Grandl, Matthias/Möller, Melanie (Hg.) (2021): Wissen en miniature. Theorie und Episte­mo­logie der Anekdote. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag (= Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte, hrsg. von Gyburg Uhlmann im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 980 »Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit«, Band 19), 316 S., ISBN 978-3-447-11540-7.  Eine Rezension von Bernhard Stricker

Anekdotische Evidenz genießt keinen guten Ruf. Wo sie im öffentlichen oder politischen Diskurs beschworen wird, geschieht das in aller Regel zum Zweck der Diskreditierung der von anderen erhobenen Wissensansprüche, deren Bezeichnung als ›anekdotische Evi­denz‹ impliziert, es würden aus einem wenig belastbaren Einzelfall ungedeckte Schlüsse gezogen. Nicht immer aber galt die Anekdote wegen ihrer Fokussierung auf den Einzelfall schon als epistemisch un­­­­­­­zuverlässig. Dass sie am Maßstab heutiger empirischer, etwa statistischer Methoden gemessen unwissenschaftlich erscheinen mag, sollte nicht übersehen lassen, dass die Anekdote den Status eines »zentralen Transfermediums antiken Wissens« (S. 3) beanspruchen kann. So lautet die programmatische Feststellung der Heraus­geber*innen Matthias Grandl und Melanie Möller in der Einleitung zu einem Band, der sich unter dem Titel Wissen en miniature. Theorie und Epistemologie der Anekdote dem epistemischen Potential dieser kurzen Textform widmet und der dabei nicht nur einen Bogen von der Antike bis in die Moderne spannt, sondern neben Texten auch Bilder mit in den Blick nimmt. Mit einem historisch und disziplinär breit gefächerten Spektrum von Phänomenen und Zugangsweisen gelingt es dem Band auf knapp 300 Seiten hervorragend, die Anekdote als Wissensform zu profilieren.

Dass die Aufsätze dabei auch in ihrer Gesamtheit nur exemplarischen Charakter in Bezug auf ein so weit gefasstes Phänomen wie anekdotisches Wissen beanspruchen können, entspricht durchaus dem Gegenstand der Anekdote. Deren besondere Eignung, den Ereignischarakter von Geschichte gerade durch die Unterbrechung kontinuier­licher und teleologischer Narrative hervorzukehren, war bereits von Walter Benjamin entdeckt worden, bevor die Anekdote in den Arbeiten namhafter Vertreter des New Historicism wie Stephen Greenblatt und Joel Fineman (Greenblatt 1988; Fineman 1989) eine bis heute andauernde Aufwertung erfuhr. Mit ihrem dezidiert epistemischen Anekdotenbegriff verorten sich die Heraus­geber*innen des vorliegenden Bandes klar in dieser kulturwissen­schaftlichen Denktradition und grenzen sich von stärker literaturhistorischen, gattungs­poetologischen oder narrato­logischen Ansätzen ab, wie sie etwa der jüngst von Christian Moser und Reinhard M. Möller herausgegebene Band Anekdotisches Erzählen. Zur Geschichte und Poetik einer kleinen Form (De Gruyter, 2022) repräsentiert.

Mit der ›kleinen Form‹ ist ein aktuelles literatur- und kulturwissenschaftliches Forschungs­feld benannt, in dessen Rahmen anekdotische Textformen neben anderen Gattungen der Kurzprosa seit einiger Zeit wieder eine gesteigerte Aufmerk­samkeit erfahren (Fleming 2011; Fleming 2012; Gilly 2018). Hat der Begriff der ›kleinen Form‹ seinen Ursprung in der Unter­suchung von Textgenres, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert zunächst im Zeitungs­feuilleton etabliert haben, so liegt der Fokus bei den Altphilolog*innen Matthias Grandl und Melanie Möller entsprechend ihrer Verortung im Kontext des Sonderforschungsbereichs 980 »Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit« (FU Berlin) eher auf der Vormoderne. Obwohl es dem Band ausgezeichnet gelingt, eine Brücke von der Antike über die Frühe Neuzeit bis zur Moderne zu schlagen, fällt auf, dass die für das Forschungsfeld der kleinen Form so eminent wichtige erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit keinem Beitrag repräsentiert ist. Die solcherart klaffende Lücke wird hingegen durch die Vielzahl von Querverbindungen, die sich für aufmerksame Leser*innen des Bandes zwischen den einzelnen Beiträge ergeben, kompensiert.

Der Band versammelt Ergebnisse des von Melanie Möller in der zweiten Förderphase des SFB 980 (2016-2020) geleiteten Teilprojekts »Die Anekdote als Medium des Wissens­transfers«. Die philosophischen und philologischen, kunstgeschichtlichen und komparatistischen Beiträge gehen auf eine im Rahmen dieses Projekts im Oktober 2018 veranstal­tete Tagung zurück. Die Anordnung der Beiträge in vier Sektionen folgt einer primär thematischen Gruppierung, bildet aber zugleich eine annähernd chronologische Reihenfolge. Der erste Abschnitt zur »Archäologie der Anekdote« umfasst drei Beiträge mit dem Fokus auf der Antike. Unter der Überschrift »Die Anekdote im Spiegel europäischer Literaturen« sind anschließend vier Aufsätze versammelt, die einen Bogen vom 13. bis zum 19. Jahrhundert mit einem klaren Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit schlagen. Mit »Theorie und Geschichte der Anekdote« sind wiederum drei Aufsätze überschrieben, die Texte und Autoren vom 17. bis zum 20. Jahrhundert umfassen. Den Schluss bilden zwei Artikel zum Verhältnis der Anekdote zu Bildmedien, deren Sektionstitel »Die Anekdote im Bild« insofern irreführend ist, als dass sich die Aufsätze mit der Bedeutung von Anekdoten im kunsttheoretischen und kunst­historischen Diskurs, nicht aber mit anekdotischen Sujets in der Malerei befassen.

Vorneweg findet sich ein kurzer Essay von Jürgen Paul Schwindt mit dem Titel »Was weiß die Anekdote – und wie? Grundlinien einer Theorie der Lücke (nach Sueton)«, dessen Sonderstellung nicht nur durch den grundlegenden Status der von ihm adressierten Frage nach dem Charakter anekdotischen Wissens begründet, sondern auch durch den Umstand gerechtfertigt erscheint, dass er selbst anekdotische Züge trägt: Schwindt verleiht seinen Überlegungen zur wirkungs­geschicht­lichen Bedeutung der biographischen Geschichts­schreibung Suetons eine autobiographische Dimension, indem er die Geschichte seiner eigenen Hinwendung zu dem zunächst vernachlässigten Autor der Kaiserviten erzählt. Dass seine Entdeckung Suetons nicht viel weniger als die Wiederentdeckung der Philologie markiert, mit der Schwindts Name seit geraumer Zeit verbunden ist (vgl. Schwindt 2009), erweist sich dabei als dem Umstand geschuldet, dass – wie Schwindt schreibt – »die Anekdote als literarische Kurzform, darin dem Epigramm nicht unähnlich, geeignet ist, die Erkenntnisweise(n) der Literatur besonders prägnant zur Darstellung zu bringen. Die Anekdote lässt sich gewissermaßen als eine Versuchsanordnung beschreiben, in der das markanteste Moment des gewöhnlichen Experiments außer Kraft gesetzt wird: Die Struktur des ›Immer wenn, dann‹. Die Erkenntnis, die die Anekdote zu Tage fördert, ist nicht verallgemeinerbar.« (S. 35) Eine passendere Vorrede zu diesem Band lässt sich schwer vorstellen.

Die disziplinäre Verortung eines Forschungsprojekts zur Anekdote in der Klassischen Philologie mag zunächst überraschen, denn die Blütezeit dieser Textgattung wird gern auf das 18. Jahrhundert datiert und vor allem in der französischen Literatur gesehen. Dagegen war in der Antike wohl das Phänomen (unter der Bezeichnung des Apophtegmas), nicht aber der Begriff der ›Anek­dote‹ geläufig (Schäfer 1982, 11). Dieser geht erst auf den spätantiken Autor Prokop von Caesarea (ca. 500–562) zurück, der neben seiner offiziellen Tätigkeit als Historio­graph der Feldzüge des oströmischen Kaisers Justinian I. eine historia arcana verfasste, die er wegen ihrer deutlichen Kritik an den Zuständen am kaiserlichen Hof nicht veröffentlichte (gr. anekdoton = ›unveröffentlicht‹). Wenn Rüdiger Zill, der sich mit zahlreichen einschlägigen Arbeiten zur Anekdote längst als Experte für dieses Thema etabliert hat (Zill 2014a, 2014b), in seinem Beitrag (»Geschichten in Bewegung. Zum Funktionswandel der Anekdote im 17. und 18. Jahrhundert«) überraschend feststellt, dass Prokops Berichte »paradoxerweise oft keine Anekdoten im starken heutigen Sinne sind« (S. 164), so zeigt sich darin eine Diskrepanz zwischen res et verba, Sache und Begriff, die für die ›bewegte Geschichte‹ der Anekdote an zahlreichen Stellen relevant ist. So gelangt Zill, indem er die semantischen und medialen Transfer­leistungen nachzeichnet, die mit der Einbürgerung des Terminus anecdote im Französischen im Laufe des 17. Jahrhunderts einhergingen, zu dem Nachweis, dass Prokop als der Verfasser von ›Geheimgeschichten‹ Vorbildwirkung entfaltet habe, der Begriff der Anekdote sich dabei aber von einem primär formal-publikations­technischen zu einem inhaltlich bestimmten Konzept gewandelt habe. Die Pointe von Zills Essay könnte man so formulieren: Die Anekdote im heutigen Sinne ist eigentlich nur als Effekt einer Rezeption von Texten und der mit ihnen einhergehenden Umbesetzungen des Begriffs zu verstehen. Eine der Stärken von Wissen en miniature. Theorie und Epistemologie der Anekdote besteht entsprechend darin, dass der Band Transferprozesse begriffs- oder kulturgeschichtlicher Art nachvollziehbar werden lässt und so Wissen in der Tat als das Ergebnis von Bewegungen durch Zeiten und Räume hindurch begreifbar macht.

Wenig überraschend fungiert dabei immer wieder Hans Blumenberg als Stichwortgeber, der mit seiner Studie Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie (1987) und einer etwa durch seine »Glossen zu Anekdo­ten« (1983–1988) dokumentierten Vorliebe für philosophische Miniatur-Narrative der Anekdotenforschung neue Impulse vermittelt hat. (Und zu dessen Werk Melanie Möller ebenfalls einen sehr lesenswerten Sammelband mit dem Titel Prometheus gibt nicht auf. Antike Welt und modernes Leben in Hans Blumenbergs Philosophie (Fink 2015) publiziert hat.) Der Aufsatz von Katharina Hertfelder (»Bewegungslinien der Anekdote bei Hans Blumenberg«) ist ganz explizit Blumenbergs Kommen­taren zu dem besonderen Typus der ›Wander­anekdote‹ gewidmet. Zu den zahlreichen Querverbindungen, die sich zwanglos zwischen den Aufsätzen in Wissen en minia­ture ergeben, gehört, dass sich die Reihe der von Hertfelder kommentierten »Fallgeschichten« Blumenbergs (zu Thales, Newton und Einstein) durch drei weitere anekdotische ›Fälle‹ ergänzen ließe, die im Zentrum der Beiträge von Melanie Möller (»Am Anfang war… die Kloake. Wissensanekdoten in antiker Biographik«), Mira Becker-Sawatzky (»Anekdoten im frühneuzeitlichen Kunstdiskurs. Kontexte und Funktionen am Beispiel akademischer Zirkel in Rom und Paris«) und Verena Olejniczak Lobsien (»Andrew Marvell, oder die Kunst des Schwebens«) stehen. Möllers Aufsatz skizziert, ausgehend von den Biographien der ersten Philologen in Suetons Grammatici et rhetores und damit im Gefolge Jürgen Paul Schwindts, die anekdotisch beglaubigte Genese der Philologie, wobei ihr besonderes Augenmerk dem versehentlichen Sturz des »Urvater[s] römischer Philologie« (S. 72), Krates von Mallos, in die Kanalisation gilt – eine regelrechte ›Parallel-Anekdote‹ (wie man in Anlehnung an Plutarch sagen könnte) zum Fall des Urphilosophen in eine Zisterne. Die bereits auf solcherlei ›Fälle‹ fokussierte Aufmerksamkeit der Leser*innen wird in dem umfangreichen Beitrag von Mira Becker-Sawatzky besonders die Anekdote über einen spanischen Adligen goutieren, der auf der Reise nach Neapel in eine Gebirgsschlucht stürzt und zum Dank für seine Unversehrtheit ein Votivgemälde in Auftrag gibt, in dem er die Begebenheit wahrheitsgetreu dargestellt haben möchte. Weil sein Fall jedoch zu der vom Bildbetrachter abgewandten Seite hin geschah, lässt er die erste Version des Bildes dahingehend korrigieren, dass er selbst und sein Sturz darin nicht mehr zu sehen sind. Im Mittelpunkt von Verena Olejniczak Lobsiens Aufsatz schließlich steht die Ausdeutung, welcher der englische Dichter Andrew Marvell in seinem Gedicht The First Anniversary of the Government under his Highness the Lord Protector (1654/55) den Sturz Oliver Cromwells vom Pferd, der wegen seiner ominös anmutenden Bedeutung seinerzeit heiß diskutiert wurde, unterzieht.

Die Betrachtung der Anekdote als einer Form der literarischen Skepsis wiederum verbindet Lobsiens Artikel mit den Aufsätzen von Simon Godart (»Heiterkeit. Anekdotische Isosthenie bei Montaigne«) und Tobias Reinhardt (»Zenos Hand (Cicero, Lucullus §§ 144-6)«). Godarts Beitrag nimmt ebenfalls Blumenbergs Untersuchung der Anekdote vom Fall des Protophilosophen zum Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie Montaigne sich die widersprüchlichen Anekdoten über Thales im Dienste der von ihm praktizierten »Technik einer literarischen Isosthenie« (S. 124) zunutze macht. Reinhardts philosophisch präzises close reading einer Textpassage bei Cicero hingegen ist einer von Zeno zum Zwecke der Illustration seiner Konzeption von Wissen verwendeten Geste gewidmet.

Den größten Ertrag für eine theoretisch-systematische Neuperspektivierung der Anekdote erbringt zweifellos der Aufsatz von Matthias Grandl (»Wie sich Anekdoten kommentieren. Theorie einer ›Affordanz‹ der Anekdote (nach H. Blumenberg, L. Sciascia und M.T. Cicero)«) mit seinem originellen Versuch, das auf den Wahrnehmungspsychologen James Jerome Gibson (Gibson 1979) zurückgehende Konzept der ›Affordanz‹ auf literarische Phänomene zu übertragen, um so zu zeigen, wie eine »der Anekdote ein-codierte Forderung nach einem spezifischen Umgang mit ihr« (S. 209) die Kommentatoren von Anekdoten dazu verführt, selbst in ein anekdotisches Schreiben zu verfallen.  Diese ›automimetische Tendenz‹, der zufolge Anekdoten immer neue Anekdoten zeugen, demonstriert Grandl in virtuos-komparatistischer Manier, indem er sich mit Hans Blumenberg, Leonardo Sciascia und Cicero auf drei auf den ersten Blick eher disparate Autoren bezieht.

Den Einsatz- und Endpunkt der zweiten Sektion des Bandes, die einen weiten historischen Bogen zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert aufspannt, markieren die Aufsätze von Falk Quenstedt (»Mediation neuen Wissens. Anekdoten in Marco Polos Divisament dou monde und dessen deutschsprachigen Fassungen«) und Inka Mülder-Bach (»Einzelfall, Exempel, Ausnahme: Spielräume des Anekdotischen bei Fontane«). Quenstedt zeigt in Anlehnung an Stephen Greenblatt (Greenblatt 1991), dass Marco Polos Divisament dou monde in seiner italo-französischen Fassung eine »Mediatorenfunktion hinsichtlich des für ein euro-mediterranes Publikum fundamental neuen und insofern fremden Wissens über die Mongolen« (S. 94) gehabt hat, aber auch wie diese Vermittler- und Integrationsfunktion im Zuge der Über­setzungen des Textes ins Deutsche verloren ging. Die Flexibilität der Wissensform der Anekdote erweist sich so als ambivalent: Was sie »zur Mediation und zum Transfer neuen Wissens befähigt, ist somit auch Einsatzpunkt von dessen Negation«, resümiert Quenstedt (S. 103). Zu einer Problematisierung des exemplarischen Status anekdotischen Wissens gelangt auch Mülder-Bach in ihrer Untersuchung der Anekdote als Erzähl- und Wissensform im Werk Fontanes, indem sie unter Bezug auf Figuren der Ausnahme und der Wiederholung bei Agamben und Kierkegaard einen Schwund an Eigentlichkeit und ein zunehmendes Auseinanderklaffen von Individuellem und Allgemeinem im Spätwerk Fontanes konstatiert.

Interessanterweise lässt sich eine nicht unähnliche Tendenz zur Problematisierung der exem­plarischen Geltung anekdotischen Wissens nach der Darstellung von Frank Wittchow (»Vom exemplum zur Anekdote? Das Erbe der Annalistik bei Caesar, Livius und Tacitus«) auch schon in der antiken historiographischen Tradition beobachten, womit eine weitere interessante Querverbindung zwischen den Artikeln des Bandes bezeichnet wäre. In seiner Analyse einer sich im Übergang von der Republik zur Kaiserzeit vollziehenden »Transformation […] des historischen Wissens« (S. 56) arbeitet Wittchow als deren markantes Kenn­zeichen einen Bedeutungs­verlust des exemplum zugunsten der zunehmenden Produktion von Anekdoten heraus, die sich durch ihre ironische Haltung gegenüber der Idee, dass Geschichte Handlungsanweisungen zu vermitteln imstande sei, auszeichnen. Ironisch zu verstehen ist ebenso die von dem Künstler Ad Reinhardt in seinem Lebenslauf praktizierte Relationierung individual-biographischer und historischer Ereignisse, was in dessen Rezeption nach Werner Buschs Darstellung in dem letzten Artikel des Bandes (»Ad Reinhardts Lebenslauf und seine schwarzen Bilder«) zu nicht wenigen Missverständnissen Anlass gegeben hat.

Das Verhältnis von Leben und Wissen zieht sich mit wechselnden Akzentuierungen wie ein roter Faden durch die Beiträge des Bandes. Ein wenig deutlicher hätte dieser Konnex in der von den Herausgeber*innen verfassten Einleitung profiliert sein können. Dass in deren Überschrift, »Epistemische Konstruktionen des (Auto)Biographischen in antiken und modernen Texten«, die ›Anekdote‹ überraschenderweise überhaupt nicht eigens Erwähnung findet, wird dagegen an keiner Stelle begründet, sondern offenbar als evident hingenommen. Die Gesichtspunkte, unter denen die Herausgeber*innen dann eine Ordnung in das unübersichtliche Feld anekdotischen Wissens von der Antike bis zur Gegenwart zu bringen versuchen, stehen in keinem unmittelbar erkennbaren Zusammenhang zum Aufbau des Bandes. Die konzeptuelle Untergliederung in die Bereiche »Materialität und Medialität von Anekdoten«, »Wissensoikonomien« und »Modi negativen Transfers« mag darum für die projektinterne Forschungsarbeit im Kontext des SFB relevant gewesen sein, zur Erhellung der Aufsätze des Sammelbandes trägt sie dagegen wenig bei. Zumal die Abschnitte der Einleitung nicht immer einlösen, was deren Überschriften verheißen, so etwa, wenn unter »Materialität und Medialität von Anekdoten« im Wesentlichen Fragen nach den Kriterien für die Zugehörigkeit zur Gattung und nach der Unterscheidung von angrenzenden Kleinformen, nach der Selbst- und Fremdreferentialität der Anekdote sowie nach der Autorschaft diskutiert werden. Wenn sich jedoch der leitende Gedanke von Matthias Grandls Entwurf einer Affordanz-Theorie der Anekdote darauf beläuft, dass sich über Anekdoten nur anekdotisch etwas Substantielles sagen lässt, dann wäre es nur konsequent, dass der Versuch, auf einer abstrakt-theoretischen Ebene über die Anekdote zu sprechen, von der Schwierigkeit zeugt, Allgemeines vom Einzelnen zu sagen und sauber zwischen Objekt- und Metasprache zu trennen. Ganz im Sinne ihrer Kommentator*innen bringt die Anekdote somit Bewegung auch in die literatur- und kulturwissenschaftlichen Versuche, sie in einer schematischen Ordnung zu erfassen.

Literaturverzeichnis

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