Björn Bertrams/Antonio Roselli (Hg.) (2021): Selbstverlust und Welterfahrung. Erkundungen einer pathischen Moderne. Wien, Berlin: Turia + Kant, 431 S., ISBN 978-3-85132-993-3. Eine Rezension von Massimo Palma

Gibt es die Möglichkeit, eine echte Erfahrung der Welt zu machen, ohne das betrachtende Selbst damit zu verlieren? Diese Grundfrage ruft eine Reihe komplizierter Antworten hervor, die in der Durchkreuzung verschiedener Disziplinen – Anthropologie, Ethnologie, Philosophie, Soziologie – wissenschaftliche, aber auch literarische Implikationen aufweisen. Und tatsächlich: »Die affektive Dimension des Selbstverlusts lässt sich schwerlich auf der Basis ideenhistorisch tradierter Formen des Aktivseins (Können, Vermögen, Willenskraft, Handeln) erfassen« (S. 12). Das bedeutet, dass die Kategorie der Passivität die drei Hauptteile dieses von Björn Bertrams und Antonio Roselli herausgegebenen Buches mit all ihren Aufsätzen beherrscht. Zwischen einer kontemplativen und einer aktiven Haltung gibt es – so die Herausgeber – immerhin eine weitere Dimension, die die philosophische Anthropologie erst im letzten Jahrhundert mit Aufmerksamkeit beobachtet hat. (Aufmerksamkeit: was für ein ›topos‹, was für eine räumliche Grundhaltung und sogleich was für ein deiktischer Hinweis auf eine chora, eine Leere, die nicht zu erfüllen, sondern zu akzeptieren ist, wie sie ist). Der Begriff ›Passivität‹ verweist dabei auf ein semantisch breit kodiertes Feld für eine »post-praxeologische« Reflexion, die den »Heteronomieaspekt menschlichen Tuns« (Bertrams, S. 23) zu unterstreichen vermag: Das heißt, einige Kriterien zu finden, die das soziologische Diktat der Zentralität des sozialen Handelns – in ihrem willkürlichen Sinn verstanden – in eine theoretische Perspektive umkehren können, die es ermöglicht, das soziale Leben als passives zu betrachten.

Welche Zugänge zur Passivität zeigt der vorliegende Band auf? Und welches politische Potential beinhalten die unterschiedlichen passivitätstheoretischen Ansätze? Das Buch skizziert drei verschiedene Gebiete möglicher Antworten, die in drei Sektionen gegliedert sind. Die erste, ›Pathos und Ethos‹, rekonstruiert »Kategorien wie Praxis, die Trias von vita activa, vita contemplativa und vita passiva, aber auch Formen der Selbstlosigkeit und der Selbstbehauptung« (S. 13), stets von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet. Die zweite, ›Sensorik und Ästhetik‹, »setzt bei den Phänomenen des Selbstverlusts an, um deren körperliche, sinnliche und ästhetische Dimension auszuloten« (S. 13). Im dritten Teil, ›Grenzerfahrung und Erkenntnis‹, werden die »unterschiedlichen Bezüge, die zwischen Grenzerfahrung und Erkenntnis bestehen« (S. 13), bei Gelehrten und Schriftsteller*innen untersucht, die über Fragen der ethnologischen Feldarbeit und ihre ethische Reflexivität nachgedacht haben. Das Thema der (zugleich theoretischen und poetischen) Produktivität des Zustands des Loslassens stellt dabei den Grundgedanken dar, der die verschiedenen Beiträge durchzieht.

Die siebzehn Autor*innen dieses vierhundertseitigen Bandes versuchen nicht nur, wie Joachim Fischer es in seinem Beitrag tut, die Phänomene der vita passiva als zentrale Ereignisse des täglichen Lebens und des Selbstverhältnisses aufzulisten – Atmung, Digestion, Schlaf, Schmerz, Lachen und Weinen, Erotik und Ekstatik, Gebären und Geborenwerden, Wachstum und Reifung, Affekte, Passionen, Leidenschaften, Widerfahrnis des Anderen, Musik und Tanz, Sterben, Träumen, Meditation, Kreativität (eine gewiss heterogene, doch komplex durchdachte Liste). Das Ziel ist es auch, eine »Ausrichtung des Praxisvokabulars auf die materiellen und körperlichen Aspekte des Sozialen« vorzunehmen (Bertrams, 49). Was kann eine solche Ausrichtung bedeuten? Eine philosophische Wende heraus aus der Moderne, wenn, so Oliver Precht ausgehend von Bruno Latour, »die Welt der Modernen, die sich (fast) über die gesamte Oberfläche des Planeten erstreckt, verloren [ist]« (S. 71)? Würde die Perspektive dieses Sammelbandes lediglich einen weiteren Schritt jenseits des Diskurses der Neuzeit darstellen, wäre das möglicherweise auch interessant, aber nicht so originell. Der Kern des Buches liegt hingegen darin, dass das Passive umgewertet werden soll, um es so für erkenntniskritische und politische Kräfte zu gewinnen. Wie Héla Hecker in ihrem Beitrag über Hannah Arendts The Human Condition schreibt, ist »einerseits Handeln eine wundersame Kraft, andererseits eine zu erleidende Macht« (S. 133). Überdies ist der Handelnde selbst wie seine Mitmenschen den Folgen seines Tuns stets ausgesetzt: »[G]‌egen die Konsequenzen seiner beginnenden Tat ist auch er nicht gefeit« (S. 141). Passivität steht also gleich am Anfang.

Eine der Grundhypothesen des ganzen Sammelbandes dreht sich um die sozialen Folgen des ›Ichverlusts‹. Sandra Janssen demonstriert in ihrer parallel geführten Analyse von Sartre und Hermann Broch, dass »in der tiefsten Schicht, die Broch als den ›Ur-Humus‹ der menschlichen Seele bezeichnet, […] auch zwischen subjektivem und Massen-Erleben nicht mehr unterschieden werden« kann (S. 163). Die Ambivalenz einer solcher Vorstellung der individuellen Auflösung in der Masse lässt sich bei totalitären Herrschaftssystemen leicht auffinden. Man könnte hinzufügen, dass auch liberale Demokratien die Aufgabe haben sollten, von ihrem Standpunkt aus »die Reihe der politischen ›Selbstlosigkeits‹-Beispiele« (S. 167) zu behandeln. Wenn man passive Stimmungen in sozial bedingten Situationen (›Situativität‹) sucht, findet man sie natürlich nicht nur in totalitären Landschaften, sondern auch in formell demokratischen Systemen, die die Massen durch Medien leiten und unterschiedliche Schichten der Passivität mit allerverschiedensten Techniken bewältigen. Solche Techniken agieren aber nicht mehr mit Wörtern, sondern mit Bildern.

Wie Martin Treml in seinem Aufsatz über Aby Warburgs Bilderatlas bemerkt, handelt es sich bei diesem Atlas um einen Abschied vom Logozentrismus (und Aktivismus): »davon entbindet uns das Kino ebenso wie der Bilderatlas, freilich auf eine unverantwortliche Art, die jedoch wie in der Psychoanalyse die freie Assoziation befeuert und neue Erkenntnisse gewinnen lässt« (S. 275). Einen Bilderatlas im kunst- oder ideengeschichtlichen Sinn zu bilden und zu ordnen, heißt, ein Reich der freien Assoziation zu legitimieren, eine bricolage im Sinne vom ›wilden Denken‹ Lévi-Strauss’. Die Montage – so könnte man sagen – ist die genuine Kehrseite der passiven Haltung – wie es schon der Surrealismus postuliert und ausgeübt hatte, wenn auch mit einem Akzent auf dem ›Automatismus‹ des Unbewussten, der heute, fast ein Jahrhundert später, nicht mehr so eindeutig wirkt. So machen die Nachwirkungen des Surrealismus in den verflochtenen Gebieten der Literatur und Anthropologie einen weiteren Leitfaden des Buches aus (siehe etwa, wie Elisabeth Heyne die »fiktionale Wissenschaft des Selbstverlusts« (S. 173) in einer Schlüsselfigur wie Roger Caillois betrachtet, der als junger Surrealist nicht ohne gute Gründe von Walter Benjamin stark kritisiert wurde).

In der Zeit, die solche Folgen des surrealistischen Denkansatzes thematisiert, werden Anthropologie und Ethnologie zum Reich bilderstürmerischer Mächte. Man wird nämlich weder ein Bild des ›Anderen‹ so aufrechterhalten können, wie es am Anfang einer ethnologischen Forschungsreise war, noch das Bild von einem erklärenden, festen, neue Welten entdeckenden Selbst. Aber das Bewusstsein von der Unausweichlichkeit der Selbstentfremdung während ethnographischer Erkundungsreisen bedeutet nicht nur, wie Rosa Eidelpes mit Recht betont, eine selbstreflexive und zeitweise literarische Bewegung »gegen das dominante, europäische und eurozentrische Hegelsche Modell der Subjektwerdung« (S. 310), sondern auch eine neue Beziehung zum Sich-Selbst-als-schreibendem-Subjekt. Das illustriert zum Beispiel Michel Leiris’ L’Afrique fantôme, aber auch seine fiktionale Biographie des Selbst seit L’Age d’Homme. Wie Elisabeth Heyne in ihrem Beitrag suggeriert, ist die Rolle der Fiktion nicht nur ein ›erzählendes‹ Mittel oder narratives Surrogat der (anthropologisch bestimmten) Wissenschaften: Die Strategie eines Roger Caillois »ermöglicht« nämlich, »einen Blick auf die fiktionale Rückseite wissenschaftlicher Praktiken zu werfen« (S. 175). Erzählte Depersonalisierung und innere Auflösung können den Lesenden helfen, den Wechsel der hier zu verfolgenden Logik gegen den ›Parasiten‹ schließlich zu erkennen: Caillois’ Verfahren erlaubt den »Bewusstseinstausch zwischen Gast und Wirt« (S. 189), als analogen Schritt zu demjenigen zwischen Selbst und Anderen, Kultur und Wildnis, Fiktion und referenzieller Wirklichkeit in einem Text, auch wenn dieser wissenschaftlicher Natur ist. Es dreht sich nicht nur darum, literarische Taktiken auszuarbeiten, die in der Lage sind, die Wahrheit durch textuelle Fäden zu enthüllen, sondern auch um implizite oder explizite Strategien, wie Michel Foucault sie in seiner allerletzten Vorlesung am Collège de France (Der Mut zur Wahrheit) verfolgt: um eine Technik der gesagten, erlebten, eingeübten Materialität, wie sie im kynischen Gedanken sichtbar wird (was Kathrin Busch glänzend als »Athletik des Verworfenen« definiert, S. 215). Ein solches Verfahren kann schließlich ein Wissen produzieren, das nicht durch Willen und Macht beherrscht wird, sondern eher von der Sorge um eine ›physische‹ Wahrheit.

Wenn »die Selbst-Entfremdung der Ethnograph*innen […] so rückwirkend vor allem zur Ressource der affektiven, poetischen und epistemischen Selbsterneuerung [wird]« (S. 318), ändert sich dabei auch die epistemologische Frage der Schreibweise. Wie kann die Erzählung der Begegnung mit dem Anderen de facto funktionieren, wenn sie keine Entäußerung vorschreibt, sondern nur eine mimetische, und doch kontrollierte – man könnte auch sagen: technische – Restitution des Selbstverlusts in der Begegnung suggeriert? Das kann nicht nur auf etwas wie Hubert Fichtes ›tranceartiges Schreiben‹ hinauslaufen, dem sich Rosa Eidelpes widmet. Auch Volker Gottowik betont in seinem Beitrag, dass die Anderen zu erzählen ein Selbstgefühl als Fremde‍(r) impliziert: »dieses semantische Feld handelt von Flucht, Exil, Heimatlosigkeit, Immigration und Marginalität, und aus diesem Feld ragt leitmotivisch die rhetorische Figur des Ethnologen als Fremder heraus« (S. 323). Eine solche mise-en-question des Subjekts ist nicht identisch mit seiner Erlöschung. Es ist vielmehr, wie Thomas Reinhardt in seinem kurzen, doch akuten Beitrag über ›Fremdheit und Selbstverlust als epistemisches Prinzip‹ schreibt, eine Art von doppeltem Blick: »Ethnolog*innen schauen nicht nur auf ihren Forschungsgegenstand, sie werden von diesem angeschaut« (S. 350). Ethnologische Erkenntnis – so Gottowik, indem er Tobias Schneebaums ›skandalöse‹ Reportage seiner anthropophagischen und homosexuellen Erfahrungen bei den ostandinen Akarama mit Clifford Geertz’ Rat folgt, ›kein Eingeborener zu werden‹ – ist sicherlich auf »mimetischen Verfahren begründet«: So etwas bedeutet, wie im Beispiel Schneebaums, einen »methodisch herbeigeführte‍[n] Selbstverlust« (S. 332).

Der Band endet mit drei Essays über zwei italienische Autoren aus der Nachkriegszeit, Carlo Levi und Ernesto de Martino. Rosemary Snelling-Gőgh diskutiert »die Blickumkehr«, die »Levi selbst zum Beobachteten« macht. Die passio wird somit zum hermeneutischen Schlüssel in Levis ›Christus kam nur bis Eboli‹, wo nämlich »die überwältigende Wirkung der Passivität […,] sich als passio im Text zu konkretisieren«, scheint (S. 373). Es handelt sich um einen grundlegenden Versuch, den bloßen Selbstverlust zu überwinden: Snelling-Gőgh spricht vom »aktiv poietischen Kampf« Levis: »[D]‌ie ästhetische Affizierung durch den Text im Sinne einer Passivitätserfahrung in Sprache und deren aktive Reflexion sollen beim Leser zu einer Form von integrierender Erkenntnis und zu einer grundsätzlichen Selbsterweiterung führen« (S. 376). Es gibt doch künstliche, oder besser künstlerische, Gelegenheiten, Verwandtschaften zu schaffen zwischen Autoren, Gegenständen und Lesern. Selbstverlust kann identisch mit Selbsterweiterung sein, entindividualisierende Riten und Techniken können poiesis und praxis verschmelzen – kurz gesagt: zur Erkenntniserweiterung einladen.

Der Zusammenhang von Selbstverlust und Selbstgewinn ist das grundlegende Paradox, das dieser Sammelband entziffern will. In Ulrich van Loyens Beitrag über den »Schamanismus von Elias Canetti und Ernesto de Martino« ist die schamanische Reise eine ›Methode‹ für eine eigenartige Macht, nämlich die der Angleichung an die Toten: »die Toten für die eigenen Zwecke zu beschwören, sie zu einem Heer von Toten abzurichten, die auf eigenem Befehl die Erde und die Menschen heimsuchen werden« (S. 387). Während die Massen von Canetti nie dämonisiert, sondern studiert, in ihren Grundelementen analysiert werden, lässt sich bei de Martino, wo das Wort ›Masse‹ kaum vorkommt, van Loyen zufolge die Masse als Problem fokussieren: das Problem einer ›niederen‹ Dunkelheit gegenüber dem sozusagen ›aufklärerischen‹ Blick des Kulturhelden, des Schamanen (im Hintergrund, des Anthropologen selbst?), der das Drama des Präsenzverlusts kontrolliert (S. 397).

Auch in Antonio Rosellis Annäherungen an Ernesto de Martinos ethnologische Versuche rückt dasselbe Paradox in den Vordergrund: den Kontrollverlust zu kontrollieren, die katabasis in die Hölle rituell zu bewältigen, das Negative der absentia zu nennen, um die ›presenza‹ (die Präsenz, die ontologisch und existentiell gerichtete Grundkategorie de Martinos) neu zu gewinnen. Seit Platons katabasis ins Piräus am Anfang der Politeia (eine referentielle Präfiguration des Höhlengleichnisses im Siebenten Buch) ist jeder philosophische Versuch stets fähig, von seinem Vorhaben des Sich-selbst-Verlierens zu erzählen. Dennoch bleibt in de Martino die Absicht bestehen, diese Erfahrung »auf eine tieferliegende Rationalität zurückzuführen« (S. 420), um so die Krisenmomente zu behandeln und die Ergriffenheit zu überwinden. Das eigentlich Menschliche bedeutet im Grunde genommen – so de Martino – eine kulturelle Disziplinierung der Passivität.

Dieses Buch, wenn man ihm eine definitive Formel entnehmen möchte, lädt zu einer Reformulierung der Kategorie des Habens ein. Haben als ›Gehabt-Werden‹, Besitz als Besessenheit ist, Canetti zufolge, etwas mehr als Angst oder Ekstase. Es ist etwas wie Geduld, geduldige Analyse, erzählende Montage von Fragmenten eines zwar passiven, aber stets aufmerksamen Selbst, das in der labilen Kluft zwischen ratio und passio lichte und dunklere Seiten immer noch unterscheiden kann. Eine wissenschaftliche und literarische Disziplinierung des Dazwischen ist genau das, was eine Inszenierung der Selbstvergessenheit bedeuten soll. Dieses Buch liefert dafür eine Anleitung.