Stefan Krankenhagen: All these Things. Eine andere Geschichte der Popkultur. Berlin/Heidelberg: Metzler 2021. 381 Seiten. Eine Rezension von Jonas Nesselhauf
Als Neil MacGregor, der damalige Direktor des British Museum, vor ein paar Jahren A History of the World in 100 Objects veröffentlichte, setzte danach ein regelrechter ‚material turn‘ ein, der inzwischen zahlreiche ähnliche Bücher hervorgebracht hat: Die Geschichte der Medizin, des Ersten Weltkriegs oder gar der Fußballweltmeisterschaften werden anhand von ganz konkreten, wenn auch immer exemplarisch ausgewählten Objekten erzählt – die dabei jedoch nicht allein auf ihre Materialität reduziert werden. Vielmehr entsteht eine alternative Kulturgeschichte, die über die künstlerischen und technologischen Herstellungsbedingungen, über die alltäglichen Gebrauchskontexte oder über die Gedächtnisfunktion dieser Gegenstände nachdenkt.
Und so liegt es nahe, auch die (westliche) populäre Kultur unter diesen Fragestellungen neu in den Blick zu nehmen, gar „eine andere Geschichte der Popkultur“ (5) zu schreiben – was der Hildesheimer Kulturwissenschaftler Stefan Krankenhagen nun mit seinem Sachbuch All these Things getan hat.
Denn das Populäre ist nicht nur bunt und laut, sondern dabei immer auch ganz haptisch: Dinge sind in den populären Kulturen Europas und Nordamerikas massenhaft vorhanden, seit sich diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf politische, soziale und technologische Emanzipations- wie Innovations-prozesse (vgl. 10) herausbilden. Umgekehrt wirkt es gerade deswegen wohl auf den ersten Blick so überraschend, gar widersprüchlich, ausgerechnet auf moderne Gesellschaften und ihre austauschbaren Waren zu blicken – schließlich scheint es in der populären Massenkultur ja schlicht nicht das ‚eine‘ Objekt zu geben. Doch spätestens, wenn bereits MacGregor neben der ‚unikalen‘ Mumie des Hornedjitef oder dem ‚einmaligen‘ Stein von Rosetta auch Faustkeil, Jadebeil oder Kreditkarte zu ebenjenen 100 Objekten der Weltgeschichte zählt, wird klar, dass auch (und manchmal vielleicht sogar erst recht) vermeintlich belanglose Alltagsgegenstände für wegweisende Innovationen und kulturellen Einfluss stehen.
So stiften zwar auch frühgeschichtliche Feuersteine zweifellos Gemeinschaft, doch wirklich ‚populär‘ werden Dinge erst mit einem „Umschlag von Quantität (Masse) in Qualität (Unterhaltung)“ (6) und damit durch ihre Ambivalenz als „reale Fiktionen“ (10) zwischen individueller Aneignung und massenmedialer Verklärung. Diese Entwicklung ist wenig überraschend ein Phänomen der Moderne und führte zu einem regelrechten ‚Überfluss der Dinge‘, denn: „Besaßen die meisten Deutschen Mitte des 19. Jahrhunderts gerade einmal ein Paar Schuhe, verfügen Menschen im westeuropäischen Durchschnitt heute über 10.000 Gegenstände pro Person.“ (24)
Damit liegt eine diachrone Perspektive auf der Hand, die popkulturellen Materialisierungen der letzten etwa 150 Jahre chronologisch im historischen Verlauf zu erzählen – und Stefan Krankenhagen macht genau dies exemplarisch an 14 Dingen des Populären aus 15 Jahrzehnten, allerdings nicht ohne gleichzeitig die sozialen Widersprüche und politischen Entwicklungen, die technischen Vorläufer und das kulturelle Weiterleben aufzuzeigen: Mal sind es banale Konsumgegenstände (Bananen und Suppendosen) oder alltägliche Massenartikel (Brillen und Selfie-Sticks), mal sind es praktische Gebrauchsobjekte (Scrapbooks und Fernsteuerungen) oder kuriose Dinge (Skalps und Gewehre), und mal sind es ganz konkrete Unikate wie Michael Jacksons legendärer Handschuh.
Diese Ding-Geschichten kommen dabei als kulturgeschichtliche ‚Spaziergänge‘ daher – beispielsweise in einer spannenden Linie vom US-amerikanischen ‚Nationalsport‘ Baseball zum Kaugummi – oder sind kenntnisreiche Fallanalysen. So standen etwa reflektierende Spielkugeln schon lange vor der eigentlichen Disko-Ära für „Glamour und Spektakel“ (120): Im Jahre 1917 als „Myriad Reflector“ patentiert, als selbst die Großstädte in Europa und den USA noch nicht vollständig an das Stromnetz angeschlossen waren und elektrischer Beleuchtung wohl noch ein magischer Zauber innewohnte, beginnt das Licht in den Nachtclubs und Tanzsälen auch schon zu blitzen und zu flimmern. Die von der Decke hängende Kugel ist dabei zwar nur der passive Reflektor in dieser stroboskopischen Erfahrung, allerdings steht das fragmentierte Sehen, wie Krankenhagen aufzeigt, letztlich wiederum paradigmatisch für die Unterhaltungsmaschine des Populären.
Doch auch im Populären muss es nicht immer glitzern, und manchmal sind es gerade banale Alltagsgegenstände, die – wenn nicht ‚unscheinbar‘, so doch auf ihre Weise raffiniert – einen Unterschied machen. Denn als eine US-amerikanische Chemiefirma im Jahre 1938 ein Patent auf die erste vollständig synthetisch hergestellte Faser anmeldet und ihren Stoff „Nylon“ im folgenden Jahr auf der Weltausstellung in New York präsentiert, finden sich schnell zwei Abnehmer: Einerseits das Militär, dem solch ein reißfestes und variabel einsetzbares Material gerade recht kommt, andererseits die Frauenmode. Bereits 1940 wird der erste Nylonstrumpf verkauft – und offenbar 60 Millionen weitere folgen noch im gleichen Jahr. Und spätestens als sich Schauspielerinnen und Pin-up-Girls das neue Material über ihre Beine ziehen, wird Nylon zu einem ‚sinnlichen‘ Material – und bringt so doch noch den ‚Glanz‘ des Populären auf dieses serielle Massenprodukt:
Das Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit und damit von Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit des weiblichen Körpers wurde überboten durch einen Glanz, der, wie das Material selbst, immer ganz echt und künstlich zugleich ist. Diese Qualität war für jede Frau fühlbar, die Nylonstrümpfe trug: Sie erlangte damit selbst etwas von diesem Glanz. (170)
Da Krankenhagen jedem seiner 14 Beispiele eine Jahreszahl zuordnet, steht Nylon ziemlich genau in der Mitte dieser ‚anderen‘ Geschichte der Popkultur, die er bezeichnenderweise (und absolut folgerichtig) mit zunehmend virtuellen Dingen im digitalen Raum enden lässt: Die in der Kommunikation inzwischen allgegenwärtigen Emojis und das Phänomen „Pokemon Go“ schließen das Buch als rezenteste Fallanalysen ab. Dabei liegt es sicherlich in der Natur der Sache, dass es entsprechend der diskursiven Dominanz (wie zu erwarten) vor allem nordamerikanische Dinge sind, die exemplarisch ausgewählt wurden – und die aber auch stets im Mittelpunkt der Analysen stehen, ohne dass erst noch ein großes Theoriegerüst darum gebaut wird. Und so ist es schon fast erfrischend, dass diese ‚andere‘ Geschichte der Popkultur wohl auch eine der wenigen Beschäftigungen mit populären Objekten sein dürfte, die ohne Roland Barthes’ „Mythologies“ oder John Storeys „Popular Culture“ auskommt.
Vielmehr geht Stefan Krankenhagen stets von den jeweiligen Dingen aus, wenn er damit verbunden in kenntnisreichen Exkursen etwa über Popart oder Subkultur, über Luxus oder Fans schreibt. Je stärker es dabei in die Gegenwart geht, desto umfangreicher und detaillierter werden die Kapitel, die auch immer wieder über Verweise untereinander verbunden sind und so spannende Verknüpfungen herstellen. Ohnehin ist Krankenhagens lesenswerte Studie eine unterhaltsame und äußerst anregende Zeitreise, die nicht nur viele Entdeckungen bereithält, sondern dazu einlädt, stärker über die populären Dinge nachzudenken, die uns so selbstverständlich umgeben: Denn auch Bikini oder Lichtschwert, Wandposter oder Sneaker hätten ihre Berechtigung in einer solchen Zusammenschau der materiellen Dinge und populären Fiktionen – und die Lesenden werden sicherlich von nun an zwangsläufig weitere solche Gegenstände in ihrem Lebensalltag suchen und finden.
So bleibt der einzige Wermutstropfen, dass solch ein vorzügliches Sachbuch zu Materialitäten ausgerechnet bei einem Verlag erscheint, der es offenbar trotz großer Tradition verlernt hat, bibliophile Bücher mit ansprechendem Satz und in guter Qualität noch wirklich zu drucken. Dabei sollte Stefan Krankenhagens Studie ganz unbedingt in möglichst vielen Regalen stehen – und zwar ganz haptisch als Buch!