulierte der Historiker Karl Ludwig Woltmann drastisch in den Metaphern des Tods und des Lebens und forderte, »daß derjenige, welcher die Notiz in Thatsache verwandelt, nicht nach Laune verfahren dürfe, sondern nach allgemeinen Gesetzen die todte Notiz und das Leben, was er ihr einhaucht, nothwendig berechnen müsse, daß er wenigstens während dieser Operation sich alles Individuellen entäußern, sich selbst zur Anschauung bringen und das Objective ergreiffen werde.« (Woltmann 1804: 254). Die Historiografie war nach Woltmann also ein Verfahren, das aus der schriftlichen Überlieferung von der toten Vergangenheit Tatsachen entstehen ließ, die in der Gegenwart zu leben schienen. Diejenigen, die diesen Schöpfungsakt vollzögen, dürften aber nicht als Personen willkürlich und nach eigenem Geschmack irgendetwas ins Leben heben, sondern müssten unbeteiligt, sich selbst gleichsam von außen betrachtend, die Tatsache als Objekt behandeln.

Das Konstrukt eines kulturellen Gedächtnisses setzt im Sinn Woltmanns für alle Zeiten und Kulturen die Bereitschaft nicht nur zur Rückwendung zu Vergangenheit voraus, sondern auch zur Vergegenständlichung und Universalisierung des Wissens von ihr. Aber genau diese allgemeinen Voraussetzungen sind in Europa für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert (Hrabanus Maurus 1859: 285; Algazi 1998: 328 f.; Goetz 1992: 66, 72; 2005: 180 f.), anderswo in der Welt auch länger (Ritz-Müller 2003; Schott 1990), unempirisch. Zum Verständnis des Wandels der Vergangenheitswahrnehmung bedarf es der eingehenden Quellenanalyse, die die bisherige Forschung nur in Ansätzen geleistet hat. Fried (2004: 153, 211, 213, 223, 231, 296, 335 u.ö.) indes hielt unbeirrt an der seit dem 19. Jahrhundert in Europa üblichen Vergangenheitswahrnehmung fest und kritisierte scharf den Mangel an Bereitschaft zur Vergegenständlichung von Vergangenheit zumal in der frühmittelalterlichen Historiographie, der er wenig Respekt vor und geringes Interesse an Fakten vorwarf. Besonders hart ging er (2004: 188–190, 321) Thietmar von Merseburg an, dem er den vermeintlich faktenfernen »Modus symbolischen Denkens« beim »Erinnern und Schreiben« attestierte.

Erinnerungen an Fakten oder was als solche erscheint, sind von Wahrnehmungen weder im Allgemeinen noch gar im besonderen Bezug auf spezielle kulturelle Kontexte isolierbar. Im folgenden möchte ich die wahrnehmungsbezogene Erinnerungsleistung schriftlicher Überlieferungen im Vergleich zu der oraler Traditionen anhand zweier Beispiele aus der Frühzeit der Wiederverschriftung europäischer Kulturen während des 11. und 12. Jahrhunderts untersuchen. Die beiden Beispiele, die Historia Normannorum, auch bezeichnet als De moribus et actis primorum Normanniae ducum libri tres, des Dudo von Saint-Quentin (1865), geschrieben zwischen 996 und 1015, und die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (1931), geschrieben um 1200, entstanden in unterschiedlichen Typen von Gruppen, den Normannen als fahrenden Kriegern, die zu Residierenden wurden, und den Dänen, die als Residierende einen Wechsel ihrer herrscherlichen Dynastie durchlebten. Beide Texte sind über die in ihnen ausgewerteten Medien der Transmission von Wissen über Vergangenheit bisher nur ansatzweise befragt worden (Steinsland 2011). Dafür werde ich zunächst in der gebotenen Kürze den Prozess des Wandels der Vergangenheitswahrnehmung in Europa seit dem 8. Jahrhundert skizzieren, sodann die beiden historiographischen Texte in ihren einschlägigen Passagen in diesem Prozess verorten und schließlich die Bedeutung der Kontinuität und des Wandels der Strukturen von Gruppen, die zur Erinnerungstransmission bereit und fähig sein können, für die je gruppenstrukturtypische Vergangenheitswahrnehmung zu bestimmen versuchen.

2. Wandlungen der Vergangenheitswahrnehmung in Europa

Fried postulierte nicht nur, dass Vergangenheit als eine irgendwie räumlich begrenzte Schichtung von Kulturen bestehe und wie in einer archäologischen Grabung freigelegt werden könne, sondern setzte den Begriff des Faktums als gegeben voraus (Fried 2013: 24). Doch schon Johann Martin Chladenius (1752: 8, 37 f.) hatte klargestellt, dass Fakten als solche keinen Eingang in Quellen finden können, sondern lediglich als perspektivisch vereinseitigte »Sehepunckte«, dass mithin orale Traditionen genauso wenig wie die in Schriftform überlieferten Berichte von Zuschauenden eine Begebenheit voll umfänglich wiedergeben können. Mit seinem Vertrauen in den Zeugniswert geschriebener Texte erlag Fried (2004: 224) somit der Suggestivkraft der Quellenmetapher. Es bleibt dagegen die die antike Mnemotechnik aufgreifende Einsicht des Hl. Augustinus, dass Begebenheiten früherer Zeiten nur über Erinnerungsbilder transmittierbar sind (Augustinus 1992: Buch XI, Kap. 18, S. 156 f.). Hinzukommt der die Generierung von Wissen über Vergangenheit erschwerende Faktor, dass Schriftzeichen, ihre Lesbarkeit vorausgesetzt, Inhalte mit Bindung an die Zeit ihrer Niederschrift bezeichnen, folglich bei Überschreitung der Grenzen von Kommunikationsräumen (Foucault 1975: 186) nicht immer veränderungsfrei und für retrospektiv beobachtende Personen verständlich weitergeben können. Folglich entstehen unvollständige Parallelsetzungen ursprünglicher Bedeutungen von Wörtern und Begriffen mit denen der Zeit, in der sie gelesen werden. Die von Schriftzeugnissen bezeichneten Inhalte sind also, zumal über lange Zeitspannen, nicht veränderungsresistent, sondern müssen, um in gegenwärtige Sprachen und Ausdrucksweisen transportiert werden zu können, den jeweilig aktuellen Begriffen, Konzeptionen, Metaphern, Vergangenheitswahrnehmungen und Zukunftserwartungen angepasst werden. Schriftlich Überliefertes unterliegt, vielleicht weniger stark als oral Tradiertes, Veränderungsdynamik. Assmann und Fried rennen mit ihrem Konstrukt des »kulturellen Gedächtnisses« also einem Trugbild nach.6 Folglich ist es nicht der wichtigste Aspekt von Forschungen über Wahrnehmungen in der Vergangenheit zu bestimmen, ob sich Erinnerungen an vergangene Begebenheiten und Zustände wandeln, sondern wie retrospektiv beobachtende Personen auf diese Wandlungen reagieren. Dazu haben sie, wie Lévi-Strauss (1992: 40 f.; 1959; 1973: 309) vor langer Zeit erkannte, zwei Möglichkeiten: sie können diese Wandlungen soweit wie möglich ignorieren (die »kalte« Option) oder sie können sie erweitern und stärken (die »heiße« Option). Fried bewegte sich nur in der heißen Option, wohingegen die von ihm hart kritisierten Autoren des Frühmittelalters die kalte Option vorzogen.

Im Einklang mit der einschlägigen Forschung (Beumann 1950: 7–11, 56 f.; Laudage 2003: 211, 219) notierte Fried zutreffend zwar die Vorbehalte, die Widukind von Corvey (1935: Buch I, Kap. 2, S. 4) gegen die damals wohl am Hof der Ottonen zirkulierenden, von ihm nicht weiter spezifizierten, aber als fama kategorisierten Elemente der origo gentis der Sachsen artikuliert hatte, behauptete indes an anderer Stelle gemeinsam mit der von ihm sonst kritisierten Oralitätsforschung (Hauck 1970: 17–19, 38–61), dass in Widukinds Text »sächsische Traditionen … rudimentär zu fassen seien.« (Fried 2004: 271; wohl nach Becher 1996: 28). Fried war also in seiner Traditionskritik nicht konsequent, ging zu Widukind, um Wissen über die ferne Vergangenheit der Saxones zu erwerben, aber zog archäologische Funde dazu nicht in Betracht, die Widukinds origo als Konstrukt erweisen (Kleinschmidt 2020). Der Hauptgrund für die Zweifel am Bestehen sächsischer oraler Traditionen liegt in dem Umstand, dass die auf diese vertrauende Forschung eine Erkenntnis Maurice Halbwachs’ nicht internalisierte. Halbwachs (1967: 66, 72 f.) hatte darauf hingewiesen, dass die Bildung eines kollektiven Gedächtnisses an den Fortbestand der jeweiligen, Erinnerungen transmittierenden Gruppen gebunden sei. Die Ausbildung und Transmission solcher Erinnerungen ist folglich nur möglich in einer die Generationen überdauernden Gruppe, deren Struktur und kollektive Identität diese Erinnerungsleistung ermöglichen können. Besteht die Gruppe aus Angehörigen, die keine kollektive Samtidentität ausbilden, endet die Gruppe oder wandelt sich deren Struktur in einem die Erinnerungstransmission beeinträchtigenden Umfang oder zerfällt die Gruppe, so entstehen entweder keine auf die Gruppe als ganze bezogenen Traditionen oder sie erlöschen, falls es sie gegeben hatte.

Bei den Sachsen zum Beispiel scheint eine die Transmission von Traditionen ermöglichende Gruppenstruktur und kollektive Identität erst im Verlauf des 8. Jahrhunderts entstanden zu sein. Der Name »Sachsen« scheint zunächst generisch auf eine heterogene Gruppe von Berufskriegern bezogen gewesen zu sein, die auf Vertragsgrundlage zusammengefügt waren und folglich unterschiedliche kollektive Identitäten verbanden (Halsall 2007: 373–399; Haubrichs 2009: 83; Slicher van Bath 1949; Vries 1958; Wood 1995). Das Berufskriegertum dieser Gruppen, als Piraten, Söldner oder vielleicht auch Eroberer, passt zu den Ableitungen des Sachsennamens sowohl durch Isidor von Sevilla (1911: Buch IX, Kap. 2) als auch durch Widukind (1935: Buch I, Kap. 6, S. 7).7 Das Gegenbeispiel bildeten die Goten, von denen Splitter in Oberitalien bis in das 11. Jahrhundert (Schmidt 1943), in Britannien bis in das 9. Jahrhundert (Binz 1895; Brady 1937; 1940; 1943; Brandl 1937; Haubrichs 2018; Hills 1989; Kleinschmidt 2009a: 122–151; 2009b) ihre kollektive Identität bewahrt zu haben scheinen und nach Ausweis des altenglischen Widsith-Gedichts (1962: 22–25) und einiger Genealogien (Dumville 1976: 34) Traditionen transmittierten. Erst nachdem diese Gruppen ihre kollektiven Identitäten nicht mehr manifestieren konnten und deswegen nicht mehr bezeugt sind, konnten gotische Traditionen frei zirkulieren und in Schriftform weitergereicht werden, wie eine interpolitierte Passage in den Annales Quedlinburgenses belegt (2004: 370–372; dazu Gschwantler 1984; 1988; Händl 2003; Haubrichs 1989; Springer 2012: 145–151). Zutreffend ist folglich die Beobachtung Assmanns wie auch Frieds, dass der Gebrauch der Schrift die Weitergabe von Überlieferungen ohne Bindung an Gruppen, das heißt in freier Zirkulation ermöglicht. Aber werden dadurch die überlieferten Inhalte zuverlässiger? Auch hier belegt Widukind (1935: Buch I, Kap. 2, S. 4 f.) das Gegenteil. Denn seine Vorbehalte gegen orales Traditionsgut führten ihn bekanntlich zu dem Schluss, dass allein die aus der Schriftüberlieferung gezogene These der Abkunft der Sachsen aus dem Heer des Makedonenkönigs Alexander Faktum sei.

Das Nachlassen der Fähigkeit zur gruppenbezogenen Erinnerungstransmission wie auch das Einsetzen freier Zirkulation von Traditionen sind seit der Mitte des 10. Jahrhunderts gut, in Ansätzen bereits im 8. Jahrhundert (Haubrichs 2014: 60–64; 2019), erkennbar. Wenn beispielsweise die Synode von Ingelheim vom 07.06.948 Verwandtschaftsgruppen die Pflicht zur Niederschrift von Verwandtschaftsverhältnissen auferlegte (Hehl 1987: 172), so konstatierte sie dadurch nicht nur die Verengung des Verwandtschaftsbegriffs in Richtung auf den Agnatismus (Regino 1840: 286 f.; Weiland 1893: Nr. 434, S. 629), sondern auch den für die Bestimmung der Ehefähigkeit nach Kirchenrecht abträglichen Mangel an zuverlässigen mündlich transmittierten Nachrichten über Verwandte und Verwandtschaftsgrade (Bouchard 1981; 1986). Fried (2004: 196, 198) verkehrte diese komplexen Wandlungen in ihr genaues Gegenteil mit dem Postulat, ein »sich an genealogischen ›Linien‹ oder ›Zweigen‹ orientierendes Familienbewußtsein« habe sich an der Wende zum 11. Jahrhundert »noch nicht formiert«, so als habe zuvor kein in Genealogien manifestes, auch Doppeldeszendenz und Kollateralität einschließendes Verwandtschaftsbewusstsein existiert. Wenn an der Wende zum 11. Jahrhundert Thietmar von Merseburg über seine entfernteren agnatischen Vorfahren nur berichtete (so: Fried 2004: 188–190), was er in Schriftquellen hätte lesen können, dann bestätigte er unfreiwillig die auf der Synode von Ingelheim artikulierten Sorgen. Anders gesagt: der Gebrauch der Schrift entzog den erinnernden Gruppen den Besitz und die Kontrolle ihrer Traditionen. Ein Gewinn an Zuverlässigkeit des überlieferten Guts entstand durch diesen Vorgang nicht.

Indes ist die Wahrnehmung gruppenspezifischen Besitzes von Traditionen und den in diesen enthaltenen Erinnerungen keineswegs identisch mit Mangel an kritischem Umgang mit Wissen von Vergangenheit. Quellenkritik ist hingegen möglich auch bei mangelnder Anerkennung der Objektivierbarkeit des Wissens von Vergangenheit. Denn Objektivität bedeutet, anders als Fried voraussetzt (Fried 2004: 106–108, 227, 314, 344; dagegen: Herbst 2004: 31), lediglich die Möglichkeit der Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt im naiven, nicht-heideggerischen (Heidegger 1994: 5, 16) ontologischen Sinn der Gegenüberstellung eines Dings gegen eine dieses betrachtende Person, nicht jedoch die Unterwerfung unter einen bestimmten Maßstab zur Bemessung der Wirklichkeitsnähe im kognitiven Sinn. Indem Fried das Aufspüren vermeintlicher Fakten zum Hauptinteresse jeder mit Objektivitätsanspruch ausgestatteten kritischen Geschichtsforschung erhob, verschob er den Objektivitätsbegriff von der ontologischen in die kognitive Ebene und positionierte die seither gängigen Methoden als allein mögliche Verfahren der Traditions- und Überlieferungskritik. Damit blendete er die in nachantiker Zeit mit dem frühen 8. Jahrhundert einsetzenden, gut bekannten Belege (Bezold 1918; Goez 1974; Joachimsen 1910: 91–104, 277; Lamarrigue 2000: 64–74; Lasch 1887; Schulz 1909: 16–27, 36 f.) für kritischen Umgang mit Wissen von Vergangenheit (Beda 1969: Praefatio, S. 6; Wipo 1915: 6; Piccolimini 1551: 84; Schöfferlin 1505: fol. 1a) sowie für extensive Suche nach Quellen aus (Peutinger 1504: Praefatio; Turmair 1881), der in anderen Teilen der Welt schon früher bezeugt ist (Hartman 2012; Hsu 1983; Vogelsang 2007; Webb 1960). Das heißt weder, dass Quellenkritik immer in angemessener Weise betrieben wurde, noch schließt es die Möglichkeit aus, dass orale Traditionen unter Rückgriff auf Schriftquellen erfunden wurden (Hobsbawm 1983). Aber gerade bei Verdacht auf Erfindungen von Traditionen ist das Aufdecken der sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen der Erfindungen geboten.

Wahrnehmung von Vergangenheit und Umgang mit Wissen von ihr haben also ihre eigene Geschichte, die selbstverständlich kulturspezifisch und deswegen keinen universalen Standards unterworfen ist. Nicht Geschichtsforschung als solche ist »erinnerungsblind«, wie Fried (2004: 215) unterstellt, sondern er ignoriert (2004: 72–78, 208–213), bei aller Berechtigung seiner Hinweise auf unangemessenes Vertrauen in den Zeugniswert oraler Traditionen, spezifische Ausprägungen der Vergangenheitswahrnehmung, wenn er Kulturen mit Oralität als Kommunikationsstandard pauschal Unfähigkeit zu kritischem Umgang mit Wissen von Vergangenheit attestiert. Im Einzelnen können, grob skizziert, die folgenden Phasen der Vergangenheitswahrnehmung in Europa seit dem 6. Jahrhundert unterschieden werden: in der ersten Phase ist der Besitz von Vergangenheit dokumentiert in den zwischen dem 6. und dem 8. Jahrhundert überlieferten Genealogien zum Zweck der Legitimierung und Vernetzung Herrschaft tragender Verwandtengruppen und mit dem Anspruch der autoritativen Transmission geglaubten Wissens von Vergangenheit (Dumville 1976), erkennbar auch an den frühen Traditionssammlungen, wie etwa des Widsith (1962), das fortwirkende gruppenbezogene Erinnerungen zu reflektieren scheint (Kleinschmidt 2009b); in der zweiten Phase zwischen dem 8. und dem 10. Jahrhundert ist Kritik an der außerhalb der biblischen Überlieferung im Besitz von Gruppen stehenden Vergangenheit durch vergleichendes Abwägen des Zeugniswerts oraler Traditionen und schriftlicher Überlieferungen erkennbar in der Historio- und Hagiographie von Beda bis Widukind von Corvey und Abbo von Fleury (Scharer 1996; Kersken 1995: 823 f.; McKitterick 1997; Shopkow 2002: 229–232; Verbist 2009: 35–84); in der dritten Phase folgt die Ausgrenzung oraler Traditionen aus dem Sortiment der Medien des Erwerbs von Wissen von Vergangenheit im 11. und 12. Jahrhundert bei gleichzeitiger Verbreiterung der freien Zirkulation dieses Wissens durch die Schrift (Boyer 2016; Haubrichs 1989; Hemmingsen 1996; Plassmann 2006; Prentout 1916; Skovgaard-Petersen 1987), auch wenn der Glaube an die Fähigkeit und Bereitschaft von Gruppen zum Besitz von Vergangenheit bis in die Zeit Maximilians I. (Faber 1624; Herzheimer 1971: 35 f.) und darüber hinaus in das 18. Jahrhundert fortbestand (Mabillon 1709: Praefatio, [S. 3*]); in der vierten Phase finden die Ausgrenzung der Zukunft aus der historiographischen Vergangenheitswahrnehmung und die Trennung von Historiographie und Eschatologie nach Otto von Freising bei gleichzeitigem Festhalten an den biblischen Chronologien statt (Häusler 1980; Spiegel 1997: 111–137); in der fünften Phase kommen Zweifel am Glauben an den gottgewollten Anfang der Welt auf, beginnend mit jesuitischen Berichten aus China an der Wende zum 17. Jahrhundert, sowie, darauf folgend um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die Anerkennung eines gegenüber den Vorgaben der biblischen Chronologie beträchtlich höheren Alters der Welt mit mehreren Millionen Jahren (Kleinschmidt 2021); in der sechsten Phase entsteht um 1800 die Wahrnehmung des entfremdenden Bruchs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, damit einhergehend die präsentistische Erweiterung des Begriffs der Gegenwart zu einer Epoche sui generis in der postulierten Ausdehnung von ungefähr einer Generation (John 1884: 155–370; Porter 1986: 18–23, 41–85). Fried setzte die letzte Phase europäischer Vergangenheitswahrnehmung für alle Zeiten absolut und oktroyierte sie auf das Mittelalter. Die beiden im Folgenden zu besprechenden historiographischen Texte stellen diesen Ansatz in Frage; sie gehören der dritten Phase an.

3. Wahrnehmung der Vergangenheit bei Dudo von Saint-Quentin

An der Wende zum 11. Jahrhundert schrieb der belesene Kleriker Dudo im pikardischen Kloster Saint-Quentin eine Darstellung des Entstehens und Geschichte des normannischen Staats als Lehen des fränkischen Königs. Das Werk umfasst vier Teile, die jeweils einer Führungspersönlichkeit gelten und insgesamt die Zeitspanne seit dem späteren 9. Jahrhundert umfassen. Die Genese des normannischen Staats stellte Dudo dar als Resultat der Migration militärisch geprägter Vertragsgruppen der »Nortmanni«8 und deren Siedlung nach militärischer Eroberung sowie kraft eines Belehnungsvertrags. Diese Vorgänge sind Gegenstand des zweiten, dem »dux« Rollo gewidmeten Buchs, in dem Rollos Vertreibung aus seiner Heimat, seine Kämpfe bis zum Belehnungsakt, die Ansiedlung im Frankenreich sowie seine darauf folgende Herrschaftszeit zur Sprache kommen. Während die Bücher III und IV über die Nachfolger Rollos, Wilhelm Langschwert und Richard I., berichten, ist in Buch I ein »dux Hasting« vorgeschaltet, der wie Rollo Eroberungszüge in das Frankenreich unternommen haben soll, aber nicht dort siedelte (Meli 1995). Dudo duplizierte also den Migrationsvorgang. Dabei dienten ihm offenbar Berichte über Wikingerangriffe als Vorlage, unter ihnen die vielleicht vor Ort in Saint-Quentin transmittierte Nachricht (Annales de Saint-Vaast 1909: 53), dass Wikinger im Jahr 883 das dortige Kloster gebrandschatzt hätten. Weitere Nachrichten über die Wikingerangriffe könnte Dudo der karolingischen und altenglischen Annalistik entnommen haben. Aber nur in wenigen Quellen (Regino von Prüm 1890: s.a. 867, 868, 874, S. 92, 108, 109; Glaber 1886: Buch I, Kap. 5, S. 18 f.) ist von einem Hasting die Rede (Depping 1826: 121 f.; Grosley 1811: 30, 36; Prentout 1916: 33–110; Dumézil 1973: 3–76). Auch verwenden die Quellen des 9. Jahrhunderts den Namen der Normannen im generischen Sinn wie den der Wikinger, ohne damit konsequent eine spezifische kollektive Identität der so bezeichneten Gruppe auszudrücken. Der Name des ersten dux der Nortmanni scheint also vor Dudo erfunden worden zu sein und als Kondensat aus vielen Wikingerkommandeuren figuriert zu haben. Dudo versuchte mithin, die Vergangenheit der Normannen zu rekonstruieren, ohne dass er auf orale Traditionen zurückgreifen konnte, sondern sich mit der ihm zugänglichen schriftlichen Überlieferung und der ihm durch den »comes Rudolfus« (= Raoul von Ivry), Halbbruder Richards I., zu Teil werdenden Informationen begnügen musste (Dudo 1865: 119 f.).

Im Folgenden werde ich die These zu belegen versuchen, dass Dudo sein genealogisches Modell der Herrschaftslegitimation, anders als in Gruppen wie den ihm bekannten Goten (Dudo 1865: 129) üblich, nicht an endogene orale Traditionen anknüpfen konnte, folglich auf die Schriftüberlieferung zurückgreifen musste und mit einer Mischung aus dem aus antiker Schrifttradition stammenden römischen Gastrecht und dem Lehensmodell zu verbinden sich anschickte. Diese Verbindung gelang ihm jedoch nicht; denn einerseits bildeten die Nortmanni als militärisch organisierte Vertragsgemeinschaft (coniuratio) (Oexle 1981; 1985; Scheller 2005) keine Bereitschaft und Fähigkeit zur Transmission sie als Samtgemeinschaft betreffender oraler Traditionen aus, andererseits konnte weder die Anwendung von Gewalt (Gouttebroze 1994) noch die Gastrechtsüberlieferung die Genese eines mit autonomer legitimer Gesetzgebungsbefugnis ausgestatteten Staats begründen.

Die Frage stellt sich somit, welche Qualifikation Dudo für das Schreiben über den Staat, die Gruppe und die Geschichte der Normannen mitbrachte. Wir wissen nicht, warum Richard I. Dudo mit der Abfassung des Werks beauftragte. Dudo war kein Normanne (Lair 1865; Prentout 1916) und vertrat somit die Außenperspektive. Möglich ist, dass die Normannen auch unter ihrem dritten dux keinen eigenen Mechanismus zur Weitergabe von Wissen über ihre Vergangenheit als Samtgemeinschaft, mithin kein kollektives Gedächtnis, ausgebildet hatten und deswegen einen gelehrten Kleriker heranzogen. Eine solche Beauftragung an einen Außenstehenden schilderte Abbo von Fleury (1890: 3) ebenfalls im späten 10. Jahrhundert (Shopkow 2002; Verbist 2009). Für militärisch organisierte Vertragsgruppen, die sich wie andere coniurationes, beispielsweise der der alten Saxones, zur Ausführung bestimmter Vorhaben zusammengefunden hatten, ist die Formierung eines auf die Samtgemeinschaft bezogenen kollektiven Gedächtnisses generell wenig wahrscheinlich, da dieser Gruppentyp Personen unterschiedlicher Abkunft und verschiedener Herkunft vereinigte, nicht notwendig auf lange Dauer angelegt und in der Regel durch extensive Mobilität und Fluktuation der Mitgliedsschaft geprägt war (Geary 1983: 22–25; 1994: 87–98; Wolfram 1990: 105 f.). Dudo (1865: 130; nach Aimoin 1869: Buch I, Kap. 1, S. 29) griff auf die auch am Ende des 10. Jahrhunderts geglaubte, von der Schriftüberlieferung mitgeschleppte Fiktion der Trojanerabkunft zurück und ließ die Nortmanni von Antenor abstammen, nach römischer Überlieferung (Livius, Ab urbe condita, Buch I, Kap. 1, Nr. 1; Vergil, Aeneis, Buch I, Nr. 242) der neben Aeneas tätige Herrschaftsträger. Damit folgte Dudo dem literarischen Genus der origines gentium (Arnoux 2000; Plassmann 1995; Searle 1984; Shopkow 1997: 96–117), das wie kein anderes mit dem Mittel der Affiliation einiger innerhalb des Römischen Reichs angesiedelter gentes an Heroenfiguren der Vorzeit die Wahrnehmung der ungebrochenen Kontinuität von Vergangenheit in Zukunft manifestierte und der Legitimation von Herrschaft diente (Dumville 1977; Kellner 2004: 131–294; Liuselli 1978; Melville 1987: 230–235, 262, 283). Mit der Anknüpfung an dieses Genus dokumentierte Dudo (1865: 129 f.) nicht nur den Fortbestand der Wahrnehmung der ungebrochenen Kontinuität von Vergangenheit in Zukunft bis in das 11. Jahrhundert, sondern verankerte dadurch zugleich die Nortmanni in der fernen Vergangenheit sowie im Zentrum der ungeteilten Ökumene und konnte daher den Namen der Dänen, »Dani«, mit dem der Daker gleichsetzen (Carozzi 1996; Hanawalt 1994; 2001: 7–46; Plassmann 2006: 243–264; 2014b; Potts 1995; Webber 2005: 13–17). Dass die Trojaner keine Vertragsgemeinschaft gebildet hatten, störte Dudo offensichtlich nicht angesichts des Vorteils, dass mit der Behauptung der Trojanerabkunft die Normannen Ranggleichheit mit den Franken beanspruchen konnten. Wohl der Trojanerabkunft folgend konstruierte Dudo sowohl für Hasting als auch für Rollo unfreiwillige Abschiede aus der Heimat. Diese lokalisierte er bei den Daker-Dänen. Vertreibung, Herkunft über See und Herrschaftsbildung an fernen Gestaden gehörten zu den Versatzstücken, die Dudo in der antiken Überlieferung vorfand (Bouet 1981; 1990; Stok 1999) und an die auf ihn folgende Historiografie vermittelte (Guillaume 1992: Buch I, Kap. 3 f., S. 14–18). Bei den Daker-Dänen ließ er Rollo und dessen Bruder Gurim Söhne einer hochrangigen Persönlichkeit sein, die mutig gegen einen tyrannischen Herrscher aufgestanden, aber unterlegen und in die Emigration gezwungen worden waren. Dieses Berichtselement könnte, vermittelt durch Raoul, wikingische Praxis insoweit reflektiert haben, als bei den Wikingern Niederlagen in militärischen, politischen oder Erbstreitigkeiten Zwangsmigration auslösende Faktoren gewesen zu sein scheinen (Kaiser 1998; Plassmann 2014c; Zettel 1977: 33–111).

Dudos Konstruktion normannischer Vergangenheit nach dem genealogisch-legitimistischen Modell blieb defektiv. Denn weder konstatierte er für Hasting und Rollo Verwandtschaftsbeziehungen unter einander noch beschrieb er den Weg der angeblichen Trojanerabkömmlinge nach Norden, sondern suggerierte lediglich die fortdauernde Identität der Vertragsgemeinschaft, über die Hasting und Rollo nacheinander Herrschaft trugen. Auffällig ist zudem, dass Dudo zwar Antenor als Spitzenahn der Nortmanni reklamierte, aber keine lückenlose genealogische Verbindung zwischen diesem und Hasting sowie Rollo herstellte. Auch füllte er, abweichend von zeitgenössischer genealogischer Praxis (Angenendt 1994; Bloch 1986; Duby 1973; Hackenberg 1918; Scheibelreiter 1992; Taviani-Carozzi 1993), die Liste der Vorfahren Hastings und Rollos nicht mit Figuren aus dem Alten Testament auf und nannte ebenso wenig einen Verwandtengruppennamen9 für die von Rollo begründete herrscherliche Dynastie. Dudo war also mit der ihm zeitgenössischen genealogischen Praxis nicht vertraut und konnte daher nicht ermessen, dass er zur Manifestation der Ranggleichheit von Franken und Normannen für Letztere eine in ihrer Länge mit der der Franken kompatible Vorfahrenliste hätte kompilieren müssen. Statt die duces der Nortmanni mit prominenten Vorfahren auszustatten, begrenzte Dudo die Länge der Genealogie auf vier Generationen bis zur Lebenszeit Richards I. und stellte gewissermaßen Antenor vor ihnen auf. Als Konstrukteur der normannischen Vergangenheit nutzte er, außer der Schriftüberlieferung, nur das über vier Generationen zurückreichende personale Gedächtnis seines Informanten. Er entwickelte das Bewusstsein, mit seiner Narration die Vergangenheit des normannischen Staats als Besitz der herrscherlichen Dynastie darstellen zu sollen, folgte also der »kalten« Option. Aber dazu fehlten ihm nicht nur orale Traditionen als Quellen, sondern auch genealogische Expertise, die an der Wende zum 11. Jahrhundert nicht völlig erloschen (Florenz von Worcester 1849: 258–262), aber rar geworden war.

Dabei wäre Erfahrung im Umgang mit Vergangenheit für die Narration der Geschichte des normannischen Staats gefordert gewesen. Denn das Wissen, das Dudos Informant über die Umstände der Entstehung des normannischen Staats vermittelte, gab zusätzliche Probleme auf. Sie resultierten aus dem Umstand, dass die den Konventionen der origines gentium folgende Konstruktion der normannischen Vergangenheit Migration in das Königreich der Franken verknüpfen musste mit lehnsrechtlich legitimierter Siedlungstätigkeit. Dass Dudo die duces der Nortmanni in ein lehnsrechtliches Dienstverhältnis zu karolingisch-kapetingischen Königen stellte, ergab sich aus den politischen Gegebenheiten seiner Lebenszeit. Er hatte also die Genese des normannischen Staats als Akt der Begründung dieses Dienstverhältnisses darzustellen. Das Problem dabei war, dass das Lehnsrecht Siedlungstätigkeit für die Vergabe dinglicher Rechte als Gegenleistung für Dienste gegenüber der das Lehen ausgebenden Institution oder Person voraussetzte. Dudo hingegen bestand darauf, dass der Staatsgründer Rollo erst nach der Begründung des angeblichen lehnsrechtlichen Dienstverhältnisses als Lokator Siedlungsrechte an seine Leute durch Los vergeben habe. Er griff dabei auch auf die Fiktion zurück, dass das nunmehr zu vergebende Land zuvor wüst gewesen sei (Dudo 1865: 171, 136 f., 146, 166 f.), und gab die letzte Phase der Migration der Nortmanni aus als Vollzug einer auf einem Berg erhaltenen göttlichen Weissagung nach biblischem Vorbild (Krappe 1923).10 Dieser Weissagung folgend sollen die Nortmanni unter Rollos Führung die »tellus Normannica« erobert haben. Dudo zufolge trug die tellus normannica durch die göttliche Weissagung schon den Namen der Normannen, ehe diese dort anlandeten (Plassmann 2004). Mit der Berufung auf göttlichen Willen versuchte er, den dem normannischen Staat anhaftenden Mangel an Legitimität zu kaschieren. Denn die Legitimität von Siedlungsvorgängen ließ sich weder mit der Ausübung militärischer Gewalt noch nach dem Lehnsrecht begründen, sondern nur nach dem auch in spätantiken Rechtstexten überlieferten Gastrecht (ius hospitis).

Hospes bezeichnete in Gesetzen des Codex Theodosianus aus den Jahren 361, 384 und 398 nicht nur den Quartiergeber, sondern auch, und in der Regel, den einquartierten Krieger (Codex 1906: 327, 328, 328 f.). Die hospitalitas dieses Codex gab ein militärisches Einquartierungsrecht vor, auf Grundlage dessen ein Krieger über längere Zeit im Haus als Gast einquartiert werden musste. Schon Tacitus (1967: Kap. 2, S. 302) hatte die Formel ius hospitis gebraucht und bei den sogenannten Germanen als gültig angesehen (Balthasar 1742: 10 f.; Hellmuth 1984: 5–8; Möller 1733: 2, 8 f.; Schulte 1908: 526). Dieses ius hospitis soll bekannten und unbekannten Gästen eine freundliche Aufnahme vorgeschrieben haben. Sidonius Apollinaris (1887: Carmen 5, V 60, S. 189) bezog hospes auf den Vandalenherrscher Geiserich noch nach dessen Eroberung von Karthago (439). Geiserich blieb in der Distanzperspektive eines Bewohners Galliens also auch dann noch Gast im Römischen Reich, als er bereits in Karthago als Herrscher residierte. Paulus Diaconus (1878: Buch II, Kap. 32, S. 90) bezeichnete die Langobarden noch für das Jahr 574, d.h. sechs Jahre nach der Invasion Italiens, als hospites, also als Gäste, die sich, wie sich aus seinem Text ergab, auf Dauer dort niedergelassen hatten (Pohl 2001: 189–196). Die Wörter für den Gast scheinen somit im Lateinischen der klassischen und der Spätantike wie auch in den sogenannten germanischen Sprachen den Gast und den Fremden, gelegentlich wohl auch den Krieger, bezeichnet zu haben, die entweder über längere Zeit ansässig oder im Dienst blieben, so noch, in der Sprache der Steiermark der Frühneuzeit, Bewohner ohne eigenes Haus (Bergmann 1926: 162 f.). Oder wie Isidor von Sevilla (1911: Buch XV, Kap. 3) erläuterte: ein Gast (hospes) sei jemand, der gekommen sei, kraft Gastrechts am Ort wohne und irgendwann weiterziehen werde. Die Praxis, Unbekannte auch für längere Zeit aufzunehmen, war offensichtlich im 8. und 9. Jahrhundert weit verbreitet. Nach der jüngeren Fassung der Lex Salica bestand die Möglichkeit, den Wohnsitz in eine neue Nachbarschaftsgruppe zu verlegen. Dort sollten alle Zugezogenen bleiben können, sofern niemand binnen Jahresfrist Widerspruch einlegte (Eckhardt 1953: 203, 205). Nach Ablauf der Widerspruchsfrist sollten Zugezogene nicht mehr Gäste, sondern den Altresidenten rechtlich gleichgestellt sein. Offensichtlich machten nicht wenige migrierende Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Denn aus den Urbaren des 9. Jahrhunderts ergibt sich eine Fülle von Belegen für Personen, die als extranei oder advenae bezeichnet wurden, in kleinen Katen in der Nähe der Fronhöfe angesiedelt waren, in die ortsansässige Bevölkerung einheiraten konnten, bei Bedarf als Arbeitskräfte zur Verfügung standen und nach ihrer Aufnahme in die Siedlungsgemeinschaft zu den regelmäßigen Dienst- und Abgabeleistungen herangezogen wurden (Devroey 1984: 8, 30, 37, 48; Hägermann 1993: 58, 60 u.ö.; Schwab 1983: 207, 211, 214, 256; Admonitio 1883).

Im Rahmen der Gastrechtsüberlieferung hätten die Nortmanni somit zunächst als hospites in den Dienst des fränkischen Königs treten müssen, um zu einem späteren Zeitpunkt mit Landnutzungsrechten belehnt werden zu können. Dass im 10. Jahrhundert die Figur des Gastrechts zur Indienstnahme von Kriegern geläufig war, bestätigte Widukind von Corvey (1935: Buch I, Kap. 4, S. 5 f.), der seine origo gentis der Sachsen mit der Erzählung über den angeblichen, auch Handelsrechte einräumenden sächsisch-thüringischen Landnutzungsvertrag begann. Doch die normannische Eigenwahrnehmung als Eroberer, die der Informant Raoul autoritativ an Dudo vermittelte, erlaubte in Verbindung mit den schriftlichen Überlieferungen des 9. Jahrhunderts über die Nortmanni kein solches Narrativ. Dudo (1865: 165–175) scheint hingegen gedrängt gewesen zu sein, die antagonistische militärische Komponente der normannischen Vergangenheit bis zur Staatsgründung hervorzuheben, widmete er doch den überwiegenden Teil des zweiten, Rollo betreffenden Buchs den dem Belehnungsakt voraufgegangenen Kämpfen, aber erst am Schluss dieses Buchs brachte er kurze Abschnitte zur Tätigkeit Rollos als Herrscher über Land und Leute. Der Anteil an Berichten über kriegerische Aktivitäten ist dramatisch höher in dem Hasting gewidmeten ersten Buch. Darin beschimpfte Dudo (1865: 136 f.) Hasting dafür, dass er über das Frankenreich wie ein Wolf in einen Schafstall hergefallen sei, ließ Hasting Verträge brechen und schließlich militärisch scheitern (Schmieder 2005). Er stilisierte folglich Hasting als Gegenpol zu Rollo, der Verträge ein- und militärische Unterstützung von Bündnispartnern erhielt (Mathey-Maille 2005). Zu den Verträgen, die Rollo abschloss, gehörte auch das Abkommen, das er, Dudo zu Folge, mit dem englischen König während seines Aufenthalts auf der Britischen Insel schloss.11 Dieses Abkommen beschrieb Dudo mit der Rechtsformel vendendi atque emendi als Vertrag zur Gewährung von Gastrecht unter Einschluss des Handelsprivilegs nach den in England geltenden Regeln für den Markt.12 Dudo zufolge war Rollo also mit dem Gastrecht vertraut.

Die Anlandung der Nortmanni in der tellus Normannica nach Dudos Bericht aber unterschied sich kategorial von den Voraussetzungen der Gewährung des Gastrechts, sollte nicht auf den Erwerb des Gaststatus gerichtet gewesen sein, sondern auf Eroberung abzielen. Dudo schloss seinen Bericht über Rollo zwar mit der Gründung eines Staats, der aber der übergeordneten Herrschaft des fränkischen Königs unterstellt blieb. Der Bericht scheint somit das Resultat eines in sich widersprüchlichen Kompromisses zu sein, den Dudo zwischen der Eigenwahrnehmung der herrscherlichen Dynastie der Normannen als Gruppe letztlich siegreicher Eroberer, der Gastrechtsüberlieferung und der lehnsrechtlichen Abhängigkeit der duces der Nortmanni vom fränkischen König retrospektiv zu konstruieren versuchte (Lifshitz 1997). Dabei überschrieb die in Dudos Lebenszeit allein relevante lehnsrechtliche Abhängigkeit der duces der Nortmanni offenbar die Erinnerung an den ursprünglichen gastrechtlichen Status der Nortmanni im Frankenreich.

Die Widersprüche in Dudos Bericht (1865: 168 f.) verschieben auch den Inhalt und die Bedingungen des Vertrags von St. Clair-sur-Epte (911) aus dem Bereich der Fakten in den der Wahrnehmung. Die einschlägige Forschung äußerte schon vor mehr als hundert Jahren Zweifel an dem Postulat, dass dieser Vertrag je in Diplomform bestanden haben könnte (Prentout 1916: 196–203; Plassmann 2008: 74, 76). Die Inkompatibilität von militärischer Eroberung und Belehnung verstärkt diese Zweifel und lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass ein wie auch immer gestaltetes Einvernehmen zwischen Karl dem Einfältigen und Rollo schon zeitgenössisch den Rechtscharakter einer Belehnung gehabt, sondern gestattet die Vermutung, dass, gegen Dudos Bericht, das Abkommen eine bloße Einquartierung zum Inhalt gehabt haben könnte. Diese Interpretation wird gestützt durch die Aussage Flodoards (s.a. 924, 925, 1905: 24, 29), der den Vertrag als foedus bestimmte und dadurch in den Kontext des Gastrechts stellte. Die Einquartierung der Nortmanni unter der Herrschaft des Königs scheint zudem reflektiert zu sein in einer Urkunde im Namen Karls des Einfältigen vom 14.03.918. Diese Urkunde eximiert von einer Schenkung des Königs an das Kloster Saint Germain-des-Près Ländereien, die zuvor den Normannen zur Siedlung zugewiesen worden waren (Karl der Einfältige 1940: 211). Auch weisen Einzelheiten des Verlaufs der angeblichen Vertragsverhandlungen, wie Dudo sie schilderte, topische Elemente auf (Simek 2018: 54–56), von dem Vorschlag der Berater Karls, Rollo mit dem Angebot des Friedens nach Heirat mit Karls Tochter Gisela und der Zusicherung der Taufe zufrieden zu stellen, über den Ausdruck der großen Freude Rollos über dieses Angebot als Variante des Bescheidenheitstopos, die Taufe Rollos und seiner Krieger sowie schließlich die Aufteilung des vermeintlich wüsten Lands an Rollos Gefolge. Unter Abzug der migrations- und eroberungsbezogenen Komponenten schimmert das Wissen von der Taufe Chlodwigs durch (wohl nach Aimoin 1869: Buch I, Kap. 12–14, S. 38–40).

Im Überblick stellt sich Dudos Beschreibung der Entstehung des normannischen Staats als überwiegend quellenfernes Konstrukt dar. Die Nortmanni als militärisch geprägte Vertragsgemeinschaft verfügten nicht über die Bereitschaft und Fähigkeit zur Ausbildung und Transmission gemeinsamer oraler Traditionen. Offensichtlich eignete ihnen vor der Staatsgründung weder eine inklusive kollektive Identität noch ein gemeinsames kollektives Gedächtnis. Sie reklamierten für sich weder einen heros eponymus noch einen Verwandtengruppennamen noch eine in die ferne Vergangenheit zurückreichende Genealogie der herrscherlichen Dynastie. Dudos Bericht beruhte folglich auf dem personalen Gedächtnis eines Angehörigen dieser Dynastie sowie auf schriftlicher Überlieferung. Den Normannen als Siedlungsgemeinschaft zu Dudos Lebenszeit eignete, anders gesagt, eine postmigratorische, nur schwach ausgeprägte kollektive Identität, die auf die rezenten lehnsrechtlichen Bindungen an die fränkischen Könige bezogen war. Als Gruppe erhoben sie keinen Anspruch auf Besitz ihrer Vergangenheit, obwohl Dudo diese Vergangenheitswahrnehmung bei ihnen voraussetzte. Ohne eigene genealogische Expertise passte Dudo das ihm von anderen migrierenden Gruppen mit Oralität als Kommunikationsstandard her bekannte Genus der herrscherlichen Genealogien den Bedingungen des Genres der origo gentium und der Literalität des Kommunikationsstandards an, erweiterte sie um Versatzstücke aus dem Gast- und Lehnrecht. Er beschrieb den Wandel der Struktur der Herrschaft tragenden Gruppe und deren Gefolge von einer mobilen, nur ihren eigenen Regeln folgenden Vertragsgemeinschaft in eine Siedlergemeinschaft in einem zwar mit legitimer autonomer Gesetzgebungskompetenz ausgestatteten, aber in Lehnsabhängigkeit stehenden Staat. Es ist nicht erkennbar, dass der Einbezug schriftlicher Überlieferung in Dudos Bericht über die Vergangenheit der Nortmanni zu mehr Vertrauen in die Faktizität des Berichteten Anlass geben könnte. Im Gegenteil: hätte Dudo wie frühere Kontrukteure von Vergangenheit orale Traditionen auswerten können, wäre seine Narration der Vergangenheit der Nortmanni schlüssiger ausgefallen.

4. Die Wahrnehmung der Vergangenheit bei Saxo Grammaticus

Saxo Grammaticus stand bei seiner Darstellung der ferneren Vergangenheit Dänemarks vor schwierigeren Aufgaben als Dudo, hatte er doch statt vier Generationen viele Jahrhunderte zu überblicken (Friis-Jensen 1995). Das personale Gedächtnis von Informanten konnte Saxo also nicht als Quelle dienen. Deshalb hat die Forschung orale Traditionen auch nach Einsetzen der Schriftüberlieferung in Skandinavien als Medien der Vermittlung von Wissen über die ferne Vergangenheit postuliert und dafür insbesondere auf die Skjöldungasaga und das Beowulfepos verwiesen (Boyer 2016: Kap. 6; Buchholz 1980: 50 f.; Hemmingsen 1996: 389–467; Lukman 1943: 14–33; Olrik 1925; Riis 2006: 41–44; Skovgaard-Petersen 1987: 169, 218, 241). Gleichwohl könnte Saxo auch Beda (1969), Adam von Bremen (1917), das Chronicon Lethrense (1917) und Sven Aggos Dänische Geschichte (1642) ausgewertet haben. Er (1931: Buch 1, Kap. 1, Nr. 1, S. 10) selbst bezeugt das Werk Dudos als Quelle, dem er die Aufdeckung der trojanischen Abkunft der Dänen zuschrieb. Anders als Saxo setzte das dem späten 12. Jahrhundert zugehörige Chronicon Lethrense wie Dudo Dänen mit Dakern gleich, spezifizierte freilich, dass die Dania in früherer Zeit unter der Herrschaft des Königs Ypper von Schweden in Uppsala gestanden habe. Ypper habe seinem Sohn Dan die Herrschaft über Seeland, Møn, Falster und Laland zugewiesen, wo dieser in Lethra seinen Herrschaftssitz errichtet habe. Der gemeinsame Name für die vier Inseln sei Witheslef gewesen. Dan habe Jütland und Fynen seiner Herrschaft unterstellt. Danach habe der Adel Dan als König akklamiert und das Gebiet »Dania vel Dacia« nach dem König benannt.13 Saxo (1931: Buch 1, Kap. 1, Nr. 1 f., S. 10) setzte nach den Vorgaben der origines gentium an die Stelle dieses auf die Entstehung von Herrschaft über Land bezogenen Berichts eine Genealogie, die er mit Humblus und dessen beiden Söhnen Dan und Angul beginnen ließ. Dieser schaltete er wie Dudo die nicht weiter spezifizierte trojanische Abkunft des Humblus vor mit der verballhornten Ableitung »Danos a Danais ortos«, ohne den Weg der zu Dänen gewordenen Trojaner vom Zentrum der Ökumene in den Norden zu spezifizieren. Dan soll über die Dänen, Angul über die später nach Britannien gezogenen Angeln geherrscht haben. Von der vielleicht oral transmittierten Tradition der Skjoldunge als älterer stirps regia der Dänen ist somit in der dänischen historiographischen Schriftüberlieferung des 12. und 13. Jahrhunderts außer in Saxos Werk nichts zu erkennen. Saxo wählte seine Quellen also sorgfältig und gegen die ihm zeitgenössische Historiographie aus. Bei ihm figuriert Skjold (Skyoldus, Skioldus) als heros eponymus, jedoch nicht als Spitzenahn der stirps regia. Für sie ist hingegen der Name des Humblus dupliziert, einmal für den nicht-eponymen Spitzenahn, dann wieder für dessen Enkel. Dieser zweite Humblus soll von seinem Bruder Lotharus gestürzt worden sein, der in einem inneren Konflikt umkam. Skjöld, Sohn des Lotherus, soll das Erbe der Sünden seines Vaters abgelegt und das Reich in Frieden regiert haben. Deswegen sei Skjold der heros eponymus der stirps regia geworden (Saxo 1931: Buch 1, Kap. 3, Nr. 1; Buch 1, Kap. 4, Nr. 1–18, S. 11, 12–19). Ausdrücklich hob Saxo hervor, dass aus Dan »ut fertur antiquitas, regum nostrorum stemmata« folgten. Saxo kompilierte seine Genealogie als Liste aus Namen, die auf verschiedene Herkunft deuten, den duplizierten Humblus aus der Überlieferung über die Hunnen, Angul aus Bedas Bericht über die Angeln, Lotherus aus fränkischer Überlieferung und Skjold möglicherweise aus oraler Tradition.

Saxos Liste folgte mit der Ausnahme Skjolds den Konventionen in der Beschreibung scheinbarer Abhängigkeiten der Namen von Gebieten (oder Orten) von angeblichen Ahnennamen. Herrschaft über Land und die darauf siedelnden Leute stand im Vordergrund von Saxos historiographischem Interesse, nicht die Wandlung der Struktur von Gruppen im Übergang von Gemeinschaften von Migrierenden in solche von Siedelnden (Muceniecks 2017: 29–46). Anders gesagt: Beginnend mit dem ersten Humblus, bestimmte Saxo die Dänen als Untertanenverband oder Indigenat,14 und setzte sich darin mit der Konvention der origines gentium in Widerspruch, die die beschriebenen Gruppen nicht als dauerhaft Residierende ausgaben. In seiner Betonung der Indigenatseigenschaft der Dänen ging Saxo noch weiter als das Chronicon Lethrense, eine seiner möglichen Quellen. Denn die dort berichtete gemeinsame Herrschaft des Königs Ypper über Schweden und Dänen erwähnte Saxo ebenso wenig wie die angebliche Teilung dieser Herrschaft unter den Söhnen Ypperes. Hingegen setzte er die autonome legitime Gesetzgebungskompetenz der dänischen stirps regia als von Anfang an gegeben voraus. Wülfingische Herrschernamen (Hines 1984: 288–290; Newton 1992: 65–74; 1993: 54–131; O’Loughlin 1964; Paul 1981: 112–114; Wenskus 1976: 111–114), die auf Verbindungen zu den Schweden oder Gauten deuten konnten, fehlen in Saxos Bericht über die ferne Vergangenheit, obwohl er im späteren Teil des Werks (1931: Buch 4, Kap. 92, S. 97–100) mit dem Dänenkönig Uffo den Träger eines wülfingischen Namens erwähnte. Dabei fällt auf, dass der bei den Angeln übliche wülfingische Name Offa schon früh für deren kontinentale Zeit belegt ist (Widsith 1962: V. 35–44, S. 24) und für mehrere Herrscher in Bedas Werk (1969: Buch V, Kap. 19, S. 516; Continuatio, s.a. 757, S. 574) aufscheint, aber in Saxos Genealogie trotz der Einfügung des Namens Angul fehlt. Es könnte also sein, dass Saxo nicht nur die Tradition der Skjoldunge zum sekundären Element in seinem Bericht herabstufte, sondern wülfingisches Traditionsgut vollends unterdrückte. Einerseits war die Tradition der Skjoldunge wohl zu wichtig, als dass er sie hätte unerwähnt, andererseits zu fern, als dass er sie als konstitutiv für das dänische Indigenat hätte gelten lassen können. Der Verzicht auf Einbezug der wülfingischen Tradition ließe sich damit begründen, dass sie das dänische Indigenat in historisch-politische Abhängigkeit von Schweden gebracht hätte. Nach Saxo waren zudem weder die stirps regia noch das ihr unterstellte Indigenat darauf angelegt, aus der Transmission oraler Traditionen ihre Legitimität zu ziehen, sondern erhielten diese aus einem Huldigungsakt. Hingegen ging Saxo von der Möglichkeit aus, frei über heterogenes Namengut verfügen zu können, das jeder Bindung an Traditionen transmittierende Gruppen entbehrte. Der Mangel an Bereitschaft von stirps regia und Indigenat zum schöpferischen Umgang mit gruppenspezifischen oralen Traditionen war an der Wende zum 13. Jahrhundert folglich nicht nur erkennbar an den zeitgleich im Prozess der Verschriftlichung befindlichen Sagas, sondern betraf die Vergangenheitswahrnehmung generell.

Die kollektive Identität der Dänen als Indigenat konstituierte sich also auf der Grundlage heterogener Überlieferungen, die in der Historiographie zu einer Einheit verschweißt werden sollten. Saxo erweist sich als konservativer Konstrukteur einer origo gentis, die den formalen genealogischen Konventionen folgte, aber mit neuen Inhalten füllte. Diese Inhalte beschrieben die Dänen als nicht als Verband von Migrierenden, sondern als autonomes residierendes Indigenat mit einer in die Antike zurückreichenden Vergangenheit. Diese ließ Saxo (1931: Buch 1, Kap. 1, Nr. 1, S. 10) jedoch nur anklingen ohne den ausdrücklichen Hinweis auf antike Quellen, sondern bediente sich der Autorität eines zweihundert Jahre früher schreibenden Historikers.

Der Vergleich der Vergangenheitswahrnehmungen in den Werken Saxos und Dudos verweist auf ähnliche Schwierigkeiten, aber unterschiedliche historiographische Lösungsstrategien. Die Nortmanni Dudos konnten als mobile militärische Vertragsgemeinschaft gemeinsame orale Traditionen weder ausbilden noch transmittieren, für die Dänen verloren die oralen Traditionen an Kraft zur Legitimation sowohl für eine stirps regia, die sich spätestens im 12. Jahrhundert als Gruppe der Träger von Herrschaft über Land und darauf siedelnde Leute verstand, als auch für ein dieser unterstelltes Indigenat, das sich als Gruppe Residierender wahrnahm. Dudo stellte sich der Aufgabe zu beschreiben, wie aus anlandenden Rüpeln gesittete Siedler wurden, und erzählte vom Wandel der Gruppenstruktur in Anknüpfung an die Konvention der origines gentium. Saxo hingegen versuchte, den Dänen eine kollektive Identität von langer Dauer zuzuschreiben gegen die ihm zeitgenössische Historiographie, die dieses Indigenat als eine Art ursprünglicher schwedischer Sekundogenitur ausgewiesen hatte. Saxos wohl von Dudo vermittelte Anknüpfung an die auf Gruppen von Migrierenden bezogene Konvention der Trojanerabkunft blieb ein Formalismus des Genres der origines gentium.

Dudos Ansatz lag dem Widukinds von Corvey näher als dem Saxos. Wo Dudo und Widukind tiefgreifende Wandlungen in Szene setzten (Kleinschmidt 2020; Mortensen 1995; Plassmann 2022; Power 2019), suggerierte Saxo bruchlose Kontinuität von der fernen Vergangenheit in die Zukunft. Dudo und Widukind gaben vor, dass der Mangel an oralen Traditionen die Kenntnis von Vergangenheit nicht beeinträchtige, aber die Rezeption ihrer Konstruktionen von Vergangenheiten durch die jeweiligen Herrschaft tragenden Gruppen blieb gering. Wilhelm der Eroberer versuchte nach seiner Krönung zum König von England nicht, Elemente der ihm nahegelegten Konstruktion normannischer Vergangenheit in die englische Überlieferung einzubringen, nahm also die von Dudo konstruierte Vergangenheit nicht als Besitz seiner Dynastie wahr, sondern sippte sich an seine königlichen Vorgänger an. Die Normannenherrscher in Sizilien fügten sich, auch durch strategische Heiratsverbindungen, ebenso in die dortigen Traditionen ein (Caspar 1904: 1–24; Galdi 2022; Heygate 2013; Plassmann 2014a). Widukinds Konstruktion der sächsischen Vergangenheit blieb jenseits der engeren Rezeption von Passagen seines Texts ohne große Wirkung. Saxo hingegen glaubte, für sein Konstrukt des langdauernden dänischen Indigenats auf die Erwähnung von Versatzstücken aus oralen Traditionen nicht verzichten zu können. Aber auch er hatte damit innerhalb des Indigenats nur begrenzten Erfolg. Zwar pries Olaus Magnus (1555: 274) ihn noch als »clarissimus Danorum historicus«, verzichtete aber auf Einschluss der Inhalte des ersten Buchs von Saxos Werk in seine allgemeine Geschichte der nordischen Staaten. Gleichwohl gehen die Aussagen Widukinds, Dudos und Saxos darin konform, dass sie eine Korrelation zwischen Gruppenstruktur und Fähigkeit zur Transmission oraler Tradition aufzeigen. Die Gruppenstrukturen von Widukinds Saxones vor dem 8. Jahrhundert und von Dudos Nortmanni vor der Siedlung in der tellus normannica, beide mobile, militärisch geprägte Vertragsgemeinschaften, waren weder auf lange Dauer noch auf Ausbildung einer inklusiven kollektiven Identität ausgelegt und förderten daher nicht die Entstehung und Transmission oraler Traditionen, die auf die kollektive Identität der jeweiligen Samtgemeinschaft hätten bezogen werden können. Das bedeutet nicht, dass keine oralen Traditionen unter ihnen zirkulierten und transmittiert wurden, sondern lediglich, dass diejenigen oralen Traditionen, die zirkulierten und transmittiert wurden, nicht im Besitz der jeweiligen Samtgemeinschaft standen, mithin weder sächsisch noch normannisch waren. Saxo hingegen präsentierte die Dänen als Gemeinschaft von Residierenden und ließ, indirekt und mit erkennbarem Widerwillen, orale Traditionen als Zeugnisse ihrer Vergangenheit zu. Denn die damals stattfindende Verschriftung des Wissens von dieser Vergangenheit gestattete den oralen Traditionen nur noch marginale Zeugniskraft. Die Sachsen und Normannen, deren Vergangenheiten Widukind und Dudo konstruierten, bestätigen somit, dass im Besonderen die kollektiven Gedächtnissse, aber, von diesen beeinflusst, auch die personalen Gedächtnisse, in ihrer Erinnerungsleistung an Struktur und Dauer derjenigen Gruppen gekoppelt sind, in denen diese Gedächtnisse aktiv sind. Weder kollektive Gedächtnisse insgesamt noch im Speziellen das in oralen Traditionen transmittierte Wissen von Vergangenheit sind per se unzuverlässig. Umgekehrt bezeugt das Werk Saxos, dass die Verwertung schriftlicher Quellen die Zuverlässigkeit der Vergangenheitswahrnehmung nicht erhöht, wenn diese in einer Gruppe umstritten war und deren Identitäts- und Siedlungskontinuität lediglich postuliert wurde.

5. Wandlungen der Modi der Transmission von Erinnerung

Der Vergleich historiographischer Werke des späteren 10. und des späten 12. Jahrhunderts bestätigt, dass Wandlungen der Wahrnehmung von Vergangenheit während des Mittelalters stattfanden. Dieser Befund spricht gegen Frieds Meinung, »[h]‌istorischer Sinn« habe generell im Mittelalter, sondern auch im 16. Jahrhundert »noch keinen Besitz von Erinnerung, kulturellem Gedächtnis und Geschichtserzählung ergriffen« (Fried 2004: 160). Frieds Behauptung mag für manches Schriftgut gelten, ist aber als Pauschalaussage angesichts der Bemühungen nicht nur Widukinds, Dudos und Saxos, sondern Bedas (1969: 6) um Quellenkritik und noch Maximilians I. (1956: 226) und des ihn umgebenden Gelehrtenkreises um »Gedächtnus« und autoritative Aussagen über Vergangenheit unhaltbar (Mennel 1960, S. 66f. = fol. 3r; 1885). Erst für die vermeintlich »entmythologisierende Geschichtswissenschaft«, die er im 19. Jahrhundert beginnen ließ (Fried 2004: 162), gestand Fried die Fähigkeit zu, »gestaltende Mächte der Vergangenheitsbilder« zu entdecken. Seine mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit formulierte Aussage bezog Fried jedoch nur auf diejenigen Gegenstände, die er als »Fakten« gelten zu lassen bereit war und hauptsächlich in Traditionsquellen (im Sinn Bernheims) verortete. Wahrnehmungen gerieten hingegen sehr selten in Frieds Fadenkreuz (2004: 70, 75, 80, 85, 138 u.ö.), obwohl gerade die Gedächtnisforschung immer wieder die Leistungsfähigkeit des personalen und kollektiven (und/oder sozialen) Gedächtnisses zur Erinnerung von Wahrnehmungen herausgearbeitet (Berek 2009: 48–170; Gross 2000: 77–86; Laub 1992: 57–92; Levy 2001; Schacter 1996: 71–122) und die Geschichtswissenschaft, Erkenntnisse des Chladenius schärfer fassend, schon vor mehr als 30 Jahren Fakten als Konstrukte erkannt hat (Le Goff 1992: 229). Frieds Gedächtniskritik ist also Hyperkritik, die aus der erhabenen Position der Retrospektive die letztgültigen Bestätigungen von Faktenaussagen leisten können soll (Fried 2004: 224). Anders gesagt: bei konfligierenden Quellenaussagen sind Frieds eigene Wahrnehmungen der »Wirklichkeit« Grundlage seines Urteils als Richter in letzter Instanz, nicht aber zeitgenössische Wahrnehmungen, die sich aus Quellen rekonstruieren lassen.

Wie sehr diese Urteile fehlgehen können, zeigt ein Blick in Raumwahrnehmungen und dazu den Text von Marco Polos Reisebericht (Marco Polo 1485: Kap. III, XLIII, s.fol.; 1974: Kap. CLXI S. 204 f.). Darin ist Äthiopien als »Mezzana India chiamata Nabasce« bezeichnet in Abwandlung einer Formel aus der Sammlung Neutestamentlicher Apocrypha des Pseudo-Abdias mit Leben mehrerer Apostel (Abdias 1703: 669), der Äthiopien als erstes = westliches Indien bezeichnet hatte. Wenn Marco Polo auf seiner Rückreise den »Indischen Ozean« befuhr und gleichwohl in dem Bericht über seine Reise die angebliche Nähe Äthiopiens und »Indiens« angeglichen an die Formulierung des apokryphen Bibeltexts Ausdruck fand (Baum 1992: 114–120; Relaño 2002: 53–66; Young 2015: 155–176), ist belegt, dass das spätantike okzidentale Weltkartenbild mit der nur durch das Rote Meer getrennten afroasiatischen Landfläche durch das Mittelalter hindurch in das kollektive Gedächtnis eingelagert worden und noch im 17. Jahrhundert geläufig war (Ludolf 1681: 66; dazu Kleinschmidt 2022). Es mag offen bleiben, ob die Bezeichnung Äthiopiens als mittleres Indien auf Marco Polo selbst oder auf Rusticello zurückgeht. Denn die außerhalb des biblischen Kanons gebliebene Transmission dieser Namensgebung, die alte Beziehungen zwischen Südasien und Ostafrika reflektieren könnte (Campbell 2016), lässt sich kaum aus einer Schriftüberlieferung erklären; denn darin wäre Äthiopien wohl nicht aus der ersten in die mittlere Position der drei »Indien« verschoben worden. Hingegen könnte sie belegen, dass Halbwachs’ Beobachtung von der Transmissionsfähigkeit des kollektiven Gedächtnisses für den weiten Bereich der aus der Vergangenheit überkommenen oder auf sie bezogenen Wahrnehmungen zutrifft und damit auch die personalen Gedächtnisse immer wieder neu prägen kann. Fried (2004: 70, 225) hingegen, unbeeindruckt vom spatial turn, würdigte keine mittelalterliche Weltkarte eines Blicks und nannte Indien nur als exotisches Gefilde in Südasien.

Seine Gedächtniskritik gründete Fried indes nicht nur auf Hyperkritik an scheinbaren Fakten ohne hinreichenden Einbezug von Wahrnehmungen, sondern zugleich im Sinn der Forschungspraxis des 19. Jahrhunderts auf die Forderung nach Objektivierbarkeit der Vergangenheit. Darin folgte er der Erwartung Assmanns, dass allein die Überlieferung im Medium der Schrift den vermeintlich freien Zugang zu objektivierbarem Wissen von Vergangenheit sowie den kritischen Umgang mit diesem ermögliche. Assmann behauptete hingegen, orale Traditionen seien wegen ihrer Gebundenheit an die Bereitschaft und Fähigkeit zu ihrer Transmission in Gruppen lediglich nach Prüfung der vermuteten Zuverlässigkeit der bezeugten Inhalte am Maßstab der schriftgebundenen Überlieferung verwertbar (Assmann 2000: 206 f.; Fried 2004: 211, 217, 223). Dagegen bezeugt die Vergangenheitswahrnehmung in den Werken Dudos und Saxos den Umstand, dass die Erwartung des Besitzes von Vergangenheit in Gruppen sich nicht allein auf orale Traditionen, sondern auch auf schriftliche Überlieferungen bezog. Mit seiner Bevorzugung des vermeintlichen Zeugniswerts schriftlicher Überlieferungen verweigerte Fried das Zugeständnis der Möglichkeit, dass Wahrnehmungen in oralen Traditionen, so diese verfügbar waren, ebenso zuverlässig transmittiert worden sein können. Er ließ hingegen die Möglichkeit in seiner Terminologie »objektiver« (Fried 2004: 106–108, 344) Information nur unter Bedingungen zu, die mit der für das Mittelalter bezeugten Wahrnehmung des Zeitkontinuums von Vergangenheit in Zukunft und dem damit einhergehenden Mangel an Objektivierbarkeit des Wissens von Vergangenheit unvereinbar waren. Gegen die Quellen unterstellte er für alle Epochen vor der Wende zum 19. Jahrhundert die Wahrnehmung von Vergangenheit als getrennt von Gegenwart, die sich stets als Zeitdimension sui generis zwischen Vergangenheit und Zukunft geschoben haben sollte, und verwarf alle von Letzterer abweichenden Vergangenheitswahrnehmungen als unzuverlässig, »von Irrtümern des Gedächtnisses durchtränkt, das Späteres mit Früherem, Eigenes mit Fremdem verschmilzt« (Fried 2004: 35).

Auch Dudo und Saxo bezeugten mit ihren Schriften, dass Vergangenheit nicht als objektivierbar wahrgenommen wurde. Fried (2004: 70), der Dudo keiner Erwähnung für würdig befand und Saxo nur einmal im Kontext der Wiederholung von Kritik am Werk Otto Höflers nannte, verfuhr gegenüber diesen und anderen Zeugnissen der Vergangenheitswahrnehmung wie dereinst Georg Waitz, der aus seiner Untersuchung über die Quellen Saxos die ersten neun Bücher von dessen Werk ausschloss. Denn darin seien, so Waitz (1887: 18), lediglich die der wissenschaftlichen Kritik unzugänglichen »Mythen, Sagen und Lieder des Skandinavischen Nordens« enthalten. Wer sich hingegen auf die zeitgenössische Wahrnehmung eines Kontinuums von Vergangenheit in Zukunft einlässt und fragt, in welchen Typen von Gruppen welche Arten von Erinnerungen an welchen Orten transmittiert werden konnten und wurden, stößt gegen Frieds Skepsis auf eine Fülle von Befunden, die zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert grundlegende Veränderungen der Modalität der Transmission von Wissen von Vergangenheit in Folge des Erlöschens der Fähigkeit und des Willens von Gruppen zur Aneignung von Vergangenheit belegen.

Dudo verfasste seine origo gentis als autoritative Darstellung normannischer Vergangenheit für Herzog Richard I., vielleicht auch für dessen eben geborenen Sohn Richard II. Zwar ist Dudos Erzählung in mehreren Handschriften erhalten, aber zumal die frühen sind lokalen Ursprungs, also nicht zur ubiquitären Verbreitung konzipiert (Lair 1865: 105–110). Die Präsentation einer auf die Vergangenheit bezogenen Erzählung im Medium der Schrift war also an der Wende zum 11. Jahrhundert nicht generell gleichzusetzen mit dem Ziel der allgemeinen Verbreitung. Dudo verfasste seine Erzählung für die herrscherliche Dynastie, die die Verbreitung des Werks nicht förderte, sich aber die von Dudo beschriebene Vergangenheit nicht aneignete. Ähnlich war ungefähr eine Generation zuvor Widukind von Corvey verfahren. Die Zahl der Handschriften seines Werks scheint begrenzt gewesen zu sein, nur fünf sind erhalten, davon eine in einer Kopie des 16. Jahrhunderts. Auch dieser Text entstand also nicht in der Erwartung allgemeiner Verbreitung, und die Ottonen scheinen ihn weder in Besitz genommen noch seine Verbreitung unterstützt zu haben. Die vorhandenen Belege reichen sogar zur Stützung der Vermutung, dass die Ottonen Widukinds Werk mit Skepsis begegneten. Denn die origo gentis, wie Widukind sie präsentierte, war nicht mit dem kollektiven Gedächtnis der Dynastie kompatibel, weil Widukind sich offen gegen die in der ottonischen Haustradition verankerte Ableitung des Sachsennamens stellte. So gab Hrotsvit von Gandersheim in ihrem Preisgedicht auf Otto I. eine Erklärung des Sachsennamens, die sie nach Isidor von Sevilla vom lateinischen Nomen saxum ableitete. In ihrem Kloster Gandersheim stand Hrotsvit dem inneren Kreisen der Ottonen näher als Widukind im fernen, fränkisch ausgestatteten Corvey. Obwohl er für ein prominentes Mitglied der Dynastie schrieb, führte Widukind den Sachsennamen auf den Waffennamen sahs zurück. Es ist unwahrscheinlich, dass unter den Ottonen überhaupt orale Traditionen umliefen, vielleicht sogar gegen Widukinds Annahme, denn Hrotsvit wertete Schriftquellen für die von ihr favorisierte Namensetymologie aus.15 Ein ähnlich distanziertes Verhältnis zur herrschenden Dynastie scheint im Fall Dudos gegeben gewesen zu sein, obschon über Widersprüche zwischen Dudos Narrativ und dem Selbstbild der normannischen Dynastie nichts bekannt ist. Beide Dynastien zögerten, die ihnen dedizierten historiographischen Werke in Besitz zu nehmen. Ein allgemeines, über die Dynastie hinausgehendes, überregionales Interesse an den beiden Werken bestand nicht. Der Gebrauch der Schrift steigerte zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Werke deren Verbreitung nicht.

Ganz anders waren die Bedingungen der Entstehung und Verbreitung von Saxos Werk. Die oralen Traditionen, die er beachtet haben mag, können nur die stirps regia der Skjoldunge betroffen haben, die Skjold nicht nur als heros eponymos, sondern auch als Spitzenahn geführt haben müssen. Saxos origo gentis aber verweigerte Skjold die Position des Spitzenahns und integrierte die skjoldungische Tradition in eine heterogene Sammlung von Namen, die Assoziationen mit Gruppen in verschiedenen Zeitschichten und weit entfernten Teilen der Ökumene vorgaben. Zudem widersprach Saxo dem zeitgleich kursierenden Bericht von der erst sekundär gewonnenen Fähigkeit der Dänen zu autonomer legitimer Gesetzgebung, indem er die Dänen als residentes Indigenat mit langer Dauer ausgab. Saxos Werk erzielte jenseits dieses Indigenats weite Verbreitung (Friis-Jensen 2015: LI f.), war nicht für dessen und schon gar nicht für den Besitz der stirps regia konzipiert. Für sein Werk beanspruchte er zwar Gültigkeit, aber keine Ausschließlichkeit. Saxo trat mit seinem Werk in einen Wettbewerb um die bessere Darstellung der origo gentis der Dänen. In diesem Wettbewerb ging es nicht um Quisquilien, sondern um das Grundproblem, ob das Indigenat der Dänen originär bestanden habe oder aus früherer schwedischer Samtherrschaft abzuleiten sei. Für Saxo war der Gebrauch der Schrift also Mittel zur Partizipation am wettbewerblichen Markt um die adäquate Wahrnehmung und Präsentation von Vergangenheit, um Teilnahme – sit vebia verbo – am Diskurs um die kollektive Identität der Dänen. Wie umkämpft dieser Markt war, ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass noch am Ende des 13. Jahrhunderts die Annales Lundenses verbatim das Chronicon Lethrense zitierten und damit gegen Saxo Stellung bezogen.

Weder Widukind noch Dudo noch Saxo objektivierten die Vergangenheit zu einem von ihrer Jetztzeit scheinbar entfremdeten Gegenstand des Wissens, sondern erwarteten ein Zeitkontinuum, das Vergangenheit in Zukunft übergehen ließ. Für die fernere Vergangenheit lieferten sie Wahrnehmungen, die die kollektive Identität ihrer Zielgruppen bestimmen sollten. Diese Wahrnehmungen waren also keine Resultate »des irrenden, Fehler produzierenden Gedächtnisses« (Fried 2004: 373), sondern reflektierten autoritativ imaginierte Wirklichkeiten. Origines gentium reproduzierten keine Heilsgeschichte, sondern waren partikularistisch, auch wenn sie in Erzählungen ab orbe condito und durch Postulate der Abkunft von Trojanern oder Makedonen in die Universalgeschichte der Ökumene eingebunden waren. Der Vergleich der Werke Dudos und Saxos öffnet den Blick aber nicht nur auf Gemeinsamkeiten, sondern auch auf den Wandel von Vergangenheitswahrnehmungen. Er zeigt, dass zwischen dem endenden 10. und dem endenden 12. Jahrhundert in West- und Nordeuropa Vergangenheitswahrnehmungen frei zu zirkulieren begannen. Nicht mehr Gruppen bestimmten seither über die Vergangenheitswahrnehmungen, sondern Vergangenheitswahrnehmungen wurden Mittel zur Konstruktion kollektiver Identitäten. Diesen Wandel, für die sogenannte Heldensage längst erkannt (Kersken 1995: 823 f.), gilt es für die Kritik an mittelalterlichen historiographischen Quellen und sonstigen Zeugnissen der Erinnerung als Wahrnehmung zu berücksichtigen. Die Historiographie transmittierte Wahrnehmungen, die ihren eigenen Zeugniswert haben, und zwar unabhängig von dem ursprünglichen Medium ihrer Transmission. Die in der historischen Gedächtnisforschung gängige Voraussetzung, dass der Wandel des Transmissionsmediums nur von der Oralität in die Literalität stattgefunden habe, ist unbegründet. Oralisierungen sind nicht nur beim Erzählen des Märchens vom gestiefelten Kater zu erkennen. Das Fortschleppen des Namens Indien für Äthiopien im europäischen kollektiven Gedächtnis ist nicht anders erklärbar denn als Resultat der Oralisierung ursprünglich schriftlich überliefert gewesenen, scheinbar auf Fakten basierenden Wissens.

Literaturverzeichnis

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Fußnoten

1 Die Monografie ist eine Erweiterung früherer erinnerungskritischer Aufsätze: Fried (1986; 1995; 1996). In seinem generellen Verdikt gegen die Zeugnisfähigkeit oraler Traditionen stützt Fried sich auf die hyperkritische ethnologische Traditionsforschung, insbesondere Henige (1971; 1974; 1980; 2016). Nur das erst genannte Werk findet sich in Frieds Literaturverzeichnis. 2 Frieds Kritik der oralen Traditionen blieb in den Besprechungen seines Werks unkommentiert; unter anderen, siehe: Müllerburg 2005; 2010. 3 Sulzer (1825: 30); Grimm (1899: IX); Rehm (1830: 49–51). Später aufgegriffen von Frazer (1998: 37–57); Jensen (1992: 71–124). Zu der Theorie siehe: Ackerman (1991); Brandon (1958). Zu Grimms Begriff der oralen Traditionen siehe: Deneke (1969); Ebenbauer (1988); Renner (2012: 76–84). 4 So beispielsweise: Zylmann (1935); Jankuhn (1939: 99 f.); Hauck (1955); (1965); (1970: 45 f., 94–112); Ranke (1969:106–108); Struve (1986); Connerton (1989: 6–71); Bradley (1991); Sommer (2014: 32–35). Zur Kritik siehe: Buc (2001: 203–247); Drews (2014: 133, 135). 5 Müllerburg (2005) wies mit Recht auf die Bezüge von Frieds Gedächtniskritik zur wissenskritischen Diskursanalyse hin, berücksichtigte aber nicht, dass Diskurse gebunden an Vergangenheitswahrnehmungen sind, folglich kultur- und epochenspezifische Gedächtnisprägungen verursachen können und damit kein »kulturelles« Gedächtnis, sondern einen Kommunikationsraum im Sinn Foucaults bilden. 6 Fried (2004, 289–291) konstatiert zwar das »endlose Fließen mündlicher und schriftlicher Überlieferung im Mittelalter«, begnügt sich aber (291) mit Hinweisen auf Fehlinterpretationen früherer Forschung und bleibt im Bann seines Faktizismus mit der Erwartung, »Gewißheit« über vergangene Begebenheiten sei nur über »eine Vielzahl von Daten« zu erreichen, insbesondere aus der Archäologie. Wo die Gewinnung von Wissen über die Vergangenheit grundsätzliche kognitive und epistemologische Probleme aufwirft, gab Fried quellenkritische Reparaturanweisungen, die in der Warnung vor naivem Glauben an die Faktizität eingestreuter Reden (370) gipfelten. 7 Während Isidors Ableitung des Namens vom lateinischen Nomen saxum, ›Stein‹, den Vorzug hohen Alters hat, findet Widukinds Zurückführung auf den Waffennamen »sahs« Bestätigung in anderen Quellen. Denn Widukind nahm an, dass eine Waffe dieses Namens bei den kontinentalen Sachsen zu seiner Zeit nicht mehr in Gebrauch war, wohl aber auf den Britischen Inseln, und diese Angabe stimmt mit archäologischen Funden überein. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang jedoch der Umstand, dass die Waffe in archäologischen Funden in Gebieten unmittelbar nördlich der Alpen ab dem 5. Jahrhundert nachweisbar ist und von dort aus in Gebieten an der Nordseeküste in den folgenden Jahrhunderten verbreitet wurde. Während also das Wort sahs in Gebrauch gestanden haben mag für einen Dolch oder ein Kurzschwert zu einer Zeit vor Widukind, gibt es keinen Hinweis auf den Gebrauch dieser Waffe durch eine Gruppe mit übergreifender »sächsischer« kollektiver Identität während des 5. und 6. Jahrhunderts. Hingegen scheint die Waffe ein Merkmal des leicht bewaffneten Berufskriegertums gewesen zu sein, das in Schriftquellen generisch aufscheint, ohne Bezug auf ihre jeweilig spezifische kollektive Identität. Mit dem Ende der Sachsenkriege des Frankenkönigs Karl zu Beginn des 9. Jahrhunderts verschwand diese Waffe schlagartig aus dem archäologischen Befund in Siedlungsgebieten der kontinentalen Sachsen. Zu dem sahs siehe: Becher (1996: 38 f.; 1999; Genrich 1977: 525; 1981: 3 f.; Rembold 2018: 1 f.; Steuer 1970: 359–363; Tylecote 1986: 131; Westphal 1991: 359; 2002: 271; 2004: 545). 8 Indem ich dem Wortgebrauch Dudos sowie einiger fränkischer Quellen des 9. Jahrhunderts folge, verwende ich den Namen »Nortmanni« für die Gruppen von Berufskriegern angeblich skandinavischen Ursprungs, einschließlich der unter Hasting und Rollo auf dem Gebiet des fränkischen Königreichs bis in das Jahr 911 operierenden Verbände, wohingegen der Name Normannen Rollos Kriegergruppen und deren Nachfahren seit 911 bezeichnet. 9 Gruppennamen für herrscherliche Dynastien könnten noch im 11. Jahrhundert produktiv gewesen sein, unter ihnen der des genus Inmendingorum für die Verwandtengruppe, der die ältere Mathilde, Gemahlin König Heinrichs I., angehörte, in: Adam von Bremen (1917): Buch II, Kap. 47, S. 107 f. Der Name könnte früher entstanden sein, aber in Adams Werk ist er zuerst belegt. 10 Nach Deut. 32,48–50; 34,1–5 (Berg Nebo); ähnlich bei: Paulus (1878: 90) (Mons Regius = Monte Maggiore). 11 Den englischen König nannte Dudo (1865: 147, 157–160) Alstenus. Die Namensvariante Alstanus für Aethelstan ist belegt bei Flodoard (1905: 63, 72, 73). Da Dudo die militärische Unterstützung durch Alstenus mit der Belagerung von Paris 885–886 in Verbindung brachte, kann er den englischen König Aethelstan nicht gemeint, sondern muss den Vorgang mit Alfred in Verbindung gebracht haben. Auch Aethelstan, angeblicher Bruder Aethelwulfs von Wessex und nach Aethelweard (1962: 39) angeblich um die Mitte des 9. Jahrhunderts Unterkönig in Kent, kommt aus Gründen der Chronologie nicht in Betracht. Von einer englischen Unterstützung der Wikinger während der Belagerung berichtete Abbo (1899: 6–27) nichts. 12 Dudo (1865: 147, 157–160). Die von Dudo verwendete Formel folgt derjenigen, die Widukind von Corvey (1935: Buch I, Kap. 4, S. 5 f.) dem angeblichen sächsisch-thüringischen Vertrag zuschrieb. 13 Chronicon (1917: 43–45); übernommen in: Annales Lundenses (1892: 192 f.) Diese Ableitung des Namens Dänemark findet sich schon bei Guillaume (1992, Buch 1, Kap. 2, Nr. 3, S. 12, 16). Aggo (1642) präsentierte eine ähnliche Erzählung, erwähnte aber Dan nicht. Ebenso: Thietmar von Merseburg (1935: Buch I, Kap. 17, S. 23 f.). 14 Zum Begriff des Indigenats siehe: Warszewicki (1604: 153); Pufendorf (1711: 420); Schlözer (1772: 101, 103); Christian VII. (1776: Art. I., S. 5); Schirach (1779); Brückner (1867: 4–6). Dazu siehe: Burgdorf (2015: 19–29, 197 f.); Grawert (1973: 193–212); Holenstein (1991: 321–384); Strothmann (2019: 347–350, 421–423, 437–441). 15 Isidor (1911: Buch IX, Kap. 2). Widukind (1935: Buch I, Kap. 6, S. 7). Isidors Etymologie wurde aufgenommen von Hrotsvit von Gandersheim (1902: V 5–8, S. 204 f.), Annales Holzatiae (1869: Kap. 8, S. 257). Zu Anlage von Widukinds Res gestae und deren Abweichung von der politischen Strategie der Ottonen siehe: Beumann (1972).