Stephanie Heimgartner: Fluide Identitäten

Abstract: In den Literaturen der afrikanischen Diaspora bilden identitätspolitische Fragen nach wie vor einen Schwerpunkt. Aber die Verortung individueller Identität wird mit einer komplexen persönlichen oder familialen Migrationsgeschichte zunehmend schwieriger. Der Artikel diskutiert literarische Konzepte von Identitätsverflüssigung, Erfahrungen der Körperlosigkeit und Strategien des Namenswechsels an beispielhaften Texten von Léonora Miano, NoViolet Bulawayo und Fatou Diome und verdeutlicht, dass ein räumliches Konzept von Heimat heute notwendigerweise nur noch als prekär darstellbar ist und andersartige Identitätskonzepte an seine Stelle treten müssen.

In literatures of the African diaspora, identity politics remain a central topic. However, the process of locating individual identity becomes ever more difficult as personal or family histories of migration become more complex. The article discusses concepts of “identity liquidification”, experiences of bodilessness and strategies of name changing using examples from the work of Léonora Miano, NoViolet Bulawayo and Fatou Diome. It shows that, ultimately, spatial concepts of home have no chance of persisting and appear necessarily precarious. It follows that different concepts of identity need to take their place.

Keywords: Fluidity, liquid identity, diaspora, african literatures, Bulawayo, Diome

In Léonora Mianos Erzählung Afropean Soul nimmt ein junger Mann in Paris an einer Demonstration teil. Die Kundgebung findet zu Ehren eines kleinen Jungen statt, der durch eine fehlgeleitete Kugel aus der Pistole eines Polizisten zu Tode kam. Die Eltern des Kindes stammen aus der Sahelzone.

Miano arrangiert diese exemplarische Situation, um ihren Protagonisten stellvertretend einige der mit seiner Lebenssituation verbundenen Fragen durchdenken zu lassen:

„Il était devenu soudain une bande ethnique à lui tout seul. Constamment sommé de décliner son origine, de prouver son droit au sol. Il se prouvait donc, d’après ce qu’il entendait dire, que l’identité se fonde sur l’origine, et qu’il se soit trompé pendant tout ce temps. Des années durant, il s’était imaginé être une conscience, plutôt qu’un corps. Il s’était vécu de l’intérieur.” (Miano 2008, 54)1

Die „bande ethnique“ bezeichnet im Vokabular des Front National eine Jugendbande, von der angenommen wird, dass ihre Mitglieder gleichen ethnischen Ursprungs sind. Es ist wichtig zu betonen, dass ein solcher Zusammenschluss zwar zum politischen Imaginären der Rechtspopulisten zählt, aber de facto wohl kaum existiert (Attias-Donfut et.al. 2011, 123–131). In ironischer Kontrafaktur greift ihn daher 2007 auch die HipHop-Gruppe La Rumeur in ihrem Titel „Je suis une bande ethnique a moi tout seul“ (Ich bilde schon ganz allein eine ethnische Bande) auf, das Miano hier zitiert. An dieser Verflechtung von Fremd- und Selbstzuschreibungen, die im öffentlichen Diskurs stattfindet, bevor sie in kultureller Bearbeitung aufgegriffen wird, lässt sich die Bedeutung identitätspolitischer Fragen für Gesellschaften mit diasporischen Communities bereits ablesen. Der Protagonist von Afropean Soul beschreibt, wie der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, welchen Ort man als Heimat benennen kann, gerade zu einer Entkörperlichung der eigenen Erfahrung führt. Dieser Versuch der Identitätsbestimmung ist es, der das Erleben von Präsenz an einem definierten Ort und das Benennen von Heimat erschwert. Die Einschätzung, dass die eigene Erfahrung Gültigkeit besitzt und wirksam werden kann, wäre aber gerade eine Antwort auf die Zugehörigkeitsfrage. Wo solche Bestätigung nicht erfahren wird, wird sie zumindest mit Vehemenz behauptet.

„Elle portait un ensemble pagne, comme souvent les femmes du Sahel. Un foulard noué de façon complexe lui faisait une coiffe digne de la reine d’Angleterre. Il était si serré que les vents les plus furieux ne l’auraient pas ébranlé. Les jeunes gens qui lui tenaient la main, lui parlant à voix basse, portaient des t-shirts frappés de l’Ankh. Sans les connaître, le jeune homme sut qu’il s’agissait de nationalistes noirs […] Il ne partageait pas leurs opinions.” (Miano 2008, 61)2

Am Beispiel der Mutter des toten Jungen, für den in der Erzählung demonstriert wird, zeigt Miano in dieser Passage, wie leicht sich persönliche (Leid-)Erfahrungen unter solchen Bedingungen der Verunsicherung zur Legitimation fremder Interessen instrumentalisieren lassen. Während die Frau weint und in sich selbst von ihrer Trauer und ihrer traditionellen Kleidung unbeweglich gemacht wird, umringen sie von außen die politischen Aktivisten der „nationalistes noirs“, einer Vereinigung, die dem Rassismus und der Benachteiligung in der französischen Mehrheitsgesellschaft durch eine Überhöhung der eigenen Minderheitenkultur ins Mythisch-Panafrikanische zu begegnen sucht.

Identitätspolitische Fragen werden von der Literatur der afrikanischen Diaspora mit solcher Dringlichkeit verhandelt, weil die damit verbundenen gesellschaftlichen Antworten und politischen Ziele immer schwerer durchsetzbar scheinen. Gesellschaften pluralisieren sich, ihre traditionellen Strukturen erodieren. Sich innerhalb solcher prekären Strukturen zu etablieren, ist nicht mehr stabil möglich (Vgl. Charim 2018, 37–44).3 Dabei handelt es sich um ein globales Phänomen, das nahezu alle Gesellschaften und Individuen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, betrifft. Neben denjenigen, die sich bemühen, lebbare Wege in der Pluralität zu finden, existieren deshalb in solchen Gesellschaften auf beiden Seiten auch diejenigen, die eine Rekonstitution der bekannten sozialen Heimat anstreben. Den hier beschriebenen „Nationalistes Noirs“ steht in Frankreich der Front National gegenüber, ähnliche Konfliktlinien gibt es in vielen europäischen Ländern, die in den letzten Jahren verstärkt die Zuwanderung von ‚people of colour’ erfahren haben.

An zwei weiteren Autorinnen möchte ich im Folgenden zeigen, wie identitätspolitische Fragestellungen – und damit auch Fragen nach der Möglichkeit von Heimat – die Literatur der afrikanischen Diaspora bestimmen und welche Antworten auf die angesichts der von Migration, Entwurzelung und prekären Umständen gezeichneten Lebensläufe ganzer Volksgruppen ausweglose Frage „Wo gehöre ich hin?“ in jüngster Zeit entworfen werden. Dabei möchte ich gegen Ende dezidiert auch positive Konzepte einer pluralen Identität vorstellen. Zunächst jedoch zur Problemstellung: Wieso haben identitätspolitische Fragen gerade in jüngster Zeit ein solches Gewicht gewonnen? Nach Isolde Charim gibt es drei historische Phasen der Identitätspolitik: In einer ersten Phase, die mit der Sattelzeit um 1800 einsetzt, bestimmt sich Identität an der Veränderbarkeit des Subjekts, das durch Bildung, rechtliche Gleichstellung und Eingliederung in nationalstaatliche, für alle Bürger gültige Strukturen wie das Heer und das Meldeund Steuerwesen formiert wurde. Die zweite Phase, ab den 1960er Jahren, sieht ein Aufkommen des Diversitätsgedankens: Es geht um die Gleichstellung der Angehörigen von Interessensgruppen vor dem Gesetz und im öffentlichen Diskurs; um die Möglichkeiten, als schwarz, schwul, weiblich, behindert öffentlich repräsentiert und gehört zu werden. Heute befinden wir uns in der dritten Phase, derjenigen der Pluralisierung von Identität. Nicht nur unsere Gesellschaft ist pluralistisch, sondern nahezu jeder Einzelne erfährt sich in seiner Biografie und seinen Lebensweisen als schwer bestimmbar (Charim 2018, 46f.).

Das bedeutet, dass Identität, die uns früher aus unserer Geschichte oder der unserer Familie automatisch zuwuchs und die später vehement als individuell behauptet wurde, heute von jedem Mitglied einer Gesellschaft immer wieder neu geklärt werden muss. Isolde Charim schreibt: „Wir leben im identitären Prekariat. Und wie jedes Prekariat verlangt uns das mehr Arbeit ab als gesicherte, fixe Verhältnisse“ (Charim 2018, 48).

Diese Erfahrung der sich gleichsam verflüssigenden Identität machen Menschen in diasporischen Lebensverhältnissen verstärkt, aber eben auch die Mehrheitsgesellschaften, in die diasporische Gruppen einwandern. Die folgenden Beispiele literarisieren solche Erfahrungen, nicht ohne oft offensiv und gänzlich ohne fiktionale Rahmung die damit verbundenen politischen Fragen zu stellen.

1 Neue Namen

Was könnte vordergründig bedeutsamer für Identität sein als der eigene Name?

Folgerichtig heißt der international erfolgreiche Debütroman der aus Zimbabwe stammenden Autorin NoViolet Bulawayo We Need New Names. Die kindliche Protagonistin lebt zu Beginn des Romans in einem Armenviertel einer nicht näher benannten zimbabwischen Stadt und wird als 13-Jährige zu ihrer Tante nach Michigan verschickt, um nicht wieder zurückzukehren. Ihr Name ändert sich dabei nicht, er lautet „Darling“. Ihr Stadtviertel in der namenlosen Herkunftsstadt wird durch Bulldozer der Regierung zerstört, woraufhin die Bewohner an anderer Stelle Wellblechhütten errichten. Die neue Siedlung nennen sie sarkastisch „Paradise“. Auch als Darling in den USA landet, ändert sich als Erstes, wenn auch nicht intentional, der Name der Stadt, in der sie ankommt. Anstatt in „Paradise“ wohnt sie nun in „Destroyed Michigan“ (Bulawayo 2014, 147).

Bereits in der ersten Heimat leben die Slumkinder in einer uneinheitlichen, in ihrer Vieldeutigkeit nur schwer lesbaren Welt. Diese Uneindeutigkeit macht die Identität der Kinder von Beginn an zu einer prekären, denn Heimat wird ja durch – wenn auch oft nur vermeintliche – Eindeutigkeit der primär erlernten Zeichen und Zuschreibungen hergestellt. Die Kinder aus „Paradise“ pilgern regelmäßig ins Villenviertel jenseits der Schnellstraße, das sie „Budapest“ nennen; beispielsweise, um dort Obst zu stehlen. Dabei begegnen sie nicht nur den kapriziös erscheinenden Bewohnern der riesigen Häuser, sondern auch marodierenden Banden, die diese Häuser gewaltsam einnehmen und in deren Nachhut die Kinder eine der Villen zu einem Ausflug in eine fremde Welt nutzen (sie bestaunen Fußmatten, Familienfotos, eine Aufnahme der Queen, Federbetten, und probieren jede Menge unbekanntes Essen). Eine solche Welt des Wohlstands ist ihnen nur ausschnittweise aus dem Fernsehen bekannt, und in ihren Spielen entwickeln sie Fantasien von ihr. Diese Vorstellungen sind nicht immer Wunschträume. Auch die nie als schrecklich benannten Erfahrungen ihres eigenen Lebens werden in die spielerische Imagination einbezogen, in der man natürlich neue Namen braucht. Interessant ist bei allen Umbenennungen des Romans, was und wer jeweils namenlos bleibt bzw. wann jemand oder etwas seinen Namen verliert. In einer Szene wird in Anlehnung an die bekannte US-amerikanische Fernsehserie Emergency Room Krankenhaus gespielt:

„ER is what they do in a hospital in America. In order to do it right, we need new names. I am Dr. Bullet, she is beautiful, and you are Dr. Roz, he is tall, Sbho says, nodding at me. […]
Who am I? Chipo says.
You, you are a patient. Patients are just called patients, says Sbho. (Bulawayo 2014, 82f.)

Im Rollenspiel entwickeln die Mädchen einen Plan, wie sie ihre 11-jährige Freundin Chipo mit Hilfe eines Kleiderbügels von ihrem dicken Bauch befreien können – das Mädchen ist von seinem eigenen Großvater schwanger. Glücklicherweise kommt rechtzeitig vor der inszenierten Operation eine Erwachsene hinzu und beendet das Experiment. Chipo kann ihren eigenen Namen wieder annehmen. Ihr Kind, das erst geboren wird, als die Protagonistin bereits in den USA ist, nennt sie „Darling“. Damit nimmt es den leeren Platz der entschwundenen Freundin ein, die nie zurückkehren wird.

In einem späteren Kapitel verwandelt sich der Onkel der Protagonistin in „Vasco da Gama“. Während er zuvor unter seinem eigentlichen Namen Kojo bequem zu Hause im Fernsehsessel saß und sich von seiner Frau bedienen ließ, ergreift ihn, als der Sohn als Soldat nach Afghanistan geht, eine eigentümliche Unruhe. Täglich fährt er mit dem Auto weite Strecken ziellos umher und trinkt nach der Heimkunft große Mengen Alkohol. Seine Depression mündet in eine zunehmende Verwahrlosung, seine Frau entfremdet sich ihm und beginnt ein Verhältnis mit ihrem Arbeitgeber (Bulawayo 2014, 279–282). Es ist offenkundig, dass sich Kojos Zugehörigkeit zur neuen Heimat aus der Gegenwart seines Sohnes speiste, den zu verlieren er nicht ertragen kann, und dass seine Depression seine Frau ratlos macht. Der Roman zeichnet nach, wie Verluste, über die nicht gesprochen werden kann, zu Wesensveränderungen führen. Einen neuen Namen bekommen Menschen und Orte des Romans bei solchen die Identität in Frage stellenden Brüchen. Traumatische und verdrängte Orte und Erlebnisse bleiben dagegen ohne Namen.

Das Spiel mit Namen im Roman ist vielfältig und verdeutlicht Identität als eine sukzessive Besetzung verschiedener Rollen, von denen manche unbenennbar bleiben. Selbst intime menschliche Beziehungen überleben solche Brüche nicht. Fatou Diomes Roman „Le ventre de l’Atlantique“ (dt. „Der Bauch des Ozeans“) kontrastiert noch deutlicher als Bulawayos Text mehrere beispielhafte Figuren und ihre Lebensgeschichten. Die Protagonistin Salie lebt in Frankreich, während ihr jüngerer Bruder auf einer Insel vor der Küste Senegals davon träumt, als Fußballspieler entdeckt zu werden und ebenfalls nach Europa auszuwandern. Vergeblich versucht Salie ihn davon zu überzeugen, dass das Leben in Frankreich nicht das bessere ist. Bei einem Besuch zu Hause offenbart sich die ganze Komplexität ihrer Empfindungen: Erwartungen und Projektionen der Verwandten an die Heimkehrerin und deren Entfremdung von der Heimat münden in beiderseitiger Enttäuschung.

Irrésistible, l’envie de remonter à la source, car il est rassurant de penser que la vie reste plus facile à saisir là où elle enfonce ses racines. Pourtant, revenir équivaut pour moi à partir. Je vais chez moi comme on va à l’étranger, car je suis devenue l‘autre pour ceux que je continue à appeler les miens. Je ne sais plus quel sens donner à l’éffervescence que suscite mon arrivée. Ces gens qui s’attroupent autour de moi viennent-ils fêter une des leurs, me soutirer quelques billets, s’instruire sur l’ailleurs qui les intrigue, ou sont-ils simplement là pour observer et juger la bête curieuse que je suis peut-être devenue à leurs yeux? (Diome 2003, 190)

Die Sehnsucht nach den Ursprüngen verliert man nie. Man möchte nur zu gern glauben, daß das Leben sich dort, wo man herkommt, leichter an der Wurzel packen läßt. Für mch aber heißt heimkehren fortgehen. Fahre ich nach Hause, dann komme ich in die Fremde, denn für die, die ich immer noch die Meinen nenne, bin ich die Andere geworden. Ich kann die Aufregung, die meine Ankunft hervorruft, nicht mehr deuten: Was wollen all diese Leute von mir? Mich als eine der Ihren feiern, mir Geld abluchsen oder etwas über die Fremde erfahren, die sie fasziniert? Oder wollen sie bloß das seltsame Tier bestaunen, das ich in ihren Augen bin? (Diome 2004, 176)

Diomes Roman führt nicht nur anhand von Salies Geschichte, sondern anhand mehrerer Beispiele vor, wie eine Entfremdung von der durch ihre insuläre Lage exemplarischen Dorfgemeinschaft stattgefunden hat. So wird der junge Moussa als Fußballspieler nach Frankreich geholt, erfüllt aber die in ihn gesetzten Erwartungen nicht, soll die Schulden, die er bei seinem Talentscout gemacht hat, im Hafen abarbeiten und wird schließlich abgeschoben. Zu Hause begegnet man dem mit leeren Händen Zurückkehrenden mit Unverständnis und Ablehnung. Schließlich begeht er Selbstmord.

Die junge Sankèle soll einen Auswanderer heiraten, verliebt sich aber in den Lehrer und wird von ihm schwanger. Ihre Eltern verstecken sie bis zur Niederkunft, dann wirft ihr Vater das Neugeborene ins Meer. Sankèle flieht mit der Hilfe des Lehrers von der Insel und beginnt ein Leben als Tänzerin in der Stadt, später munkelt man, sie sei nach Frankreich gegangen. Ihr Schicksal bietet eine Weile Stoff für die Phantasien der Dorfbewohner, bevor es zu verblassen beginnt. Doch ihr Leben, so stellt die Erzählung klar, befand sich am Kreuzungspunkt dreier für die Dorfgemeinschaft wichtiger Figuren: ihres Vaters, eines alten Fischers, der als Bewahrer der Tradition gelten kann; des Lehrers, der die Jugendlichen mit seinem Bildungsanspruch und seinen politischen Ansichten herausfordert; und des aus Frankreich erfolgreich zurückgekehrten „homme de Barbès“, der wegen seines Lebens zwischen den Welten und seines Wohlstands von allen beneidet und bewundert wird. Sowohl Moussas als auch Sankèles Identitäten werden bewusst als gleichnishaft inszeniert, um neben der Protagonistin weitere Figurenschicksale im Kontrast aufscheinen zu lassen, deren Konflikte ähnlich sind, wenn sie auch unterschiedlich ausgehen. Erst an diasporischen Schicksalen, die mit unklärbaren Identitätskonflikten behaftet sind, wird die Problematik und Prekarität des Wunsches nach einer eindeutigen Heimat deutlich:

Weil alle geschilderten Migrationsgeschichten, gleich ob von äußerlichem „Erfolg“ im neuen Land gekrönt oder nicht, in ähnlichen Verlust und Suchbewegungen nach Heimat und Identität münden, führen sie letztlich zu einer Preisgabe des Heimatbegriffs und zu einer Neubestimmung von Identität, die nicht erst im Laufe der eigenen Biografie als brüchig, sondern als von vornherein unbestimmbar erfahren wird. Eine Heimat im Sinne eines nicht in Frage zu stellenden Orts des Ursprungs existiert nicht, weil sie von Beginn an in der Vorstellung der Figuren durch das Bewusstsein eines vollkommen verschiedenen Anderswo, das ein scheinbar ganz anderes Leben ermöglicht hätte, komplementiert und damit usurpiert wird. Selbst diejenigen Figuren in Diomes Roman, die das Land ihrer Geburt nie verlassen – wie der Lehrer – verfügen über viel Wissen über die Problematik und nehmen Anteil am Zerrissensein der Auswanderer und Rückkehrer, sodass sie in ihrer Heimat nicht mehr sicher verankert sein können. Es stellt sich damit auch die Frage, wer in einer Welt, die von Wanderungsbewegungen Einzelner und großer Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet ist, seine Heimat überhaupt noch als stabil erfahren kann.4

Diome wählt als zentrale Metapher, um das Losgelöstsein ihrer Figuren zu illustrieren, das Meer. Der Atlantische Ozean dient als Bildspender nicht nur, weil er neue und alte Heimat gleichzeitig verbindet und trennt, sondern auch, weil sich das Bild von der frei schwimmenden Alge im Meer kontrastiv zu dem gängigen der Verwurzelung im festen Heimatboden aufbauen lässt. Ein mit Zitaten aus anderen Texten5 durchsetzter Abschnitt, der auch von der künstlerischen Existenz handelt, beschließt programmatisch den Roman:

Je cherche mon pays là où on apprécie l’être-additionné, sans dissocier ses multiples strates. Je cherche mon pays là où s’estompe la fragmentation identitaire. Je cherche mon pays là où les bras de l’Atlantique fusionnent pour donner l’encre mauve qui dit l’incandescence et la douceur, la brûlure d’exister et la joie de vivre. Je cherche mon territoire sur une page blanche; un carnet, ça tient dans un sac de voyage. Alors, partout où je pose mes valises, je suis chez moi. Aucun filet ne saura empêcher les algues de l’Atlantique de voguer et de tirer leur saveur des eaux qu’elles traversent. Racler, balayer les fonds marins, tremper dans l’encre de seiche, écrire la vie sur la crête des vagues. Laissez souffler le vent qui chante mon peuple marin, l’Océan ne berce que ceux qu’il appelle, j’ignore l’amarrage. Le départ est le seul horizon offert à ceux qui cherchent les mille écrins où le destin cache les solutions de ses mille erreurs.

Dans le rugissement des pagaies, quand la mamie-maman murmure, j’entends la mer déclamer son ode aux enfants tombés du bastingage. Partir, vivre libre et mourir, comme une algue de l’Atlantique.6 (Diome 2003, 295f.)

Damit fällt bei dem Entwurf eines Identitätsmodells für die Zukunft möglicherweise nicht zufällig die Wahl Diomes auf den von Deleuze und Guattari so benannten glatten Raum par excellence, das Meer. Wie in anderen literarischen Verarbeitungen des Migrationsthemas geht es der Autorin nicht zuletzt darum, die Veränderbarkeit und Pluralität, den Mangel an einer „eigentlichen“ Identität also, positiv zu besetzen (Charim 2018, 53), Menschen damit nicht mehr als lokal oder national Beheimatete, sondern als Subjekte in Bewegung, im Werden zu definieren. Solche Subjekte verfügen aber, das zeigt die vegetabile Metapher der Alge, nicht mehr über den klassischen Subjektstatus des autonomen, rational handelnden Akteurs. Sie werden bewegt von den Elementen, von den äußeren Gegebenheiten, und müssen sich anpassen, das aufnehmen, was ihnen widerfährt; sie sind mehr Chronisten der Umstände als Autoren der eigenen Geschichten.

Solche beweglichen Subjekte setzen sich anders in Relation zu geographischen Räumen, aus denen sie ja nicht mehr primär ihre Zugehörigkeit herleiten. Eine Entkörperlichung oder Entmenschlichung von Erfahrung scheint, wenn man den Beschreibungen der Innenwelt der Protagonisten bei Miano und Diome glaubt, eine Folge prekär gewordener Heimat zu sein. Menschlicher Weltbezug ohne Raumbezug ist jedoch schlechterdings nicht denkbar und auch nicht literarisch erzählbar. Die Notwendigkeit einer Neubestimmung nicht fixierbarer Identitäten begründet sich einerseits aus von der Globalisierung ausgelösten Migrationsbewegungen, die Menschen entwurzeln, die ihre Heimat nun nicht mehr bestimmen können, sondern stets mehreren Gesellschaften angehören. Sie findet andererseits ihre Basis in einer Denkbewegung, die den Wurzeln des Kosmopolitismus, der kapitalismus- und psychoanalysekritischen Theorie, des Posthumanismus und des Postkolonialismus entspringt. In dieser Denkbewegung verschwimmen nicht nur die Grenzen der Heimatländer, sondern in der radikaleren Version sogar die Grenze zwischen Subjekt und Sozietät.

So hat beispielsweise Rosi Braidotti Subjekte (ebenfalls in Anlehnung an Deleuze/Guattari) als wesentlich nie fertige, sondern sich stets wandelnde beschrieben. Identität wird bei Braidotti als grundsätzlich fluide und beweglich konzipiert, eine Entgrenzung des individuell Identitätsstiftenden also positiv begriffen. Nomadisch zu werden ist demnach eine Bewegung, der man nicht nur durch globalpolitische Verflechtungen passiv ausgeliefert ist, sondern die angetrieben wird von einem Begehren des dynamischen, vielschichtigen, mehrfach zugehörigen Subjekts.

Was von der Subjektvorstellung der Moderne in solchen Entwürfen bestehen bleibt, ist die Notwendigkeit, eine Stimme zu haben, mit der diese Prozesse und Positionen in Bewegung zum Ausdruck gebracht und anhand derer sie verfolgt werden können. Dies wird in Braidottis Theorie dadurch garantiert, dass sie Subjekte stets als körperliche („embodied“) denkt, die als solche auch über eine Stimme verfügen. Zahlreiche literarische Texte greifen wie der von Fatou Diome diese philosophisch-anthropologischen Entwürfe auf oder entwerfen sie parallel aus der Erfahrung ihrer Autoren heraus. Räume werden dabei eher als Transiträume beschrieben denn als Orte des Verbleibs, Subjekte als durchlässig und beweglich. Die Literatur bildet damit vielfach die Plattform für die Abbildung fluider Subjektpositionen und ermöglicht es, unerhörte Einzel- und Kollektivbewegungen zu imaginieren.

Literatur

Appiah, Anthony Kwame (2018): The Lies that Bind. Rethinking Identity. Creed, Country, Colour, Class, Culture. London: Profile Books.
Attias-Donfut, Claudine u.a. (2011): Des destins contrastés. Entre réussites et déviances. In: Jacques Barou (Hg.): De l’Afrique à la France. D’une génération à l’autre. Paris: Armand Colin, S. 91–137.
Bhabha, Homi (1994): The Location of Culture. London, New York: Routledge.
Braidotti, Rosi (2011): Nomadic Theory. The portable Rosi Braidotti. New York: Columbia University Press.
Bulawayo, NoViolet (2014): We Need New Names. London: Vintage.
Charim, Isolde (2018): Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Wien: Zsolnay.
Diome, Fatou (2003): Le ventre de l’Atlantique. Paris: Anne Carrière.
Diome, Fatou (2004): Der Bauch des Ozeans. Aus dem Frz. v. Brigitte Große. Zürich: Diogenes.
Miano, Léonora (2008): Afropean Soul. Paris: Flammarion.
Sarr, Felwine (2019): Afrotopia. Aus dem Frz. v. Max Henninger. Berlin: Matthes & Seitz.

Fußnoten

1 „Plötzlich war er ganz allein zu einer „ethnischen Bande“ geworden. Ständig dazu aufgerufen, seinen Ursprung zu verleugnen, sein Anrecht am hiesigen Boden zu beweisen. Es erwies sich aus dem, was er so reden hörte, dass Identität von der Herkunft abhängt, und damit, dass er sich die ganze Zeit über geirrrt hatte. Seit Jahren hatte er sich vorgestellt, eher ein Bewusstsein zu sein als ein Körper. Er hatte von innen heraus gelebt.” Eigene Übersetzung. 2 „Sie trug ein Ensemble aus traditionellem Stoff, wie die Frauen der Sahelzone es oft tun. Ein auf komplizierte Weise geknotetes Tuch türmte sich zu einem Kopfputz auf, der der Königin von England würdig gewesen wäre. Er war so fest gewickelt, dass selbst die wütendsten Winde ihn nicht hätten auflösen können. Die jungen Leute, die ihre Hand hielten und leise mit ihr sprachen, trugen mit dem Ankh bedruckte T-Shirts. Ohne sie zu kennen, wusste der junge Mann, dass es sich um Schwarze Nationalisten handelte […] Er teilte ihre Ansichten nicht.“ Eigene Übersetzung. 3 Zu den Fallstricken identitätspolitischer Diskurse vgl. auch Appiah 2018. 4 Die wohl bekannteste Theorie einer grundsätzlichen Hybridität von Identität hat Bhabha (1994) entworfen. Zu betonen ist, dass auch das von ihm vorgelegte Konzept Identität als von vornherein prekär und konflikthaft entwirft: „[T]he very place of identification […] is a place of splitting.“ (vgl. bes. a.a.O., S. 57–93, „Interrogating Identity“, hier 63). 5 “Vivre libre ou mourir” ist ein Wahlspruch aus der Zeit der frz. Revolution, der an zentraler Stelle im Pariser Pantheon angebracht ist “[…] partout où je pose mes valises, je suis chez moi […]” erinnertt an den Marvin-Gaye-Song: „Wherever I lay my hat” (1962). 6 “Ich suche meine Heimat dort, wo man die Vielfalt schätzt, ohne sie auseinanderzudividieren. Ich suche meine Heimat dort, wo man Menschen nicht zerstückelt. Wo sich die Arme des Ozeans treffen und zu violetter Tinte verfließen, die von Wärme und Weißglut erzählt, von der Wunde und den Freuden des Lebens. Ich suche mein Revier auf einer weißen Seite – ein Heft paßt in jede Reisetasche. Ich bin überall zu Hause, wo ich meine Koffer abstelle. Kein Netz kann die Algen davon abhalten, den Ozean zu durchqueren und den Geschmack des Wassers anzunehmen, in dem sie treiben. Ich will die Tiefen des Meeres abtasten, durchkämmen und das Leben mit Tintenfischtinte auf die Gischtkronen der Wellen schreiben. Laßt den Wind von meinem Inselvolk singen, das Meer wiegt nur die, die es ruft, ich kenne den Ankerplatz nicht. Wenn du die tausend Schatzkästlein finden willst, in denen das Schicksal die Wundermittel gegen seine tausend Fehler verbirgt, mußt du in die Welt hinausziehen. Im Klatschen der Ruder und im Gemurmel meiner Omami höre ich die Ode des Ozeans an die Kinder, die über Bord gegangen sind. Fort, frei leben und sterben wie eine Alge im Ozean.” (Diome 2004, 273f.).