Nicole Rettig: Kunststoffliteratur
Abstract: Obwohl Plastik viele Vorteile hat, konnte es sein schlechtes Image nie ganz abschütteln. Doch noch nie zuvor stand das Material so sehr unter Beschuss wie zurzeit. Ausgehend von gegenwärtig geführten Kunststoffdebatten werden in einem schnellen Durchlauf einige einschlägige Publikationen zur Thematik vorgestellt. Anschließend wird der Korpus der noch zu schreibenden (deutschsprachigen) Literaturgeschichte der Kunststoffe in groben Zügen abgesteckt. Im letzten Teil wird anhand des Romans Alles Plastik (1998) von David Flusfeder vorgeführt, wie ›literarische Kunststoffbearbeitung‹ aussehen kann.
Although plastic has many advantages, it has never quite been able to shake off its bad image. But never before has the material been under so much fire as it is right now. Starting from current plastic debates, a few relevant publications on the subject are presented in a quick run-through. Subsequently, the corpus of the yet-to-be-written history of (German) literature on plastic is outlined in broad strokes. In the final section, the novel Alles Plastik (1998) by David Flusfeder is used to demonstrate what ›literary treatment of plastics‹ might look like.
Keywords: Plastik, Kunststoff, Literaturwissenschaft, Design, Materielle Kultur
1. Plastik – ein brisanter Stoff
Plastik ist in aller Munde, möglicherweise als Zahnfüllung aus Kunststoff, vielleicht aber auch in Form von Wegwerfartikeln wie Plastiktrinkhalmen, die seit dem 03.07.2021 in der EU weder produziert noch verkauft werden dürfen1 und daher nur mehr als Restbestände in Haushalten kursieren. In erster Linie wird hier jedoch auf die omnipräsente Kritik an einem Material angespielt, welches die Welt in den vergangenen Jahrzehnten in einer atemberaubenden Geschwindigkeit eroberte. Dabei hatte es Kunststoff selten leicht. Stets gab es Vorbehalte gegenüber diesem Werkstoff, der doch eigentlich unheimlich vielseitig und ungeheuer praktisch ist. Gerade die Publikationen der frühen Jahre des Kunststoffbooms zeichnen sich durch einen euphorischen Grundton aus. So sprach etwa der Chemiker Karl Mienes in seiner Begeisterung für das schillernde Material vom »Plasticaeum«,2 also vom Kunststoffzeitalter. Inzwischen sind die Zeiten, in denen mehr oder weniger unbeschwert und frei mit Plastik hantiert wurde, unzweifelhaft vorbei, denn so viele Vorteile Kunststoff auch hat, die Nachteile wiegen schwer: Aus Erdöl, Erdgas oder Kohle produziert und mit allerlei chemischen Zusatzstoffen versehen, gelangt es in unzähligen Formen in den Warenkreislauf. Manches davon landet auf einer der zahllosen Mülldeponien, anderes wird illegal entsorgt, achtlos auf die Straße oder in die Landschaft geworfen. Die Plastikströme, ob frei flottierend und mäandernd oder kanalisiert, haben ein gigantisches Ausmaß erreicht. Plastik ist überall und es verschwindet nicht.3
Wie brisant das Thema ›Kunststoff‹ gegenwärtig ist, lässt sich anhand einer Vortragsreihe verfolgen, die vom Collegium generale der Universität Bern im vergangenen Jahr veranstaltet wurde. Unter dem Titel »Plastik – Magische Materie und globale Last« wurde das Material aus Sicht verschiedener Disziplinen beleuchtet, darunter Chemie, Geschichte, Kunst, Archäologie, Psychologie, Technik, Ökonomie und Recht.4 Ein weiterer Anzeiger für die Aktualität des Themas ist die Ausstellung Plastik. Die Welt neu denken, welche derzeit im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zu sehen ist. Hinzu kommen der Kinofilm Die Pfefferkörner und der Schatz der Tiefsee (2020), in dem sich Jungdetektiv*innen auf die Suche nach einer verschwundenen Meeresbiologin machen, die an einem Forschungsprojekt über Plastikmüll im Ozean arbeitet, sowie das Theaterstück Nalu und das Polymeer (2016) von Martina van Boxen. Im ZEIT-Podcast »Alles gesagt?« wird jeder Gast danach gefragt, ob er zu einer plastikfreien normalen Gurke oder zu einer eingeschweißten Bio-Gurke greifen würde. Die Antwort kommt oft zögerlich, weil diese Konstellation besonders vertrackt ist. Ist konventionelle Landwirtschaft schlimmer als der Verbrauch einer Plastikverpackung? Eventuell fällt den Antwortenden in der Befragungssituation auch ein, dass Gurken, die nicht in Plastik eingehüllt sind, beim Transport schneller beschädigt werden und deshalb eher faulen. Das wiederum heißt, dass die plastikfreie Variante durchschnittlich früher auf dem Kompost landet als die zum Schutz eingeschweißte Gurke. Vielleicht ist es also doch sinnvoller, sich für die Plastikvariante zu entscheiden. Überlegungen wie diese haben in der Welt der Werbung natürlich keinen Platz. Dort wimmelt es seit einiger Zeit von Produkten aus recyceltem Material in umweltfreundlichen Verpackungen, die angeblich leicht zu recyclen sind. Weil sich ›grün‹ bestens verkauft, finden sich auf Hüllen und Zetteln überall Siegel, die versprechen, dass es sich bei dem ausgewählten Produkt garantiert um ein nachhaltig produziertes handelt. Auch die zahlreichen Presseartikel etwa über Mikroplastik, Plastikströme und Bioplastik sind ein untrügliches Zeichen für die Dringlichkeit des Plastikproblems. Gibt man bei Google das Stichwort ›Kunststoff‹ ein, liefert die Suchmaschine ca. 116 Mio. Ergebnisse. Wer nach ›Mikroplastik‹ sucht, bekommt ›Mikroplastik im Körper/in Kosmetik/im Blut‹ vorgeschlagen. Plastik ist unzweifelhaft zur persona non grata unter den Materialien geworden. »Wie hast Du’s mit dem Plastik?« ist die Gretchenfrage des 21. Jahrhunderts. Nicht nur Umweltaktivist*innen gehen heute in Unverpackt-Läden einkaufen, haben Jutebeutel, tragen Pullover aus Biobaumwolle, trinken Tee aus Porzellanbechern und sitzen auf den alten Holzstühlen ihrer Oma. Dabei hatten die Plastikvermeider*innen noch vor einigen Jahren unbedarft mitgesungen, wenn im Radio das Lied »Barbie Girl« der dänischen Popband Aqua lief: »I’m a Barbie Girl, in the Barbie world / Live in plastic, it’s fantastic«.5 Heute ist plastikfrei hip, nachhaltiger livestyle gleichsam ein Muss. Gefragt sind nicht nur Bioqualität und Regionalität, sondern auch Recyceltes und Recycelbarkeit – oder besser noch: ›ohne Plastik‹. Wie es gelingt, nicht noch mehr Plastikmüll zu erzeugen, ist den vielen zuletzt erschienenen Ratgebern zu entnehmen, die mit allerlei Tipps zur Plastikvermeidung aufwarten. Zu dieser Ratgeberflut zählen die folgenden Titel: Besser leben ohne Plastik (2016) von Anneliese Bunk und Nadine Schubert, Ohne Wenn und Abfall. Wie ich dem Verpackungswahn entkam (2017) von Milena Glimbovski, Wie wir Plastik vermeiden …und einfach die Welt verändern (2018) von Will McCallum, Schluss. Mit. Plastik. Was du konkret tun kannst, um den Wahnsinn zu stoppen. 30 Zwei-Minuten-Lösungen (2019) von Martin Dorey, Zero Waste. Weniger Müll ist das neue Grün (2019) von Shia Su, Bye-Bye Plastik! Besser leben ohne Kunststoff (2019) von Sophie Noucher, Für eine Umwelt ohne Plastik (2020) von Neal Layton, Die Klima-Checker. Schluss mit Plastik (2020) von Veronika Wiggert oder Alles über Plastik. Über 55 schlaue Fragen zum Thema Kunststoff und Recycling (2020) von Katie Daynes. Wer nicht nach Kinder- oder Ratgeberliteratur, sondern eine Überblicksdarstellung sucht, wird ebenfalls fündig. Zuletzt erschienen sind die sich zwischen Sach- und Fachbuch bewegende Kleine Geschichte der Kunststoffe (20176) von Dietrich Braun, die konzise Schilderung Plastik. 100 Seiten (2019) von Pia Ratzesberger sowie Plastik. Der große Irrtum (2020) von Stefan Schweiger.
Diese Auflistung ließe sich problemlos verlängern. Sie ist nicht nur Ausdruck einer gesteigerten Kunststoff-Aufmerksamkeit, sie zeigt auch, wie drängend das Thema ›Plastik‹ inzwischen ist und wie dringend Lösungen für die vielfältigen Plastikprobleme gefunden werden müssen. Auffallend ist, dass sich ein großer Teil der Beiträge an Kinder und Jugendliche richtet. Hinter den Publikationen steht die Einsicht, dass Plastik ein Problemstoff ist, der nicht länger bedenkenlos konsumiert werden kann. Weil also mit dem unreflektierten und ungezügelten Plastikverbrauch endgültig Schluss sein muss, werden nun schon die Jüngsten an einen zurückhaltenden, bedachten und problemorientierten Umgang mit dem Stoff aus dem Chemielabor herangeführt. Indes wird von den Erwachsenen, die sich schon so sehr an die Annehmlichkeiten des Plastiks gewöhnt haben, nicht nur ein Umdenken, sondern gerade auch ein neues Handeln gefordert. Entsprechend schlagen Ratgeber diverse Strategien vor, wie Plastik im Alltag vermieden werden kann. Die Zukunft, so der Tenor, wird nicht frei von Plastik sein, aber zumindest weniger voll davon.
Kritik am Plastik ist jedoch nicht allein ein Phänomen unserer Tage. Kunststoff bot, um im Begriffsfeld der Brisanz zu bleiben, schon früh Zündstoff. So war beispielsweise bereits in den 1930er Jahren von einer Cellophan-Seuche die Rede, und zwar nicht nur, weil alles Erdenkliche mit der Plastikfolie umhüllt wurde, sondern auch, weil sich das auf die Straße geworfene Verpackungsmaterial nicht auflöste und deshalb die Kanalisation verstopfte. Demgegenüber nehmen sich die von Technikapologet*innen verfasste Monografien, wie etwa das vom Ingenieur, Wissenschaftsjournalist und Science-Fiction-Autor Hans Dominik verfasste Sachbuch Vistra. Das weiße Gold Deutschlands (1936), wie Werbekampagnen für einen Wunderstoff aus. Dieser und andere Kunststoff-Beiträge werden im Folgenden in knapper Form vorgestellt. Die Zusammenstellung, die buntscheckig und womöglich kontingent, ja sprunghaft erscheinen mag, ist in ihrer Selektivität und Skizzenhaftigkeit durchaus gewollt, da es zunächst einmal nur darum gehen kann bzw. soll, in einem schnellen Durchlauf aufzuzeigen, dass es sich bei Plastik um ein nicht nur gegenwärtig beachtetes Material handelt. In einem ersten Schritt wurde die Aktualität der Thematik akzentuiert. Nun steht ein Blick in die Geschichte des Materials, seine historische Darstellung und Rezeption an. Es soll verdeutlicht werden, dass Plastik ein schillernder Stoff ist, an den sich Hoffnungen, Möglichkeiten und Utopien ebenso binden wie Gefahren, Risiken und Ängste. Dem Kunststoff wird also auf breiter Front begegnet, eine Begegnung, die zusammen mit den sich anschließenden Überlegungen zur fiktionalen Kunststoffliteratur den Hintergrund bildet für die Analyse des Romans Alles Plastik von David Flusfeder.
2. Plastik ist für alle(s) da: ein Streifzug
Auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) kann der 2009 produzierte Film Plastic Planet des österreichischen Regisseurs Werner Boote angesehen werden.7 Der Filmemacher nimmt die Zuschauer*innen mit auf eine Reise durch das Plastikzeitalter. Sie beginnt in den 1960er Jahren, also in jener Zeit, in der Kunststoff immer mehr Bereiche eroberte. Plastik ist in der Dokumentation vor allem eines: ein Problemstoff, der keine Grenzen kennt, der überall zu finden ist, auch und insbesondere dort, wo er nicht hingehört – dabei hatte alles so schön angefangen in der Kindheit mit dem vielen bunten Plastikspielzeug. Nun türmt sich der Kunststoff auf zu Müllbergen, schädigt Mensch und Umwelt. Bei aller Kritik solle es jedoch, so Boote in einem Interview, nicht darum gehen, Plastik gänzlich zu verbannen, sondern darum, bewusst zu konsumieren.8
Ebenfalls auf den Seiten der bpb zu finden ist die 2014 erschienene Ausgabe des Magazins fluter, die dem Thema ›Plastik‹ gewidmet ist. Im Editorial werden die Leser*innen über den immensen Plastikverbrauch aufgeklärt:
Alles so schön bunt hier – und es wird immer bunter: Von 1950 bis 2012 ist die weltweite Plastikproduktion durchschnittlich um gut 8,6 Prozent pro Jahr gewachsen. Das heißt von 1,7 Millionen Tonnen auf 288 Millionen Tonnen. 2009 wurde ein Drittel der Kunststoffe in Deutschland für Verpackungen verwendet. 25 Prozent verbrauchte die Baubranche, gefolgt von der Fahrzeug- und Elektroindustrie. Knapp vier Prozent entfielen auf die Herstellung von Möbeln. Wie viel Kunststoff zu aufblasbarem Spielzeug wurde, ließ sich leider nicht herausfinden. 9
Nachzulesen ist dort beispielsweise auch, dass im Jahr 2010 in Deutschland jede*r im Schnitt 64 Plastiktüten verbrauchte, dass eine Plastiktüte durchschnittlich 25 Minuten in Gebrauch ist und je nach dem, aus welchem Kunststoff sie gefertigt wurde, 100 bis 500 Jahre benötigt, um zu zerfallen.10
1997 erschien die Kulturgeschichte Plastic. Unser synthetisches Jahrhundert von Stephen Fenichell.11 Der Autor nimmt zwar nicht ausschließlich, aber vor allem die Vorgänge in Amerika in den Blick. Im einleitenden Kapitel, das den Titel »Plastikland« trägt, bemerkt Fenichell, dass Kunststoff seit dem Ende des 2. Weltkriegs unablässig, teils sogar unsichtbar in unser aller Leben eindringe, weshalb zu Recht behauptet werden könne, dass wir inzwischen im Plastikzeitalter leben, zumal die weltweite Herstellung von Kunststoff jene des Stahls bereits 1979 übertroffen habe. Der Triumph des Plastiks sei ein »Sieg der Verpackung über das Produkt, des Stils über die Substanz und der Oberfläche über das Wesentliche«.12 Kunststoff stehe für Künstlichkeit und Verfügbarkeit. Zwar sei es eine wunderbare, eine fantastische Substanz, doch bei aller Euphorie angesichts der unendlich erscheinenden Möglichkeiten des Plastiks habe sich das Material nie von seinem schlechten Image als billiger Ersatzstoff lösen können. Es habe die Natur zu einem Luxusgegenstand gemacht, weil pausenlos billig wirkende Geschmacklosigkeiten aus dem künstlich erzeugten Material auf den Markt geworfen worden seien. Nun könnte ein*e Liebhaber*in des Werkstoffes einwerfen: »Was macht das schon. Die Hauptsache ist doch, dass Plastik unschlagbar günstig ist und deshalb jede*r alles haben kann und davon dann auch sehr viel«.
Das wiederum erinnert an den provokanten Ausruf »Nicht ein Design für alle, nein, viel Design für viele!«13 der Designergruppe Kunstflug, zu der Heiko Bartels, Gerhard Fischer, Charly Hüskes und Harald Hullmann gehören. In ihrem programmatischen Text »Kunstflug über Ulm und anderso«, der Mitte der 1980er im Kunstforum International erschien, attackieren die vier die »Form-Follows-Function-Gemeinde rund ums Ulmer Gute-Form-Haus«,14 womit die nur wenige Jahre, nämlich von 1953 bis 1968, bestehende Hochschule für Gestaltung (HfG) auf dem Ulmer Kuhberg gemeint ist, deren erster Direktor Max Bill war.15 Unmittelbar vor dem oben zitierten Diktum teilen die Designer dies mit:
Heavy Styling statt Gute Form, Airkraft statt Sabbel-Babbel-Plast, KUNSTFLUG statt Blindflug. Die auf den Akademien Gemaßregelten werfen den Ballast ab und starten durch: kraftvoll, symboltriefend, anstößig und schamverletzend.
Neonring im Eichenstamm, Sandtisch mit Propangaslohe, Brokat-Power im Plastikpneu, Naturholzschrein, Samt, Gold und Lightshow. Echtes und Rechtes, Imitat und Laminat!16
Hier schimmert durch, dass Plastik in den 1980er Jahren im Design schon längst angekommen war. Genau diesen Umstand dokumentiert die im Vitra Design Museum gezeigte Ausstellung Deutsches Design. 1949–1989. Zwei Länder, eine Geschichte, welche im vergangenen Jahr besucht werden konnte. Im begleitenden Ausstellungskatalog ist beispielsweise Campinggeschirr aus Melaminharz (1957/58) von Hans Merz abgebildet. Auch Gießkannen aus Polystyrol (1959) von Klaus Kunis sind zu sehen. Nicht fehlen darf natürlich der Trabi. Ebenfalls betrachtet werden können Walter Zeischeggs aus Melanin-Formaldehydharz bestehender Aschenbecher »Sinus« (1966/67), der auch als »Ulmer Welle« bezeichnet wird, Egon Eiermanns aus glasfaserverstärktem Polyester gefertigter Telefontisch für den Deutschen Bundestag in Bonn (1968) oder Ernst Möckels Polyurethan-Stuhl »Känguruh« (1971), der auch als »Z-Stuhl« bekannt ist. Angesichts von Vladimir Putins jüngst vorgebrachten Drohungen erschreckend aktuell ist ein u.a. aus PVC-beschichtetem Nylongewebe bestehender Schutzanzug, der Mitte der 1960er Jahre von Frank Hess entworfen wurde. Das Kleidungsstück soll seine Träger*innen vor dem Eindringen radioaktiver Teilchen in den Körper bewahren.17
Neben den Abbildungen von Plastikobjekten ist besonders ein Katalogbeitrag hinsichtlich der Bedeutung und Funktion von Plastik aufschlussreich. Gemeint ist der Aufsatz »Plaste, Gestaltung und Sozialismus in Ostdeutschland« von Eli Rubin. Der Historiker hält darin einleitend fest:
Bundesbürger, die mit dem Auto durch Ostdeutschland fuhren, fanden es unheimlich und skurril, dass ihre Vettern auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs anscheinend so viel Aufhebens um ein so banales und offen gesagt billiges Material wie Kunststoff machten. Doch für die Ostdeutschen war Plaste, wie sie es nannten, tatsächlich ein wichtiges Material. Es stand für die Verheißung einer sozialistischen, auf neuester Technologie gegründeten Zukunft. Im Osten war es gleichbedeutend mit Utopie, Sozialismus und Fortschritt, im Westen mit billigem Abklatsch, Umweltverschmutzung und einer Konsumkultur der weniger begüterten Schichten. Wobei allerdings die leichte Formbarbarkeit des Kunststoffs dafür sorgte, dass es von einer Designerelite auch im Westen als Einladung zu Verspieltheit, Kreativität und einer ganz anderen Art des Umgangs mit Form und Stoff begrüßt wurde […]. Dass Plaste oder Plastik als Material so gegensätzlich wahrgenommen wurde, erzählt von einem Kapitel der deutschen Zeitgeschichte und von der Verflechtung politischer Ökonomie mit der Geschichte moderner Gestaltung.18
Teil ebendieser Verstrickungen seien diverse Erziehungsprogramme gewesen, mit denen die Ostdeutschen geradezu überschwemmt worden wären. Vor allem zwei Bücher hätten die Botschaft unters Volk gebracht, dass Plastik der Inbegriff des Fortschritts sei. Die Rede ist von Unsere Welt von morgen (1959), verfasst von Karl Böhm und Rolf Dörge, sowie vom Sammelwerk Weltall, Erde, Mensch (1954). Beide Bücher wurden üblicherweise zur Jugendweihe verschenkt.
Daneben erschien eine Reihe weiterer Kunststoff-Bücher, die heute nur noch antiquarisch erhältlich sind. Dazu zählen das bereits erwähnte Buch Vistra (1936) von Hans Dominik, das populärwissenschaftliche Buch Wir bauen eine neue Welt. Das Buch der Kunststoffe und Chemiefasern (1957) von Josef Hausen sowie der schmale Band Cellophan. Erfindung und Welterfolg (1956) von Franz Ulrich Gass. Diese drei Publikationen stehen paradigmatisch für die Bemühungen früher Kunststoff-Akteur*innen, die die Welt der Kunststoffe für Lai*innen öffnen wollten. Die Begeisterung sollte auf ein breites Publikum überschwappen. Entsprechend wird ein äußerst positives Kunststoffbild gezeichnet, aus dem der unbedingte Glaube an die Leistungen der chemischen Industrie spricht. Um ebendies zu veranschaulichen, genügt ein kurzer Blick in diese Sachbücher.
Hans Dominik schreibt die Geschichte der Kunstfaser Vistra als Erfolgsgeschichte, die jedoch alles andere als störungsfrei und geradlinig verlief. Vielmehr galt es, zahlreiche Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ehe sich die künstlich erzeugte Faser, deren Entwicklung Teil nationalpolitischer Autarkiebestrebungen war, auf dem Markt durchsetzen konnte, musste an den verschiedensten Fronten gekämpft werden. So betont Dominik beispielsweise, dass die Vistrafaser anfangs mit größter Skepsis beäugt wurde. Aus seinen Schilderungen geht hervor, dass natürliche Materialien starke Konkurrenten für die Kunstfaser waren. Es seien verschiedenste Aufklärungskampagnen nötig gewesen, um die Menschen von dem unbekannten Stoff zu überzeugen. Damals griffen die Kund*innen zu Wolle, Baumwolle, Flachs oder Seide. Die Vor- und Nachteile dieser Materialien waren ebenso bekannt wie die Möglichkeiten ihrer Verarbeitung und Pflege. Die jahrelange Erfahrung im Umgang mit den Naturstoffen schaffte Wissen und Vertrauen. Warum sollte man zu Neuem greifen, wenn sich das Bekannte bewährt hat? Wie es den Vertreter*innen der chemischen Industrie gelang, die Ängste und Sorgen der Verbraucher*innen abzubauen und sie für den Kunst-Stoff zu begeistern, schildert der Sachbuchautor anschaulich im 8. Kapitel, das den »Neuen Wegen der Werbung« gewidmet ist. Der Clou des Buches ist eine kleine Beigabe: ein transparentes Tütchen mit einer Vistraflocke darin. Weil sie da aber so zusammengepresst liegt, vermag sie kaum den Eindruck von angenehmer Flauschigkeit zu vermitteln. Wohl deshalb liegt die eingepackte Flocke direkt neben einer Fotografie, die ein weißes, aufgebauschtes Knäuel zeigt, darunter die Beschreibung: »Das weiße Gold Deutschlands, eine weiße, weiche, seidige Vistraflocke, die, dem Geist deutscher Techniker entsprungen, immer mehr an die Stelle von Baumwolle und Wolle tritt«.19 Am Ende, bevor die Leser*innen das Buch ein letztes Mal zuschlagen, verrät der Autor dann noch, dass der Einbandstoff des Buches aus reinem Vistragewebe gemacht ist. Hier handelt es sich also im wahrsten Sinne des Wortes um Kunststoff-Geschichte zum Anfassen.
Der Chemiker Josef Hausen erzählt in seinem reich bebilderten Sachbuch Wir bauen eine neue Welt, in welchem es um Irr-, Ab- und Umwege, um Zufälle und Fügungen in der Geschichte der Kunststoffe geht, das Märchen einer bösen Fee. Mithilfe der kurzen Geschichte macht der Autor spielerisch deutlich, dass ein Leben ohne Plastik nicht mehr denkbar ist – das Buch ist wohlgemerkt bereits in den 1950er Jahren erschienen. In wie vielen Produkten der künstliche Stoff steckt, zeigt der Auflösungsprozess, den die Fee in Gang setzt und der folgendermaßen abläuft:
Im Bad ging alles los. Da löste sich der Duschvorhang in nichts auf, denn er war aus Plastikfolie; von den vielen Bürsten blieben weder die Borsten, die aus Perlon bestanden, noch die Griffe, die aus einem zelluloidartigen Kunststoff fabriziert waren, übrig, die Kämme folgten ihnen ins Nichts, der Rasierapparat, ein moderner elektrischer Trockenrasierer, hinterließ nur einen Wust von Metallteilen, die Kacheln – es waren Kunststoffplättchen – fielen von den Wänden und zergingen, die Baderoste aus Preßholz lösten sich in feine Holzfolien auf, denn sie waren mit Kunstharz wasserfest verleimt, selbst der Bodenbelag, farbenfroh gemustert in Plastikfliesen, fiel dem Fluch der Fee zum Opfer. Zahlreiche Büchsen und Fläschchen schütteten ihren Inhalt in den Raum, die Armaturen an den Geräten ließen nur noch häßliche Lücken, und die hübschen elfenbeinfarbenen Platten in der Nische, die das Licht der Leuchtstofflampen hindurchfallen ließen […], waren plötzlich wie weggeblasen.
Doch war all dies erst der Anfang. Viel schlimmer noch ging es in der Küche zu.20
Vermutlich sind sich die meisten Leser*innen damals wie heute nicht darüber bewusst, dass erschreckend viele Dinge, die uns umgeben, zumindest zu einem Teil aus Plastik bestehen. Insofern öffnet dieses Märchen die Augen. Es zeigt, wie sehr unser Alltag geprägt ist von Plastik, diesem Stoff, der uns so nah ist und über den wir doch so wenig wissen.
Auch Franz Ulrich Gass packt die Plastifizierung der Welt20 in eine kurze Geschichte, genauer gesagt in die Beschreibung eines Spiels, welches sowohl der Unterhaltung als auch der Fortbildung dienen soll: das sogenannte Erdkugelspiel, bei dem eine Nadel in einen sich drehenden Globus gestochen werden muss. »Wer immer«, schreibt Gass, „bei diesem Globusspiel nicht ins Meer, sondern auf menschliche Ansiedlungen trifft, kann im Brustton der Überzeugung sagen: »Hier gibt es auch Cellophan«.21 Natürlich macht, so muss ergänzt werden, Cellophan nicht an den Grenzen von Dörfern, Städten und Kontinenten, nicht an den Rändern der Zivilisation Halt. Vielmehr strömt es in die entlegensten Winkel des Erdballs und schwebt vermutlich auch im All. Überhaupt herrscht in den frühen Publikationen ein unterhaltsam-aufklärerischer Ton, der getragen ist von Euphorie und dem Glauben an einen Werkstoff mit scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Was Gass in seinem Buch über Cellophan ausblendet, nämlich den Fakt, dass die Folie nicht nur nützlich, sondern auch lästig ist, kommt in einem Artikel zur Sprache, der 1936 in der Zürcher Illustrierten erschienen ist. »In Amerika«, wird berichtet,
entstand eine Cellophan-Seuche, es gab kaum mehr einen Gegenstand, der nicht in dieser Verpackung präsentiert wurde. ›Von einer calamité publique‹, lacht Dr. Brandenberger, ›hat man mir bei meinem letzten Besuch in New York erzählt, da die Leute das Cellophan auf die Straße werfen und es, da es sich nicht auflöst, die Gullys verstopft‹.23
Während der Erfinder des Cellophans die Plastikseuche noch mit einem Lachen beiseite wischt, während also die Müllproblematik hier noch lapidar, ja anekdotenhaft daherkommt, ist sie heute Ausgangspunkt zahlreicher Diskussionen, Berichte und Buchpublikationen, in denen u.a. Plastikvermeidungsstrategien präsentiert werden. Der Blick ist kritisch geworden. Vorbei sind die Zeiten – zu hoffen wäre es jedenfalls –, in denen Plastik unbeschwert konsumiert und bedenkenlos fortgeschmissen wurde, wie noch auf einer Fotografie von Peter Stackpole aus dem Jahr 1955, auf der eine junge Familie zu sehen ist, die Plastikartikel in die Höhe wirft und all dem Umherfliegenden halb staunend, halb heiter nachblickt. Inszeniert wird hier, was heute undenkbar ist: das »Throwaway Living«.23
Nur wenige Jahre nach dem Erscheinen dieser Aufnahme, nämlich im Jahr 1959, fand in Düsseldorf eine Kunststoffmesse statt, auf der ein Unternehmen einen in Anlehnung an Alice im Wunderland entworfenen »Zaubergarten der Kunststoffe« präsentierte. Dort gab es nicht nur fantastische Plastik-Gewächse zu sehen, die Besucher*innen konnten auch dieses Gedicht lesen:
Alice, die Kunststoffe nicht kennt,
hört Handelsnamen ohne End‘:
[…]
Ach, liebe Alice, hör’ mich an,
Du kaufst doch auch oft Porzellan.
Hier lockt dich sicher allzumal.
Ob Meißen, Arzberg, Rosenthal,
auch Hutschenreuther, Nymphenburg;
die Marke ist’s, berühmt wodurch
Du sicher kaufst; was schert es Dich,
welch Sorte Karolin und Spat
und Quarz der Fabrikant wohl hat?
Jedoch beim Kunststoffgegenstand
gerätst Du außer Rand und Band,
wenn Dir nicht gleich ersichtlich ist,
wes Rohstoff Käufer Du nun bist.
[…]
Kaufst Haushaltsgegenständ’ Du ein,
dann schützt Dich nur vor Trug und Schein,
kennst Du den Namen und den Stand
des Fertigwaren-Fabrikant’.
Nach dessen Markennamen frag’,
dann hast Du Ruhe alle Tag’!25
Mit diesen Zeilen wird auf humorvolle Weise das damals grassierende Handelsnamen-Chaos kritisiert. Die Wortneuschöpfungen florierten damals zusammen mit der Kunststoffbranche. Hermann Staudinger (1881–1965), der den Begriff »Makromolekül« prägte und 1953 den Nobelpreis erhielt, trug entscheidend dazu bei, dass Kunststoffe systematisch entwickelt werden konnten. Nun, da der Aufbau hochmolekularer Stoffe entschlüsselt war und gezielte Eingriffe möglich wurden, kam es nach dem 2. Weltkrieg zu einem ungeahnten Aufschwung der Kunststoffindustrie. Mit der steigenden Anzahl neuer Kunststoffe stieg auch die Nachfrage seitens der Verbraucher*innen. Außerdem sei noch erwähnt, dass das oben zitierte Gedicht einen in der Geschichte der Kunststoffe häufig wiederkehrenden Konnex herstellt: jenen zur (schwarzen) Magie.25
Schließlich sei noch auf die 1987 erschienene Studie Das bedingte Leben des Psychologen Friedrich W. Heubach hingewiesen. In dem kurzen, so amüsanten wie erhellenden Kapitel »Das ›Resopal‹-Möbel oder Die Sinne nehmen nicht einfach die Dinge auf, sondern in ihnen auch eine Form an: Jedes gegenständliche Design ist immer auch ein Design der Sinnlichkeit« wird ersichtlich, dass die Plastiksorte Resopal aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften mit verschiedenen Bedeutungen, Wertungen und Gefühlen aufgeladen ist. Einleitend klärt Heubach darüber auf, was Resopal ist:
Das unter der Markenbezeichnung ›Resopal‹ gehandelte, zur Beschichtung von Oberflächen eingesetzte Kunststoffmaterial wird vornehmlich bei Kücheneinrichtungen, aber auch an Gegenständen des sonstigen Wohnbereichs (Regale, Tische usw.) verarbeitet. Anfangs einfarbig und in der Küche zumeist weißer Farbe, wird es heute auch ›in Dekor‹ angeboten, außerdem als Holz- und Marmorimitat.27
Grundlage der dann folgenden Ausführungen ist eine Studie, die 1977 am Psychologischen Institut der Universität Köln durchgeführt wurde. Aus ihr geht dies hervor:
Das Resopal wird insgesamt als die perfekte Vergegenständlichung des Ideals makelloser Reinlichkeit realisiert, dessen mühelose Erfüllung es alltäglich möglich mache. Diese stupende Leistung des Resopals, ein extremes Ideal zu setzen und gleichzeitig seine bequeme Erfüllung anzubieten, macht wohl die besondere Faszination dieses Materials aus. In dem, worin es diese immer wieder gepriesene bequeme Erfüllung eines Ideals materialisiert, d.h. in seinen schmutzabweisenden Eigenschaften, entzieht sich das Resopalmöbel aber zugleich erlebtermaßen jeder Prägung durch seine Benutzung und seinen Benutzer. Und in dieser (durch die Unbearbeitbarkeit seiner Oberfläche noch verstärkten) anschaulichen Erfahrung des Spur(en)losen konstituiert sich das Resopalmöbel psycho-logisch als ein Gegenstand ohne Gesicht und ohne Geschichte.28
Möbel aus Resopal, so lässt sich zusammenfassend festhalten, sind robust, funktional und zeitlos. Diese Zeitlosigkeit aber ist es, die die persönliche Verbindung zum Besitzer kappt. Resopal will makellos bleiben. Auch nach Jahren der Benutzung soll man der Oberflächenbeschichtung nicht ansehen, dass je etwas auf und mit ihr geschehen ist. Das Resopal-Möbel weigert sich, eine wie auch immer geartete Prägung anzunehmen. Deshalb wirkt es neutral, möglichweise auch abweisend. Wer also auf Gemütlichkeit im heimischen Wohnzimmer aus ist, greife nicht zum Resopal-Möbel. Außerdem eignet es sich nicht als Prestigeobjekt. Es ist gemacht für den Arbeitsbereich. Doch dort terrorisiert es den Besitzer, weil es zu unentwegtem Säubern nötigt und jede Spur als Schmutz denunziert. Der Besitzer wird, pointiert formuliert, zum »Diener seiner Makellosigkeit«.29 Denkt man von hier aus weiter, über den häuslichen Bereich hinaus, so wird Resopal, soviel sei zumindest angedeutet, zum gesellschaftspolitischen Stoff. Es ist materialgewordene soziale Norm, weil es Eigenschaften hat und fordert, die vermeintlich gute und anständige Bürger*innen auszeichnen. Insofern kann am Resopal-Möbel das eingeübt werden, was einen Menschen in der modernen westlichen Welt ›gesellschaftsfähig‹ macht. Wer die Probe im eigenen Heim besteht, hat draußen nichts zu befürchten, denn gerade auch im öffentlichen Raum gilt: Immer schön sauber bleiben!30
3. Fiktionale Kunststoffliteratur
Da also das Thema ›Plastik‹ gesellschaftlich virulent ist, liegt es nahe, dass Kunststoff auch in Romane, Erzählungen und Gedichte ›eindringt‹. Tatsächlich fördert eine entsprechende, auf deutschsprachige Literatur konzentrierte Recherche zutage, dass zahlreiche belletristische und lyrische Werke vorliegen, die das Material mal mehr, mal weniger offensichtlich aufgreifen. Manchmal enthält bereits der Titel den entscheidenden Hinweis, wie etwa in den Fällen von Erwin Einzingers Gedichtband Lammzungen in Cellophan verpackt (1977), Annika Reichs Geschichte Teflon (2003), Petra Hulovás Roman Dreizimmerwohnung aus Plastik (2013) oder Christa Meier-Draves autobiographische Erzählung Nylons mit Naht. Mädchenjahre in den Fünfzigern (202131). Dann wiederum spülen Zufälle und Algorithmen ein relevantes Buch auf den Schreibtisch, so zum Beispiel Geile Deko von Isabel Waidner, das 2019 in deutscher Übersetzung im Merve Verlag erschien. Der Einstieg in diese flirrend-verwirrende Geschichte klingt, um eine kleine Kostprobe zu geben, wie folgt: »Ein eindrucksvolles Minipferd sprengte über eine Tischplatte aus Resopal. Ah das ist Tulep. Tulep sprengte über grasgrünes Resopal, grasend, wie es schien. Außerdem stand ein weißer Laptop aus Plastik auf dem Tisch«.32 In die Reihe der Kunststoffliteratur zählen auch all jene Bücher, in denen die Kunststoffindustrie zur Sprache kommt, wie beispielsweise in Thomas Meineckes Roman Tomboy (2000).
Welche Literatur zur Kunststoffliteratur gezählt wird, hängt zudem davon ab, wie eng man den Begriff ›Kunststoff‹ fasst und, damit verbunden, welche historische Eingrenzung man vornimmt. Bislang wurden die beiden Begriffe ›Kunststoff‹ und ›Plastik‹ synonym verwendet. Genau genommen muss jedoch aufgrund unterschiedlicher semantischer Implikationen begrifflich differenziert werden. Als Ernst Richard Escales (1863–1924) den Begriff ›Kunststoff‹ um 1910 einführte, steckte die Kunststoffchemie noch in den Kinderschuhen. Eine allgemein anerkannte Vorstellung von der Chemie dieser Stoffe existierte damals noch nicht. Erst nach und nach setzte sich insbesondere auf Grundlage der Arbeiten von Hermann Staudinger die Erkenntnis durch, dass es sich bei Kunststoffen um organische Stoffe mit sehr großen Molekülen, sog. Makromolekülen, handelt, die synthetisch oder durch Umwandlung von Naturprodukten entstehen.33 Sieht man einmal von den naturwissenschaftlichen Fachdiskussionen ab und stellt stattdessen allgemeine Überlegungen zum Kompositum ›Kunststoff‹ an, so fällt auf, dass durch die Verknüpfung der Worte ›Kunst‹ und ›Stoff‹ ein zunächst nicht näher bestimmter Stoff zu einem Kunst-Stoff avanciert, zu einem wie auch immer gearteten Material, welches sich durch seine Kunsthaftigkeit auszeichnet und sich in ebendieser Eigenart von anderen Stoffen abhebt. ›Kunst‹, verrät ein Blick ins Wörterbuch, ist vom Altdeutschen abgeleitet und bedeutete ursprünglich Wissen(schaft) oder Fertigkeit. Demnach ist Kunst unmittelbar mit Können verbunden, welches sich wiederum entweder auf den Stoff selbst beziehen kann, wonach dann ein Kunst-Stoff ein Stoff wäre, der sich durch eine außergewöhnliche, weil durch den Zusatz ›Kunst‹ betonte Könnerschaft von anderen Stoffen abhebt, oder aber auf die besonderen Leistungen der Chemiker*innen, die in ihren Laboren immer tiefer in die Welt der Makromoleküle und der Polymerisation eintauchen, am Bauplan der Natur basteln, ihn scheinbar beliebig manipulieren und auf diese Weise, durch einen quasi kunstvollen Akt etwas schaffen, das es in der göttlichen Schöpfung bislang nicht gab. Kunststoffe erscheinen vor diesem Hintergrund nicht nur als Verwirklichung des uralten Traumes von der Beherrschung der Materie, sondern auch als widernatürlich, als künstlich. Doch selbstverständlich handelt es sich bei Kunststoffen nicht um gänzlich unnatürliche oder gar übernatürliche Stoffe, da sie stets aus natürlichen Rohstoffen hergestellt werden – aus nichts kann schließlich nichts entstehen. Carsten Rohde fasst das treffend so zusammen:
Kunststoff als Gegenstand und als Begriff kennzeichnet von Anfang an eine fundamentale Mehrdeutigkeit: Kunst bzw. künstlich und doch Natur bzw. natürlich zu sein. Kunststoff ist seit jeher ein Hybrid, eine Mischung aus Naturstoff, Technik und Chemie.34
In anderen Sprachen setzte sich das Wort ›Kunststoff‹ im Übrigen nicht durch. Satt auf Können, Kunst und Künstlichkeit verweisen Bezeichnungen wie ›plastics‹ (englisch), ›matière plastique‹ (französisch) oder ›materie plastiche‹ (italienisch) auf eine besondere Qualität des Kunststoffs: die Formbarkeit. Im Deutschen finden sich die entsprechenden Lemmata ›Plastik‹ und ›Plaste‹.
Das vollsynthetische Plasticaeum, in dem wir heute leben, fußt auf einer Vielzahl unterschiedlicher Experimente, Erfindungen, Entdeckungen und Zufälle. Einige zentrale Ereignisse fallen in die ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts. So trat etwa 1907 mit dem Bakelit der erste vollsynthetische Kunststoff auf den Plan. Zwei Jahre zuvor entwickelte Jaques Edwin Brandenberger das Cellophan, welches als Verpackungsmaterial die Welt eroberte. 1909 stellte Fritz Hofmann erstmals Methylkautschuk aus Dimethylbutadien her, aus dem im darauffolgenden Jahr der erste Autoreifen gepresst wurde. Seit 1925 gibt es Resopal. 1932 begann eine Firma in Darmstadt mit der Herstellung von Plexiglas. Diese kleine Auflistung zeigt, dass es weder den Erfinder noch den Kunststoff gibt. Vielmehr ist die Kunststoffgeschichte genauso facettenreich und bunt wie all die Plastikerzeugnisse, die uns umgeben. Auch der Beginn der Geschichte der Kunststoffe lässt sich nicht eindeutig bestimmen.35 Auf die Literaturgeschichte gewendet heißt das, dass die Textauswahl verhandelbar ist.
Schließlich sei noch der Hinweis angebracht, dass Literaturwissenschaftler*innen in den vergangenen Jahren zunehmend sensibel geworden sind für die materielle Ebene, die Material Culture, wie nicht nur die beiden Handbücher Materielle Kultur. Bedeutungen – Konzepte – Disziplinen (2014) und Literatur & Materielle Kultur (2018) belegen, sondern auch die umfassende Studie Bücher mit Stoffbezug. Der nationalsozialistische Vierjahresplan und der synthetische Kolonialismus in der deutschsprachigen Populärliteratur (2022) von Alexander Wagner sowie der von Jasmin Grande herausgegebene Sammelband Glasgalaxien. Über Avantgarde (2022), der in Vorbereitung ist. Damit wird nun also auch in der Literaturwissenschaft eine Spur verfolgt, die in Kunst-, Design- und Architekturtheorie schon länger beschritten wird.36 Was allerdings bislang fehlt, ist eine umfassende Analyse der, wenn man so will, literarischen Kunststoffbearbeitung, sprich eine literaturwissenschaftliche Studie, die dezidiert dem Plastik gewidmet ist, und zwar in all seinen Facetten. Eine interdisziplinär angelegte Literaturgeschichte der Kunststoffe, die sich einer Vielzahl diskursiver Anschlüsse öffnet, hätte nicht nur die technisch-naturwissenschaftlichen Entwicklungen in den Blick zu nehmen, sondern auch die Dynamiken innerhalb einer Konsumgesellschaft. Hinzu kämen Exkurse zur Bedeutung und Funktion der Kunststoffe in Design, Architektur und Kunst. Da es sich beim Kunststoff zudem um einen politischen Stoff handelt, müsste auch dieser Bereich thematisiert werden. Ebenso gilt es, sich dem Phänomen der Oberfläche und der Oberflächlichkeit medientheoretisch und philosophisch zu nähern. Weitere Anknüpfungspunkte sind denkbar.
Im Folgenden wird ein Buch exemplarisch besprochen: David Flusfeders Roman Alles Plastik (1998). Die Wahl fiel auf dieses Buch, weil es auf besonders anschauliche Weise vorführt, wie vielschichtig das Thema ›Plastik‹ ist, will heißen, der Autor führt die enorme Reichweite der Kunststoffthematik vor, auf die schon der Buchtitel verweist: ALLES Plastik. Um ebendies aufzuzeigen, werden einige Textpassagen aus dem Roman aufgriffen und mit anderen Stimmen zusammengeführt. Auf diese Weise gelingt es, ein buntes Panorama zu entwerfen, das verdeutlicht, wie facettenreich und ambivalent Kunststoff ist. Die verschiedenen Diskurse, die aufgerufen werden, können hier allerdings nur schemenhaft dargestellt werden. Hinzu kommt, dass Flusfeder zahlreiche grundlegende Fragen aufwirft, die nicht ohne Weiteres oder gar eindeutig beantwortet werden können. So schwebt etwa die Frage im Raum, ob man Plastik wirklich lieben kann. Im Roman zeichnen sich die Figuren durch unterschiedliche Haltungen zum Kunststoff aus – und jede davon hat ihre Berechtigung. Flusfeder moralisiert nicht, sondern schafft diverse Zugänge zu einem Material, das heutzutage gemeinhin nicht besonders geschätzt wird. Das Buch liefert keine letztgültigen Antworten und ähnelt darin dem Material, das in seinem Zentrum steht, denn Kunststoff entzieht sich aufgrund seiner außerordentlichen Wandelbarkeit einer endgültigen, einer Ideal-Form.
4. Ein Exempel
In dem Roman Alles Plastik (1998) von David Flusfeder ist zwar nicht alles aus Kunststoff, aber doch sehr vieles. Roland Barthes bezeichnete dieses Material einmal als wunderbaren Stoff, der die Menschen angesichts seiner enormen Wandelbarkeit in Staunen versetze. Es sei die erste magische Materie, die sich damit begnüge, prosaisch zu sein, die nicht auf das Seltene, sondern auf das Gewöhnliche ziele,37 will heißen: Plastik ist ein Kunst-Stoff für den Alltag. Wie umfassend diese künstliche Materie unser Leben bestimmt, in welche Formen wir sie bringen und wie sie uns und unsere Umgebung formt, darum dreht sich dieser Roman.
Die Originalausgabe erschein 1996 unter dem Titel Like Plastic. Dieser Titel enthält ein Wortspiel, welches durch die Übersetzung ins Deutsche verloren ging. So besitzt der Roman also tatsächlich drei Titel: Alles Plastik, Wie Plastik und Plastikliebe.
Werfen wir nun einen Blick in das Buch: Im Mittelpunkt der Erzählung, die in den 1990er Jahren spielt und damit in einer Zeit, in der Plastik schon längst den Alltag erobert hat, stehen die beiden ungleichen Cousins Howard und Charlie Levy. Sie machen sich die Leitung der Levy Plastic Company (LPC) streitig und führen das Familienunternehmen, welches im Laufe der Jahre zu einem Kunststoffimperium avancierte, langsam, aber sicher in den Ruin. Begründet hatten die Firma Daniel Levy und sein Bruder Sam. Daniel, der Vater von Howard, hatte eine Leidenschaft: Maschinen. Er verfiel ihnen schon in jungen Jahren und wollte ihre Mysterien begreifen. Sein Kopf war voller Bilder von Zahnrädern, Hebeln, Motoren und Ventilen. In seinem Geist konstruierte er perfekte Maschinen. Nachdem er die Schule verlassen hatte, begann er in einer Plastikfabrik zu arbeiten, wo sich seine Ideen materialisierten. Seine erste Maschine konnte Knöpfe schneller und besser formen als Menschen und Maschinen dies bisher taten – das Cover des Buches zeigt übrigens viele kleine und große Knöpfe in verschiedenen Farben auf schwarzem Hintergrund und verweist damit auf ebendiese technische Konstruktion. Bald schon gründete der talentierte und verschrobene Daniel seine eigene Firma. Dies war der Startschuss für eine sagenhafte Karriere im Plastikbusiness. »Er pflanzte«, heißt es im Roman, »Maschinen auf den Fabrikboden und begoß sie mit seinem Genie. Sam wurde sein Partner, der Direktor der Fabrik«.38
Bereits in einem der ersten Kapitel werden die Leser*innen in ein Plastik-Archiv geführt. Howard befindet sich in einem Zimmer seines Hauses, in dem sich all das stapelt, was LPC im Laufe der Jahre hergestellt hat – erinnert sei hier nebenbei an Hausens Geschichte über die böse Fee:
Die Wände sind voller Regalbretter, und darauf stehen Plastikartikel. Unzerbrechliche Kämme lehnen an Computergehäusen. Knöpfe aus Schildpattimitat umgeben eine Plastikkaraffe voll durchscheinender Besteckteile. Krönungssouveniranstecker und mattwandige Wassergläser verdecken eine Phalanx rosafarbener Telephongehäuse. Radios, Tischfeuerzeuge, Spielzeugsoldaten, Plattenspieler, kleine Saxophone, Haarbürsten und Haarclips, Gegenstände für Küche und Tafel und für die Grillparty draußen, alles für Haus und Büro und Garten, hoch aufgetürmt, die konfus zusammengeworfene Geschichte des Familienunternehmens […]. Vivien und Howard sitzen unbehaglich nebeneinander, er in seinem Anzug, sie im Bademantel, auf harten regenbogenfarbenen Stühlen (stapelbar), traurigen Erbstücken des unglücklichen Abstechers, den LPC in den siebziger Jahren auf den Möbelmarkt gemacht hatte […]. Er kann vom Hinsehen das Material erkennen, aus dem die Gegenstände sind. Melamin und PVC und Zelluloseazetat und Polyäthylen und Polystyrol und Harnstoff-Formaldehyd und Polyurethan und Polypropylen und Acryl und Styrol-Acrylonitril.39
Natürlich gehört es sich für den Inhaber einer Firma, die Kunststoffartikel en masse produziert, zu zeigen, womit gearbeitet und Geld verdient wird. Also trägt Howard eine bunte Krawatte, auf der die chemischen Bausteine des Kunststoffs zu sehen sind: Kohlenstoff- und Wasserstoffatome. Und seine Visitenkarten sind selbstredend nicht etwa aus Papier, sondern aus Plastik, genauer gesagt aus steifem, klarem Acetat. Unter den dicken schwarzen Lettern LPC und dem Gründungsjahr der Firma (1948) befindet sich der Slogan: »the future is plastic«.40 Das lässt sich zum einen mit ›Die Zukunft ist (aus) Plastik‹ übersetzen, zum anderen mit ›Die Zukunft ist formbar‹.41 Der Wahlspruch der Firma lässt also unterschiedliche Interpretationen zu. Als Werbeslogan eines Herstellers von Kunststoffprodukten verweist der Spruch auf eine vollkommen plastifizierte Welt, auf eine Welt, in der Plastik keine Wünsche offenlässt, in der Plastik alle anderen Materialien ersetzen kann, in der also Plastik tatsächlich für alle(s) da ist. In diesem Fall stünde die Plastikbranche am Zenit ihres Erfolgs. Wenn allerdings, und das wäre eine im vorliegenden Falle zwar unwahrscheinliche, aber mögliche Lesart, die Zukunft (wie) Plastik ist, so stehen keine rosigen Zeiten bevor, denn das Material steht für Falschheit, für Billiges und auch für Oberflächlichkeit. Plastik hat zwar viele Vorzüge, doch dessen ungeachtet ist ein Vergleich mit Plastik selten als Kompliment gemeint. Man mag einen Turner oder Akrobaten aufgrund seiner Elastizität bewundernd mit Plastik vergleichen, doch meist verbinden sich mit dem Material negative Eigenschaften. ›Wie Plastik‹ meint fast immer, dass etwas wertlos oder eine Mogelpackung ist. Dieses Image kommt nicht von ungefähr, denn Plastik ist Surrogat, Material für Imitate. Die dritte Lesart des LPC-Slogans bezieht sich schließlich auf eine herausragende Eigenschaft des Kunststoffs: die Formbarkeit. Man kann das Material schlicht in jede denkbare Form bringen. Wenn also die Zukunft wie Plastik ist, kann sie beliebig geformt werden. Es stellt sich nur die Frage, wer resp. was formt. Sind es, wenn sich Zukunft lediglich auf ein Subjekt bezieht, eher individuelle Wünsche und Vorstellungen, die den Formungsprozess tragen, oder eher Einflüsse von außen? Doch so oder so: Angelegt ist hier die Idee grenzenloser Möglichkeiten, die im Plastik und damit in der Zukunft steckt.
Im Roman wird der Formungsprozess auch als ein sich unendlich wiederholendes intimes Spiel von Maschinenteilen, als ein kurzes, erotisches Zusammentreffen von Metallstücken beschrieben:
Howard drückte auf den Knopf: ein Surren, ein Jaulen, das Summen gespeicherter Energie: das Heranrauschen von rohem Plastik, metallene Prägeplatten glitten vorwärts, trafen aufeinander, schlossen sich innig zusammen, Vollzug der Form: Sie trennten sich, die heiße, vollkommene Gestalt glitt hinunter durch die Kühlkammer. Und wieder und wieder und wieder, Produktionszyklus, Schöpfungskreis – formen, küssen, trennen, ausstoßen: Grüne Spielzeugkobolde rollen aus der Röhre in den Korb.42
Nun kann der Akt der Formung, der hier beschrieben wird, mit Roland Barthes auch als »magische[] Operation«43 bezeichnet werden: »Auf der einen Seite der tellurische Rohstoff, auf der anderen der perfekte, vom Menschen gemachte Gegenstand. Zwischen diesen beiden Extremen nichts; nichts als eine Wegstrecke«.44 In Alles Plastik ist die Plastikverwandlung sogar doppelt magisch, weil kleine Plastikkobolde entstehen, also magische Wesen aus magischer Materie. Doch hinter der totalen Formbarkeit des Kunststoffs, der sich der Endgültigkeit der Form, der Idee einer Ideal-Form, zu entziehen scheint, steckt noch mehr: Sie sei, wie Roland Barthes in seinem bekannten Plastik-Essay festhält, mit ständigem Staunen verbunden, mit dem »Träumen des Menschen vor dem Wuchern der Materie, vor den Verbindungen, die er zwischen der Einzahl des Ursprungs und der Vielzahl der Wirkungen entdeckt«.45 »Dieses Erstaunen«, schreibt Barthes weiter, »ist übrigens ein freudiges, weil der Mensch am Ausmaß dieser Verwandlungen seine Macht ermißt und weil der Weg, den das Plastik dabei nimmt, ihm das beglückende Gefühl verleiht, virtuos durch die Natur zu gleiten«.46 In letzter Konsequenz könne die ganze Welt plastifiziert werden, sogar das Leben selbst.47
Nachdem Howard seiner Begleiterin Carol die Maschinenhalle gezeigt hat, führt er sie in Charlies Büro, ein kleines Plastikparadies oder eine Plastikhölle, je nachdem, wie man zum Kunststoff steht.
›Mensch. Der mag Plastik wirklich, was?‹
›Wohl schon. Das ist so der Einschlag Mystik bei ihm.‹
Alles hier drinnen bis auf das Kokain und Cannabis in der obersten Schublade von Charlies schwarzem Polypropylenschreibtisch war aus Plastik. Die Bilder, die Stereoanlage, der Computer, das Fenster, das Mobiliar, selbst der Wandbehang. Alles war stolzerweise, loyalerweise, selbstgefälligerweise Plastik […].
›Wenn mehr Geld da wäre, dann könntest du oder könnte dieser Charlie sich doch was Netteres leisten. Holz. Oder sogar Marmor. Plastik ist poplig.‹
[…]
›Plastik ist nicht poplig.‹
›Aber natürlich ist Plastik poplig. Das weiß ja jeder. Kein Stil. Es ist vulgär. Schau dir das Büro hier an. Willst du vielleicht sagen, daß das nicht poplig ist.‹
›Aber doch nur, weil Charlie poplig ist. Plastik kann alles sein, was man will, das ist doch der springende Punkt. Wenn die Form gut genug ist, wird alles möglich. Wenn Charlie Stil hätte, dann könnte das Büro wunderbar sein und trotzdem immer noch aus Plastik.‹48
Am Plastik, das macht der Dialog deutlich, scheiden sich die Geister. Vielen gilt es als billiger Ersatz. Ihm haftet, wie schon bemerkt wurde, der Makel des Unechten, des Künstlichen, des Vorspielsens falscher Tatsachen an. Die Maxime der Plastikgegner lautet: Wer etwas auf sich hält, kauft keinesfalls Dinge aus Plastik, sondern aus hochwertigen Materialien, d.h. aus Materialien, die nicht im Chemielabor entstanden sind, sondern in der Natur vorkommen. Aber es gibt auch jene, die das Plastik aufgrund all seiner Vorzüge feiern. Plastik ist abwaschbar und deshalb hygienisch. Es ist leicht verfügbar, billig und damit demokratisch – Silberbesteck kann sich nicht jeder leisten, Besteck aus Plastik schon, ein Tisch aus massiver Eiche ist für viele unerschwinglich, ein Tisch aus Plastik ist dagegen ein Möbelstück für jeden Geldbeutel. Zudem kann Plastik jede Farbe annehmen, klar wie Glas sein, wie Holz oder Marmor aussehen. Es kann hart oder weich, biegsam oder fest sein. Es kann zu Strümpfen und Jacken, zu Modeschmuck, Möbeln und Autokaroserien, zu Verpackungen aller Art, zu Informationsträgern wie Schallplatten, Filmrollen oder CDs, zu Tischtennisbällen, ja sogar zu Musikinstrumenten oder Körperteilen verarbeitet werden. Plastik ist ein Alleskönner, ein Chamäleon aus der chemischen Industrie. Trotzdem konnte es sein schlechtes Image nie ganz abschütteln.
Charlie gehört zu der (vermutlich ziemlich kleinen) Gruppe, die Kunststoff vergöttert. Er ist verrückt nach Plastik und muss nicht erst langatmig von dessen positiven Qualitäten überzeugt werden. Er ist ein Plastic Man49 und deshalb liebt er es, im Happy Eater zu Mittag zu essen:
Er war froh, hier zu sein […]. Er fühlte sich unweigerlich wohl dabei. Alles war aus Plastik. In einer Ecke mit imitierten Ziegelwänden wurden Neuheiten für die ganze Familie verkauft, bunte Dinger in Zellophan, die aussahen wie Dildos […]. Rote Plastiktische, grüne Plastikstühle. Pflanzen überall, und alle aus Plastik, Polyesterseide, auf den Fensterbrettern, in Körben, die von der Decke hingen, an die Holzeffektwände hinter der Küchentheke gepinnt […]. Eingeschweißte Speisekarten, beige für die Hauptmahlzeiten, blau für das Happy-End der Desserts.50
In dieser Plastikwohlfühloase erzählt Charlie eine kleine Anekdote:
Hören Sie sich mal folgendes an […]. Das war Anfang der Fünfziger, als die Tupperware so langsam ganz groß rauskam. Die ist, das wissen Sie sicher, von einem Ami erfunden worden, Earl Tupper. Mein Vater hatte die Idee, sich eine Lizenz zu besorgen für die Produktion hier bei uns. Man muß es ihm lassen, er hat gemerkt, was da drin war. Aber jetzt kommt’s – er war überzeugt davon, und das konnte man ihm einfach nicht ausreden, daß dieser Ami ein Adliger war. Daß Earl sein Titel war, Herrgott noch mal! Bestand einfach drauf, alle Briefe an den Earl of Tupper zu schreiben. Telephonate, wo er in bester aristokratischer East-End-Manier gesagt hat, er möchte gerne mit Lord Tupper sprechen. Unglaublich.51
Soweit der Blick in die Familiengeschichte. Aber was bringt die Zukunft? Howard jedenfalls weiß nur so viel: »[M]eine Zukunft ist wie Plastik, ich bin jetzt am Laufen. Ich laufe jetzt richtiggehend, hinaus aus der Stadt, niemand weiß, wohin, nicht einmal ich…«.52 Damit nimmt Howard zum einen den LPC-Slogan auf, der eine frei zu gestaltende Zukunft verspricht, ohne dabei etwas über eine spezifische oder mögliche Form und formgebende Kräfte auszusagen, zum anderen spielt er auf die völlige Offenheit der Entwicklungen in der florierenden Kunststoffbranche an, welche offenbar dabei ist, unbekanntes Terrain zu erschließen. Konkreter als Howard äußert sich ein LPC-Mitarbeiter:
›Die Zukunft, das sind die Supraleiter aus Plastik […], nur eins hält uns da auf.‹
›Das wäre?‹
›Plastik leitet nicht so toll. Kommt aber noch. Nur eine Frage der Moleküle. Wer dieses Problem löst, der kommt ins Buch der Rekorde. Geben Sie mir Zeit fürs Labor, das ist alles, was ich will. Wir ernten beide Ruhm und Ehre.‹53
Der Mensch, so scheint es, beherrscht das Spiel mit den Molekülen. Es klingt, als müssten postmoderne Alchemist*innen lediglich in ihrer geheimen Giftküche ein wenig mit verschiedenen Substanzen, Hitze und Druck experimentieren und – voilà – schon steht ein neuer Kunststoff zur Verfügung, der kann, was bisher keiner konnte. Das Einsatzgebiet des Materials kann scheinbar beliebig ausdehnt werden, wenn die molekulare Struktur ein wenig verändert wird. Alles scheint möglich zu sein, alles eine Frage der Zeit. Der Mensch fühlt sich sicher – und mächtig.
Josef Hausen visualisiert ebendiese Macht und Machbarkeit, die schon aus dem Titel seines populärwissenschaftlichen Buches Wir bauen eine neue Welt spricht, im »Regenbogen der Materialien«.54 Er besteht aus den wohlbekannten Materialien Gummi, Seide, Porzellan, Leder, Holz, Glas und Metall sowie aus neuen Kunststoffen, die jeweils mehrere Eigenschaften bündeln. So ist etwa Polyäthylen elastisch wie Gummi, leicht wie Porzellan und unzerbrechlich wie Metall, Acrylglas ist klar wie Glas, zäh wie Leder und obendrein gummiartig. Die Kunststofftechnik, heißt es begleitend zur Grafik, schaffe neue Werkstoffe mit neuen, bislang unbekannten sog. »Eigenschaftsschnittpunkten«.55 In Hausens »Regenbogen« ist das zentrale Versprechen der Kunststoffindustrie angelegt: die Erzeugung maßgeschneiderter Kunststoffe für jeden gewünschten Anwendungsbereich.
Nun, da so viele Kunststoffe zur Verfügung stehen, stellt sich die entscheidende Frage, in welche Formen das Plastik gebracht werden soll. Der Aspekt der Formbarkeit ist bereits aufgetaucht, jedoch wurde er bislang nicht designtheoretisch beleuchtet. Diesbezüglich ist ein Beitrag des Architekten, Ingenieurs und damaligen Leiters des Deutschen Werkbundes Hans Schwippert (1899–1973) aufschlussreich. Er thematisierte 1952 im Rahmen des Darmstädter Gesprächs über »Mensch und Technik« die bis dato nicht da gewesene Gestaltungsoffenheit, welche die Designer*innen vor völlig neue Herausforderungen stelle:
Was da an neuen Stoffen vor uns steht, ist in einem Maße willfährig uns gegenüber, wie wir das bisher nicht gekannt haben. Da gibt es plastische Stoffe, die sagen gar nicht mehr: Ich bin so, und du, Gestalter, du Hersteller mußt sehen, wie du mit mir fertig wirst; sondern diese neuen Stoffe sagen: Bitte schön, ein Eßlöffel von dem, ein Teelöffel von jenem, und ich bin wieder anders […]. Wir stehen vor einer Aufgabe der souveränen Beherrschung der Stoffe, die wir bisher nicht hatten, und sind damit vor einer Weite, für die wir uns nicht ganz gerüstet fühlen.56
Noch nie zuvor waren Designer*innen so frei im Umgang mit einem Werkstoff wie mit Plastik. Doch die ungeahnten Möglichkeiten können nicht nur befreien, sie können auch hemmend wirken. Veritable Verunsicherung und zügelloses Experimentieren – das sind die beiden Pole, zwischen denen sich die Produktgestalter*innen bewegen. Ist es besser, sich an Altbewährtes zu halten, oder kann Neues gewagt werden? Wie könnte dieses Neue aussehen? Lösungen präsentieren etwa die Ausstellung Plastik. Die Welt neu denken sowie das Deutsche Kunststoffmuseum.57
Im Roman Alles Plastik wird pointiert vorgeführt, dass der grenzenlose Gestaltungsspielraum zur Herstellung fragwürdiger, wenn nicht völlig absurder Objekte führen kann. Die Firma LPC möchte etwa die Decke der Sixtinischen Kapelle und Michelangelos David aus Plastik unter die Leute bringen. Grenzenlose Möglichkeiten und grenzenloser Blödsinn liegen, das zeigen diese Beispiele, manchmal nah beieinander. Was im Roman nicht konkret angesprochen wird, ist, dass sowohl die leichte Verfügbarkeit als auch die niedrigen Kosten für den Werkstoff unzweifelhaft zur Flut an Plastikobjekten beitragen, die man als Schund bezeichnen muss. Natürlich lässt sich über Geschmack streiten.58 In diesem Zusammenhang wäre dann auch über Design im Allgemeinen, (un)mögliche Formen und Funktionen sowie (un)geeignete Materialien im Einzelnen zu diskutieren.59 Um die Formulierung von Lösungen geht es dem Autor von Alles Plastik indes nicht. Stattdessen gibt er mit seinem Buch einen Impuls für eine eingehende Auseinandersetzung mit dem äußerst vielschichtigen Thema ›Plastik‹, und zwar jenseits eines Denkens in Gut und Böse.
Im Gegensatz zu Plastikimitaten von Kunstwerken sind Verpackungen aus Kunststoff äußerst nützlich. In der Welt der Verpackungen hat sich Plastik schon längst etabliert. Nicht nur Warenverkäufer*innen, auch die Werbeindustrie macht sich die Vielseitigkeit des Materials zu Nutze. Mal locken bunt bedruckte Verpackungen, mal glänzende und glitzernde Oberflächen, mal versprechen transparente Umhüllungen Reinheit und Frische, mal faszinieren ungewöhnliche Produktformen. Die Verpackung soll Begierden wecken. Alles soll unberührt, appetitlich, blitzsauber und unwiderstehlich aussehen. Die Industrie möchte schnellen, einfachen, bestenfalls ungezügelten Konsum: ans Supermarktregal treten, zugreifen und ab mit dem Artikel in den Einkaufskorb, dann noch kurz an der Kasse bezahlen. Zu Hause fallen sie, die Plastikhüllen. Einkaufen erscheint, so gesehen, geradezu als erotischer Akt. Es wird verhüllt und ausgepackt, es werden Begierden geweckt und mit deren unkomplizierter Erfüllung gelockt. Die Optik der Waren ist verführerisch. Die Käufer*innen sollen dem Angebot verfallen, und zwar ohne viele Worte. Flusfeder spricht in seinem Roman treffend vom »Plastikeros«60, der, das sei hinzugefügt, gerade auch im Hinblick auf Sexpuppen und anderes Sexspielzeug aus Plastik bedeutsam ist:
Einkaufsbummel, Vivien und Howard, ein Supermarktrendezvous, das romantische Flair von frischem Obst und Gemüse, der Plastikeros der Verpackung […]. Sie rollen ihren Einkaufswagen zwischen Früchten und Salat hindurch, gierige Konsumtouristen von entschlossener Promiskuität, die Pflaumen aus Spanien pflücken, Tomaten aus Jersey, Zitronen aus der Türkei.61
Abschließend sei erwähnt, dass in Alles Plastik Umweltproblematik und Gesundheitsrisiken nur am Rande zur Sprache kommen. »Und Grund und Boden?«, wird im Roman gefragt.
Ach, wertlos, mein Junge. All die Gifte und der Schmutz, die da jahrzehntelang eingesickert sind. Unmöglich, da zu bauen, mach dir da keine Gedanken drüber, ich werd das schon für eine nominelle Summe los, ich kenn da einen Burschen im Gemeinderat… […]. Wir können hier also nichts bauen? Gewiß nicht. Keine Häuser oder Läden. Aber einen Parkplatz vielleicht? Na ja, möglicherweise.62
David Flusfeder hat, das sollte aus dieser Buchbesprechung hervorgehen, für seinen Roman nicht nur tief in die Plastik-Kiste gegriffen, er hat sie umgekippt und ausgeleert. Vor den Leser*innen liegen sie nun, all die Plastikdinge, die uns tagein, tagaus begleiten und deren Materialität wir meist nicht mehr bewusst wahrnehmen, weil wir uns so sehr an sie gewöhnt haben. Dabei lohnt es sich, die Aufmerksamkeit ab und an auf die materielle Ebene zu lenken, denn Material erzählt viele Geschichten.
5. Aus dem Off
Beim Lesen des Romans bin ich auf insgesamt drei Auszüge aus einer Festschrift gestoßen, die mit Ein Jahrhundert Plastik (1962) betitelt ist. Verfasst hat sie ein gewisser H. C. Willi. Wie spannend, dachte ich, und wollte die komplette Publikation lesen. Also habe ich mich auf die Suche gemacht. Ich recherchierte in den Online-Katalogen diverser Bibliotheken und Archive und natürlich benutzte ich auch die Google-Suchmaschine, doch alle Anläufe, die Festschrift zu finden, liefen ins Leere. Die Schrift war einfach nicht aufzufinden. Konnte es sein, dass es sie gar nicht gab? Hat David Flusfeder hier vielleicht nicht zitiert, sondern erfunden? Möglich wäre es. Um der Sache auf den Grund zu gehen, habe ich zunächst den S. Fischer Verlag kontaktiert, bei dem Alles Plastik in der deutschen Übersetzung erschienen ist, später schrieb ich den Autor direkt an. David Flusfeder war sehr überrascht und ebenso erfreut, dass das Buch über 20 Jahre nach seinem Erscheinen von mir gefunden und gelesen wurde. Er verriet mir dann auch, dass der Text von H. C. Willi aus seiner Feder stammt. Er meinte sich daran zu erinnern, dass er sich damals – aus welchen Gründen auch immer – Herrn Willi als Schweizer vorstellte. Erfunden habe er ihn, weil er einen poetischen Gläubigen, einen Plastik-Utopisten suchte, jedoch niemanden fand, der ihm zusagte. Außerdem erfuhr ich, dass sich der Roman zum einen auf seine eigene Familiengeschichte stützt, zum anderen auf das Gefühl, in einer katastrophalen Welt zu leben, die aber durch eine fast magische Substanz umgewandelt oder verbessert werden kann. Mit dem Titel Like Plastik – über das Wortspiel habe ich bereits gesprochen – wollte Flusfeder zum Ausdruck bringen, dass Dinge und Menschen formbar sind, dass sie sich verändern können. Es sei, so der Autor, die Idee des Möglichen, die im Plastik stecke. Er wollte die Leser dazu auffordern, Zuneigung für einen Stoff zu empfinden, der weithin als etwas Abwertendes und Billiges angesehen wird. Er wollte, dass sie Plastik mögen. Ob ihm das gelungen ist, sei dahingestellt.
Im Gegensatz zu Autoren wie Joseph Hausen und Franz Ulrich Gass, deren sich durch einen aufklärerisch-euphorischen Grundton auszeichnenden Werke in den Anfangsjahren des Plastikbooms erschienen, zeichnet Flusfeder ein multiperspektivisches Kunststoff-Panorama, das in seiner Vielstimmigkeit gerade auch die Schattenseiten des Materials zeigt. Völlig unvorteilhaft für diesen Werkstoff ist beispielsweise, dass ausgerechnet der egozentrische, machtbesessene, skrupellose und drogenabhängige Charlie plastikversessen ist. Unzweifelhaft färbt der schmierige Charakter dieses Protagonisten, dessen Fetisch lächerlich und zugleich abstoßend wirkt, auf das Material ab. Charlie eignet sich ebenso wenig als Werbefigur für Kunststoff wie die Comic-Figur Plastic Man, bei der es sich um eine Parodie der damals wie heute beliebten Superheldenfiguren handelt. Stefan Schweiger titelt völlig zurecht: »Plastic Man – aus Plastik formt man keinen Superhelden«.63 Auch der nachdenkliche Howard vermag es nicht, sein Umfeld und die Leser*innen des Romans für das Material zu begeistern. Seine in die Tiefe weisende grüblerische Art steht in auffallendem Gegensatz zum Plastik, welches vornehmlich mit Flachheit resp. Oberflächlichkeit in Verbindung gebracht wird.64 Zwar tritt er für Kunststoffe ein und betont deren Vorzüge, doch in seiner Zurückhaltung wirken die Aussagen stets etwas kraftlos – im Übrigen brachte Hans Schwippert Plastik mit »neuartige[n] Kräfte[n]«65 in Verbindung, ein Konnex, der wie vieles andere im Rahmen dieses Aufsatzes ausgeblendet werden muss. Strahlkraft besitzen demgegenüber die Äußerungen von H.C. Willi, der eine elegante und elastische Plastik-Zukunft imaginiert:
Fly me, so brachte der romantische Tenor von Hoboken seine Serenade dar, to the moon. Wenn man uns zum Mond fliegt – nein, wenn wir selbst zum Mond hinauffliegen und immer weiter, zu den Sternen, diesen liebenswürdigen Welten, die wir in unseren Winternächten am Himmel glitzern sehen, was werden wir für Flügel tragen? Sie werden nicht aus Holz sein und nicht aus Federn, armer Ikarus. Bronze und Silber und Gold sind zu primitiv, zu unelastisch für uns. Während Eisen und Stahl wiederum weit unter unserer Würde sind, die Materialien eines schmutzigen, der Eleganz ermangelnden Zeitalters. Wir werden auf der Fahrt mit Luxuscocktailbars und Swimmingpools und Bibliotheken versehen sein, wenn wir uns rasch und effizient den Gestirnen nähern. Wir werden unsere Reisen und all unsere neuen Entdeckungen mit großzügiger Wohlgelauntheit genießen. Denn unsere Flügel werden aus Plastik sein.66
Kaum überraschend ist, dass Flusfeder die von ihm erdachte Festschrift, aus der diese Zeilen stammen, im Jahr 1962 erscheinen lässt, denn zu dieser Zeit blickten die Plastikapologet*innen ungetrübt in eine synthetische Zukunft. Plastik war ihnen mehr als nur bloßer Werkstoff. Als Wunder-Stoff sollte es die Welt erobern, was es ja dann auch tat. Inzwischen ist das Wunderbare in den Plastik-Erzählungen zwar nicht gänzlich abhandengekommen, doch wird es häufig vom schweren Ballast, der sich in den vergangenen Jahrzehnten angehäuft hat, erdrückt.
Was deutlich geworden sein sollte, ist, dass eine interdisziplinäre Studie über Kunststoffliteratur dazu beitragen kann, Geschichten, Narrative, Bedeutungen und Konstellationen ans Tageslicht zu bringen, die im Plastikdiskurs bislang nicht berücksichtigt wurden. Ein*e Pop-Literat*in würde es vielleicht so ausdrücken: »Mach Platz für’s aufblasbare Einhorn und lass dich überraschen, Baby!«
Literaturverzeichnis
Fußnoten
1 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2021): Einweg-Plastik wird verboten. Die Bundesregierung: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/einwegplastik-wird-verboten-1763390. (17.05.2022) 2 Mienes, Karl (1965): Das Plasticaeum. Über Kunststoffe (Plastics) und ihre Wegrichtung. Essen: Girardet. Die Digital Designerin Simone Glück nimmt den von Mienes geprägten Begriff in ihrer Abschlussarbeit auf, einer interaktiven Reise durch die Geschichte des Kunststoffs. Mit Plasticaeum – a travel through the age of plastics gewann sie den DDC University Award 2019 sowie den ADC Junior Award 2020. Vgl. Website der Designerin: https://www.simoneglueck.com/project/plasticaeum, Hochschule Augsburg: https://showcase.hs-augsburg.de/2019/plasticaeum. (17.05.2022) 3 Aktuelle Daten und Fakten zur Welt der Kunststoffe finden sich z.B. im Ausstellungskatalog Plastik. Die Welt neu denken (2022). 4 Fast alle Vorträge können auf der Website der Universität Bern angesehen werden: https://www.unibe.ch/universitaet/universitaet_fuer_alle/collegium_generale/ringvorlesungen/fruehere_ringvorlesungen/vorlesungsreihen_detailseiten/plastik__magische_materie_und_globale_last_hs_2021/index_ger.html. (17.05.2022) 5 https://www.youtube.com/watch?v=ZyhrYis509A. (19.06.2022) Ich bedanke mich sehr herzlich bei Annika Völk für diesen musikalischen Hinweis. 6 Die erste Auflage erschien 2013. 7 https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/189230/plastic-planet/. (27.05.2022) 8 Vgl. Rettig, Sascha (2010): Interview – »Der Film ist meine Entdeckungsreise«. Ein Gespräch mit Werner Boote über die Entstehung seiner Dokumentation Plastic Planet und über das, was er damit erreichen möchte. Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/189245/interview-der-film-ist-meine-entdeckungsreise/. (27.05.2022) 9 Schilling, Thorsten (2014): Editorial. In: fluter 52, S. 3. 10 Vgl. Ludwig, Jan (2014): Kunststoffe sind ein Traum für Chemiker: Wer nur lange genug kocht und rührt, findet womöglich ein Rezept für Plastik. Denn die Geschichte der Kunststoffe ist auch eine Geschichte der glücklichen Zufälle. In: fluter 52, S. 6–7, hier S. 7. 11 Die Originalausgabe erschien bereits ein Jahr zuvor unter dem Titel Plastic. The Making of a Synthetic Century. 12 Fenichell, Stephen (1997): Plastic. Unser synthetisches Jahrhundert. Berlin: Rütten & Loening, S. 13. 13 Bartels, Heiko/ Fischer, Gerhard/ Hüskes, Charly et al. (1985): Kunstflug über Ulm und anderswo. In: Breuer, Gerda/ Eisele, Petra (Hgg.) (2020): Design. Texte zur Geschichte und Theorie. Stuttgart: Reclam, S. 178–181, hier S. 180. 14 Bartels: Kunstflug, S. 178. 15 Konsequenterweise machten die Designer dann auch nicht Halt vor einer Design-Ikone aus Ulm, dem »Ulmer Hocker«, welcher u.a. von Max Bill entwickelt wurde. Ihre Interpretation nannten sie »Max Schrill« (https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/XILBX2AGCOBZGIVETIMS7QXBU3W3RYEH. 27.05.2022). 16 Bartels: Kunstflug, S. 180. 17 Der Student entwickelte das Kleidungsstück im Rahmen seiner Diplomarbeit in der Abteilung »Produktgestaltung« an der HfG Ulm. Zur Arbeit mit Kunststoffen an der HfG Ulm siehe: Seckendorff, Eva von (2003): Wir schmeißen die Gold- und Silberschmiede raus und richten ein Kunststofflabor ein! In: Rinker, Dagmar (Hg.): Ulmer Modelle – Modelle nach Ulm. Hochschule für Gestaltung Ulm 1953–1968. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, S. 100–105. Die HfG Ulm ist ein Beispiel dafür, dass es schon früh einen Austausch zwischen Industriedesigner*innen und chemischer Industrie wie der BASF gab. Letztere gründete 2006 die sogenannte designfabrik®, wo u.a. die Möglichkeiten neuer Kunststoffe ausgelotet werden. Hierzu: Grossmann, Yves Vincent (2018): Von der Berufung zum Beruf. Industriedesigner in Westdeutschland. 1959–1990. Bielefeld: transcript, v.a. S. 66–94. 18 Rubin, Eli (2021): Plaste, Gestaltung und Sozialismus in Ostdeutschland. In: Vitra Design Museum/ Kunstgewerbemuseum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden/ Wüstenrot Stiftung (Hgg.): Deutsches Design (1949–1989). Zwei Länder, eine Geschichte. Weil am Rhein: Vitra Design Museum, S. 162–171, hier S. 162. 19 Dominik, Hans (1936): Vistra, das weiße Gold Deutschlands. Die Geschichte einer weltbewegenden Erfindung. Leipzig: Hase & Koehler, o.S. 20 Hausen, Josef (1957): Wir bauen eine neue Welt. Das Buch der Kunststoffe und Chemiefasern. Berlin: Safari, 21f. 21 Von dieser sprach bereits Roland Barthes in seinem oft zitierten Plastik-Essay [1957] (2020), zu finden in: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Berlin: Suhrkamp, S. 223–225. 22 Gass, Franz Ulrich (1956): Cellophan. Erfindung und Welterfolg, hrsg. zum 50 jährigen Arbeitsjubiläum von Adolf Todt bei der KALLE & Co. Aktiengesellschaft Wiesbaden-Biebrich 29./30. Juni 1956, Eßlingen: Kalle, S. 7. 23 O.N. (1936): Cellophan. Der Erfinder: ein Schweizer. In: Zürcher Illustrierte 12, S. 1166–1186, hier S. 1182. 24 Bilder von Plastik 1850-heute, in: Kries, Mateo/ Eisenbrand, Jochen/ Hoffmann, Mea et al. (Hgg.) (2022): Plastik. Die Welt neu denken. Weil am Rhein: Vitra Design Museum, S. 70. 25 Braun, Dietrich (2017): Kleine Geschichte der Kunststoffe. München: Carl Hanser, S. 18f. 26 Einführend etwa Priesner, Claus (2015): Chemie. Eine illustrierte Geschichte. Stuttgart: Konrad Theiss. 27 Heubach, Friedrich W. (1987): Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge. Ein Beitrag zur Psychologie des Alltags. München: Fink, S. 126. 28 Heubach: Das bedingte Leben, S. 127. 29 Heubach: Das bedingte Leben, S. 128. 30 Vielleicht provoziert das Resopal-Möbel aber auch Vandalismus. Heubach stellt diesbezüglich folgende rhetorische Frage: »Denn in einem Environment derart panischer Solidität, in dem alles sofort und garantiert spurenlos wieder in Ordnung zu bringen ist – wie soll sich da einer bemerkbar machen, sich seiner selbst, seines Einwohnens oder seines Widerstandes anschaulich vergewissern können anders, als mit Unordnung und groben Schikanen?« (Heubach: Das bedingte Leben, S. 132). 31 Die 1. Auflage erschien 2010. 32 Waidner, Isabel (2019): Geile Deko. Aus dem Englischen von Ann Cotten, Berlin: Merve, S. 9. 33 Vgl. Braun: Kleine Geschichte der Kunststoffe, S. 5. 34 Rohde, Carsten (2015): Plastic Fantastic. Stichwörter zur Ästhetik des Kunststoffs. In: Heibach, Christiane/ Rohde, Carsten (Hgg.): Ästhetik der Materialität, Paderborn: Fink, S. 123–144, hier S. 126. 35 Vgl. Ratzesberger: Plastik, S. 42. 36 Einschlägig: Rübel, Dietmar/ Wagner, Monika/ Wolff, Vera (Hgg.) (2017): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur. Berlin: Reimer; Wagner, Monika (2013): Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München: Beck; Wagner, Monika/ Rübel, Dietmar/ Hackenschmidt, Sebastian (Hgg.) (2012): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn. München: Beck; Rübel, Dietmar (2012): Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen. München: Schreiber. 37 Vgl. Barthes: Plastik, S. 225. 38 Flusfeder, David (1998): Alles Plastik. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 51. Im Übrigen sind Knöpfe aufgrund ihrer Größe und Schlichtheit ideal für die Erprobung neuer Materialien geeignet. Die Vielfalt alter Kunststoffknöpfe legt Zeugnis ab von der Offenheit der Knopfhersteller*innen für den künstlichen Stoff. Manche Knöpfe ahmen traditionelle Materialien wie Schildpatt nach, aus anderen spricht die Experimentierfreudigkeit der Entwerfer*innen (vgl. Objektgalerie in: Plastik. Die Welt neu denken, S. 122). 39 Flusfeder: Alles Plastik, S. 30f. 40 Flusfeder: Alles Plastik, S. 58. 41 Die Eigenschaft der Verformbarkeit ist schon auf begrifflicher Ebene angelegt. Hierzu: Rohde, Carsten: Plastic Fantastic, S. 123–144. 42 Flusfeder: Alles Plastik, S. 99f. 43 Barthes: Plastik, S. 223. 44 Barthes: Plastik, S. 223. 45 Barthes: Plastik, S. 224. 46 Barthes: Plastik, S. 224. 47 Nebenbei bemerkt, betrifft die Plastifizierung nicht nur das Leben, sondern auch den Tod, wie man in der von Gunther von Hagens entwickelten Ausstellung »Körperwelten« entdecken kann, wo sog. Plastinate zu sehen sind (https://koerperwelten.de. (23.09.2022) 48 Flusfeder: Alles Plastik, S. 103f. 49 Plastic Man ist auch der Titel eines Comics von Jack Cole (1914–1958). Das erste Heft der Reihe erschien 1941 in den USA. Später war die Geschichte um den unsympathischen, dafür aber extrem elastischen Helden auch als Trickfilmserie im Fernsehen zu sehen. Sie ist eine Parodie auf das damals wie heute populäre Superhelden-Genre (vgl. Schweiger, Stefan (2020): Plastik. Der große Irrtum, München: riva, Kapitel: Plastic Man – aus Plastik formt man keinen Superhelden). Natürlich wäre das Comic, von dem auch eine Fassung in deutscher Sprache vorliegt, ein Teil der noch zu schreibenden (deutschsprachigen) Literaturgeschichte der Kunststoffe. 50 Flusfeder: Alles Plastik, S. 146. 51 Flusfeder: Alles Plastik, S. 150. Die Welt von Tupperware ist ein eigenes Kapitel in der Geschichte der Kunststoffe. Siehe z.B.: Clarke, Alison J. (2001): Tupperware. The Promise of Plastic in 1950’s America. London: Smithsonian. Einblicke in das Plastikuniversum gibt außerdem Tim Reckmanns Insider-Report Plastikpacker. Drei Jahre als männliche Tupperware-Beraterin (2009). 52 Flusfeder: Alles Plastik, S. 113. 53 Flusfeder: Alles Plastik, S. 318f. 54 Hausen: Wir bauen eine neue Welt, S. 15. 55 Hausen: Wir bauen eine neue Welt, S. 15. 56 Schwippert, Hans (1952): Mensch und Technik. In: Rübel, Dietmar/ Wagner, Monika/ Wolff, Vera (Hgg.) (2017): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur. Berlin: Reimer, S. 84–87, hier S. 86. 57 Vgl. https://www.deutsches-kunststoff-museum.de/sammlung/virtuelles-museum/. (27.05.2022) 58 Weiterführend: Dettmar, Ute/ Küpper, Thomas (Hgg.) (2007): Kitsch. Texte und Theorien. Stuttgart: Reclam. 59 Exemplarisch: Hornuff, Daniel (2020): Die Fragwürdigkeit des guten Designs. In: Pop. Kultur und Kritik, Heft 16, S. 35–40 (https://pop-zeitschrift.de/2022/05/31/die-fragwuerdigkeit-des-guten-designsautorvon-daniel-hornuff-autordatum31-5-2022/. (24.09.2022) 60 Flusfeder: Alles Plastik, S. 245. 61 Flusfeder: Alles Plastik, S. 245. 62 Flusfeder: Alles Plastik, S. 367f. 63 Schweiger: Plastik, S. 78. 64 Rathe, Clemens (2020): Die Philosophie der Oberfläche. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung. Bielefeld: transcript, S. 112ff. 65 Schwippert: Mensch und Technik, S. 87. 66 Flusfeder: Alles Plastik, S. 351.