Andrea Allerkamp/Sarah Schmidt (Hg.) (2021): Handbuch Literatur und Philosophie. Berlin, Boston: De Gruyter (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, hrsg. von Claudia Benthien, Ethel Matala de Mazza und Uwe Wirth, Band 11), 623 S., ISBN 978-3-110-48117-4. Eine Rezension von Melanie Reichert
Verhältnisbestimmungen deuten zunächst auf eine Krise hin. Sie manifestieren sich nämlich da, wo Konturen verschwimmen und somit fraglich werden. Für kulturelle Formen bedeutet dies, dass ihre Profile nicht mehr evident sind, ihre Relevanz und epistemische Wirkmächtigkeit nicht mehr unmittelbar gegeben scheint. Man muss sich orientieren. Von genau dieser Krise sind Literatur und Philosophie in den letzten Jahren zunehmend erfasst worden. Als deren Ausdruck lassen sich zwei Phänomene identifizieren, die – mit unterschiedlichen Vorzeichen – sowohl Literatur als auch Philosophie betreffen: So hat eine zunehmende Betonung des Singulären, wie sie in den philosophisch-literarischen Randgängen von beispielsweise Adorno, Barthes oder Lyotard vorgenommen wird, die Frage verschärft, was überhaupt noch philosophisch thematisierbar sein kann.
Gleichzeitig lässt sich eine Überbetonung des Nützlichen beobachten: Während sich die Methoden und Darstellungsformen der akademischen Philosophie mehr und mehr den Gepflogenheiten eines verkürzt verstandenen Wissenschaftspositivismus anzunähern scheinen, sieht sich die Literatur, zusammen mit anderen Künsten, zunehmend mit der Erwartung gesellschaftlicher Nutzbarmachung konfrontiert – sei sie epistemisch oder politisch grundiert, Kunst ›als Wissenschaft‹ oder ›als politisch‹ verstanden. Es bleibt zu fragen, ob hierbei nicht spezifische widerständige Potentiale von Philosophie und Literatur unterschlagen werden, die vielleicht gerade in der Fähigkeit zum dialektischen Bruch mit dem epistemisch und politisch-moralisch Gewohnten bestehen. Die Subversivität solcher Interventionen bestünde dann darin, dass sie indirekt und ergebnisoffen verlaufen, sich also wissenschaftlichen und politischen Nutzenerwägungen entziehen.
Nicht nur, weil sie sich das Medium Sprache teilen, sondern vor allem in dieser dialektischen Offenheit sind Literatur und Philosophie verschwistert. Das von Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt herausgegebene Handbuch Literatur und Philosophie verfolgt das anspruchsvolle wie überfällige Projekt einer zeitgenössischen Befragung des Verhältnisses beider Phänomene. Dabei bietet es eine Fülle an Angeboten zur Reflexion wissenschaftsgeschichtlicher Situierungen von Fragestellungen und Relevanzbehauptungen. Unterteilt ist das Handbuch in vier Abschnitte. Der erste Teil bietet zwei einführende Texte der Herausgeberinnen, in denen der Problemkomplex sowie inhaltliche Entscheidungen und systematische Ansprüche offengelegt werden. Hier wird das Verhältnis von Literatur und Philosophie jeweils akzentuiert befragt, ohne Zuflucht zu simplen, schablonenhaften Frageschemata und Übertragungen zu suchen.
Schmidt1 problematisiert offen eine Verschränkung von Kunst und Wissenschaft aus institutionspolitischen Gründen. Es wäre hierbei aber zu einfach, das Verhältnis von Literatur und Philosophie auf eine solche Dichotomie zurückzuführen. Es ist eine Stärke des Bandes, dass er an solchen Stellen auch institutionspolitisch heikle Fragen aufwirft, etwa die Frage nach der Setzung, es handele sich bei der Philosophie um eine Wissenschaft2 – die weder selbstverständlich noch in der Tradition unwidersprochen dasteht.
So wird schnell klar, dass das Handbuch eine hochkomplexe Konstellation in den Blick nimmt. Demgemäß kann ein solches Unterfangen gar nichts anderes sein als eine wohlreflektierte Heuristik. Eine präzise Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Philosophie ist kaum möglich, daher versteht sich das Handbuch zurecht vielmehr als eine thematisch gerahmte Befragung eben dieses Verhältnisses. Allerkamp verweist in ihren einleitenden Bemerkungen mit Recht darauf, dass diese »immer nur im Modus des Exemplarischen«3 erfolgen kann. Diese methodische Ausrichtung und Begrenzung ist zu begrüßen, handelt es sich bei literarischen Texten doch um singuläre Kunstwerke.
Zum anderen verweist das Handbuch gerade durch seine methodische Anlage auf den prekären Status philosophischer Systematizität. Dementsprechend spüren die thematisch vielfältigen, gleichwohl didaktisch sorgsam gerahmten Untersuchungen des Bandes der Spannung von Nähe und Abgrenzung sowie dem Reichtum der Formen nach, in denen das Verhältnis von Philosophie und Literatur erscheint. Als dramaturgisch interessant wie hilfreich erweist sich dabei besonders die »trichterförmige Struktur«4 des Handbuchs, das vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet und dadurch weder die Eigensinnigkeit des Literarischen preisgibt noch die – behelfsmäßige wie unverzichtbare – Systematizität des Philosophischen. Dies alles erfolgt mit dem Ziel eines »Nebeneinander«5, das sich eher dem Verfahren des Sammelns in der Tradition Alexander Gottlieb Baumgartens verpflichtet weiß als der vermeintlichen Geschlossenheit definitorischer Ansätze.
Der zweite Teil des Handbuchs bietet Auseinandersetzungen mit Form und Funktion von Literatur unter Zuhilfenahme thematischer Einklammerungen. Hilfreich ist, dass diese jeweils in kleinen Einleitungskapiteln dargestellt werden. Hierzu gehören die Komplexe Ästhetik und Epistemologie, Modi von Wirklichkeit, Wahrscheinlichkeit und Fiktion sowie das Verhältnis von Rhetorik und Poetik. Außerdem behandelt wird der Bezug von Literatur zu Vernunft und Wissen sowie zu Ethik und gesellschaftlicher Praxis.
Der dritte Teil des Bandes wirft Schlaglichter auf literarische Formen, die sowohl für die Philosophie als auch für die Literatur relevant sind. Hier zeigt sich dann stärker sein Handbuchcharakter. Literarische Formen wie Brief, Essay, Utopie werden mit Blick auf ihre »epistemische Relevanz«6 und ihren didaktischen Charakter untersucht.
Der letzte Teil des Handbuchs stellt die Frage nach der Philosophie ins Zentrum. Er präsentiert eine Sammlung von Detailstudien, die entlang der paradigmatischen Fluchtlinien von Philosophie über, als und in Literatur organisiert ist. In diesem Vorgehen reflektiert eine entscheidende Herausforderung: Zum einen gibt es nicht »die Literatur«, genauso wenig sind aber zum anderen kleinteilige »philologische Monologe«7 zielführend.
Die Beiträge innerhalb des Handbuchs werfen einen differenzierten Blick auf das Verhältnis von Literatur und Philosophie als zwei Formen des Weltbezugs. Das betrifft glücklicherweise auch Zuschreibungen, die häufig an beide herangetragen werden. So wird öfter ein vermeintlicher Herrschaftsanspruch der Philosophie thematisiert, eine derzeit beliebte Diagnose, die sich mit Blick auf den Formenreichtum der Tradition durchaus in Frage stellen lässt. Es bleibt angesichts solcher Unterstellungen kritisch zurückzufragen, was es über die Philosophie und ihren vermeintlichen Anspruch auf das letzte Wort aussagt, dass sie sich immer wieder literarischer, also epistemisch widerständiger Formen bedient. Zudem kann auch Philosophie nicht als Monolith betrachtet werden, was besonders Björn Hambsch und Schmidt hervorheben.8 Um Einseitigkeiten zu vermeiden, hätte sich auch eine Kritik der Institutionen und ihrer Produktionsmodi an beide Formen zu richten.
Besonders an diesen systematischen Stellen zeigt sich das Potential der historischen Betrachtungsweise, die sich in vielen der Artikel findet. Der Blick in die Geschichte bewahrt oftmals davor, Fronten zu vermuten, wo gar keine sind, wie etwa Sophie Witt9 mit Bezug zum ethical turn zeigt. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Artikel zu größeren Problemkomplexen wie beispielsweise zu Vernunft und sinnlicher Erkenntnis oder zum Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion. Autorinnen und Autoren wie Hans Adler und Angela Gencarelli gelingt es, die Balance zwischen historischer Tiefenbohrung und sehr gut greifbarer Überblicksdarstellung zu halten.
Das Handbuch zeigt sich durchgehend der Einsicht verpflichtet, dass sich keine klaren Grenzen zwischen Philosophie und Literatur ziehen lassen. So helfen die kleineren Einzelstudien im letzten Teil des Bandes durch ihren Sammlungscharakter dabei, auch die Trennung der beiden historisch und kulturell zu situieren. Dazu zeigen sie eine variantenreiche Spannung aus Methodenreflexion und der Performativität des »telling und showing«10 etwa bei Friedrich Nietzsche, Michel de Montaigne und Konfuzius.
Sich der historisch und systematisch aufweisbaren Diffusion von Philosophie und Literatur verpflichtet zu sehen, muss aber keinesfalls in die Undeutlichkeit führen, wie der Band sehr schön zeigt. Es kommt nun vielmehr auf gestalterische Entscheidungen an: So sind Assemblage und Figuration, Verfahren des Hervortretenlassens also, seine methodischen Prinzipien. Das ist auch inhaltlich konsequent: Sich über die Literarizität der Philosophie aufzuklären und literarische Formen als nicht-propositionale Erkenntnisformen ernst zu nehmen, beinhaltet immer auch die Einsicht in die prinzipielle Fragwürdigkeit abgeschlossener Erkenntnis. Eine Nähe von ästhetischer und wissenschaftlicher Form zu behaupten, erschöpft sich keinesfalls in den Feststellungen, die Kunst gehe auch experimentell vor oder ›generiere‹ Erkenntnisse. Die epistemologische Provokation des ästhetischen Denkens liegt darin, auf die wesentlich behelfsmäßigen Konfigurationen unseres Welterkennens zu zeigen – um gerade darin zu einem Staunen zu finden. Eben damit aber wird dieses Denken auch zu einer ethischen Provokation: Es konfrontiert mit der Unabweisbarkeit gestalterischer Verantwortung. Dazu mag die Einsicht gehören, dass bestimmte Entscheidungen gerade nicht im Raum von Kunst und Philosophie getroffen werden können – weil beide nämlich Verfahren sind, die Dinge zunächst einmal in die Schwebe zu bringen.
Ungefragt bleibt bei all dem allerdings, was der Einsatz eines nicht empirisch fundierten, begrifflich-argumentativen Denkens sein könnte, warum sich also die Literatur, wie überhaupt die Künste, zur Philosophie hingezogen fühlt. Gegenwärtige Verkaufszahlen legen den Schluss nahe, dass die Literatur eine unterstellte epistemische Aufwertung durch das Anschmiegen an die Philosophie am Ende gar nicht nötig hat. Nicht nur wirtschaftlich steht die Siegerin fest. Es wäre also weitergehend zu fragen, ob es einen genuinen Einsatz des philosophischen Denkens gibt, der sich vielleicht gar in Abgrenzung zum künstlerischen und wissenschaftlichen Denken fassen lässt. So verweist Dirk Quadflieg in seiner Studie zu Nietzsches Aphoristik auf die größere Hermetik des Literarischen11. Zu dieser hätten sich dann, geht man weiter, auch Erwartungen an die gesellschaftliche Interventionskraft der Literatur zu verhalten. Die Frage einer positiven Abgrenzung auch der philosophischen Form könnte mit nun verändertem Blick auf die eigenen Begrenzungen neu gestellt werden, zumal aus den genannten Gründen der Befund naheliegt, dass sich die Philosophie gegenwärtig in einer viel größeren Krise befindet als die Literatur.
Was die Literatur für die Philosophie leisten kann, erweist sich auch im Handbuch Literatur und Philosophie als einfacher zu beantworten. Sie kann ihre Schwesterdisziplin dazu erziehen, nicht mehr »philosophisch zu belehren«, sondern sich einzulassen auf ein »freies Spiel«, in dem Verstehensbrüche als lustvoll erfahren werden können.12 Möglicherweise, so schreibt Allerkamp, ließe sich »aus diesem Lustgewinn selbst wiederum [ein] Erkenntnisgewinn« ziehen – ein Gedanke, den übrigens Barthes, einer der großen Balancekünstler zwischen Philosophie und Literatur, von Brecht übernimmt.13
Die Möglichkeit, eine solche lustvolle Schwebe herzustellen, liegt in der Ästhetizität des Literarischen begründet, wie besonders das Kapitel zur sinnlichen Erkenntnis zeigt. Steffi Hobuß verdeutlicht hier, wie die philosophische Phänomenologie und Literaturtheorie das Ästhetische im 20. Jahrhundert mehr und mehr in seiner Ambiguität fassen.14 Was könnte es bedeuten, diese Ambiguität des ästhetischen Mediums Sprache einmal als Chance zu begreifen? Es könnte bedeuten, unter dem Druck des Nützlichkeitsparadigmas und des Meinungsmarktes zu Räumen zurückzufinden, in denen zur Abwechslung einmal nichts entschieden werden muss, keinerlei Stellung zu beziehen ist und in denen man sich doch vom Text ›gemeint‹ weiß. Um dieses Potential der Literatur – wie einer sich stärker literarisch begreifenden Philosophie – einzulösen, um die Schwebe der epoché aushalten zu können, dazu bedürfte es allerdings einer »Kunst der Auslegung«15, die sich den Luxus des Behelfsmäßigen leistet. Dass uns eine solche wieder vermittelt werde, das könnte – auch angesichts der gegenwärtigen Tristesse akademischer Schreibformen – doch mal ein echtes politisches Programm werden. Das Handbuch Literatur und Philosophie empfiehlt sich Interessierten dadurch, dass es nicht nur die systematisch sorgsam kuratierte, höchst aufschlussreiche Sichtung eines komplexen Verhältnisses bietet. Es regt auch ein tieferes Nachdenken darüber an, welche kulturellen Tatsachen mit dem Anerkennen der Verschwisterung von Literatur und Philosophie herausgefordert werden.
Literaturverzeichnis
Fußnoten
1 Schmidt, Sarah (2021): Grenzräume – Grenzverhandlungen. Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Philosophie und Literatur. In: Allerkamp, Andrea/Schmidt, Sarah (Hgg.): Handbuch Literatur und Philosophie. Boston: De Gruyter, S. 27. 2 Hierauf macht Schmidt mit Verweis auf Christiane Schildknecht aufmerksam, ebd. S. 26. 3 Allerkamp, Andrea/Schmidt, Sarah (2021): Vorbemerkung, ebd. S. 3. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. S. 4. 7 Allerkamp, Andrea (2021): Literatur und Philosophie: Urszenen, Konstellationen, Anekdoten und Bilder. In: ebd. S. 9. 8 Hambsch, Björn (2021): Rhetorik und Poetik. Einleitung. In: ebd. S. 104. Außerdem Schmidt: Grenzräume – Grenzverhandlungen, S. 25. 9 Witt, Sophie (2021): Literatur und Ethik. Einleitung. In: ebd. S. 218f. 10 Specht, Benjamin (2021): Konfizius: Gespräche. In: ebd. S. 460 (Herv. i. O.). 11 Quadflieg, Dirk (2021): Nietzsche: Aphorismen. In: ebd. S. 483. 12 Allerkamp: Literatur und Philosophie, S. 10. 13 Allerkamp ebd. Roland Barthes scheibt in Die Lust am Text: »Sich eine Ästhetik ausdenken, (wenn das Wort nicht zu sehr entwertet ist), die restlos (vollständig, radikal, in jeder Hinsicht) auf der Lust des Konsumenten beruhte, wer er auch sei, welcher Klasse, welcher Gruppe er auch angehörte, ohne Ansehen der Kulturen oder Sprachen: die Folgen wären enorm, vielleicht sogar umwerfend (Brecht hat solch eine Ästhetik der Lust entworfen; von all seinen Vorschlägen vergißt man diesen am häufigsten).« (Barthes, Roland (2010): Die Lust am Text, aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 87) Und bei Brecht heißt es: »Es ist nicht genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse, aufschlussreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser Theater muss die LUST am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren.« (Brecht, Bertolt (1994): Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe hg. v. Werner Hecht, Bd. 25. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 428.). 14 Hobuß, Steffi (2021): Die Literatur und die Lüste: Phänomenologie der Sinne und die Frage nach der Erkenntnisfunktion von Lachen, Komik, Lust und Begehren. In: ebd., hier bes. S. 65. 15 Quadflieg: Nietzsche, S. 483.