Bucklichte Männlichkeit. Benjamins ‚Entstaltung‘ eines Konzepts im Anschluss an Lukács’ Theorie des Romans

Abstract: Dem Beitrag liegt der Befund zugrunde, dass poetologisch und zugleich geschichtsphilosophisch ausgerichtete Texte des frühen 20. Jahrhunderts ein unterbestimmtes Konzept in sich implementieren, mithilfe dessen sie sowohl ihre Gegenstände als auch ihre Verfahrensweisen plausibilisieren wollen: Es handelt sich um das Konzept der Männlichkeit. Indem Georg Lukács’ Theorie des Romans (1916) mit essayistischen Beiträgen Walter Benjamins konstelliert wird, soll gezeigt werden, wie eine je unterschiedliche Auffassung dieses Konzepts auch das Design der Perspektiven maßgeblich beeinflusst. Lukács’ Verständnis einer „gereiften Männlichkeit“, so die These, durchstreicht sein Romanprojekt recht eigentlich und stabilisiert zugleich das Geschlechterprojekt; bei Benjamin hingegen kündigt sich mit Blick auf sein bucklicht Männlein ein – so der Hilfsbegriff – Schwund phallozentristischer Ordnungen von Geschichte und Geschichten an, was sich letztlich als grundlegend für sein Philosophiemodell erweist. Auf diese Weise leuchtet der Beitrag etwas aus, das – in aller Mehrdeutigkeit – die Haltung der Literatur genannt werden kann.

Keywords: Lukács, Benjamin, Haltung, Männlichkeit, Schwund

1 Einleitung

Die Theorien modernen Erzählens scheitern anden Konzepten, die ihnen Anschaulichkeit verleihen sollen.1 Evident wird das am Sonderfall ‚Roman‘. Das ist er zunächst deshalb, weil die Gattung aufgrund ihrer formalen Wildheit, Ungezügeltheit und Passungenauigkeit nicht von Regelpoetiken behandelt werden konnte. Dieser Umstand ließ den Roman einerseits zum paragigmatischen Darstellungsmedium der Moderne werden und war andererseits für die Theoretiker des 19. Jahrhunderts nicht hinnehmbar, da der Roman und seine Formen dennoch Sinn generieren sollten. Um diesem Missstand beizukommen, wurden Konzepte umliegender Diskurse bemüht, deren Import in die Theorien dabei helfen sollte, den Roman einzuhegen. Es mag verwundern, dass es gerade nicht weniger unterbestimmte Konzepte waren, die den Roman und seine Leben-Formen stabilisieren sollten – bedient wurde sich bei Geschlecht im Allgemeinen und bei Männlichkeit im Besonderen. Beide wurden als Depots relativ stabiler Eigenschaften aufgefasst, mithilfe derer komplexe ästhetische Systeme beschrieben werden sollten. Die ideologische Funktionalisierung von Geschlechterkonzepten und insbesondere von solchen der Männlichkeit hat seit dem Anheben der Gattung Mitte des 17. Jahrhunderts in der europäischen Literaturgeschichte einen angestammten Platz in den Romantheorien.2 Da ‚Männlichkeit‘ aber wie allen Ausprägungen von gender nichts vorgängig ist, beschreibt sie keinen Sachverhalt; sie wird als gleichsam referenzloser Gegenstand vielmehr durch ihren Kontext, die ihr zugeschriebenen Funktionen und ihre Archive immer wieder hervorgebracht und stabilisiert. Sofern diese beiden in Romantheorien verhandelten Objekte – das manifeste (Roman) und das latente (Männlichkeit) – sich in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit befinden, haben diese Texte auch Anteil am ‚Geschlechter-Projekt‘. Romantheorien wurden Teil des Arsenals im Unterfangen, männliche Hegemonie und hegemoniale Männlichkeit zu plausibilisieren.3 An den strategischen Einsätzen des Konzepts lassen sich daher die Hoffnungen ablesen, die damit für ihren Objektbereich verbunden sind. Weil sie aber gegenseitig und intertextuell aufeinander bezogen sind und damit Kontiguität zwischen ‚ihren‘ Orten erzeugen, wird in diesen Texten auch den Konzepten zu ihrem Recht verholfen.
Mit der Formulierung vom Roman als „Form der gereiften Männlichkeit“ in Georg Lukács’ Theorie des Romans (1916) ist im frühen 20. Jahrhundert nicht nur die Verbindung zwischen Lebens-Form und Romanform4 sowie die Vergeschlechtlichung des Amalgams habitualisiert worden; auch wurde die ästhetische Reliabilität des Konzepts ‚Männlichkeit‘ in modernen Romantheorien bewiesen. Denn mit der Theorie des Romans kommt etwas in die Debatten um literarische und Lebens-Formen, das sich als Reinthronisierung von Männlichkeit beschreiben ließe. Mit Lukács’ Text und der darin prominent verwendeten Metapher von der „gereiften Männlichkeit“ wird im Gegensatz zu den Theorien und Poetiken des 19. Jahrhunderts ein Sprung in Bezug auf Lebens-, Roman- und Geschichtsformen unternommen. Denn die Theorien von Lukács’ Vorgängern arbeiteten sich noch an Männlichkeitsphantasmen (Heroismus, Dominanz, Paternalität etc.) ab, die dem Roman als Reservoir präskriptiver Eigenschaften dienen sollten und an denen die Bestimmungsversuche des Romans scheitern mussten, weil die überhöhten Männlichkeitsimagines als inkommensurabel mit der Form des Romans und seiner Gegenwart sich erwiesen. Mit der Theorie des Romans geschieht etwas Neues. Die Metapher von der gereiften Männlichkeit bietet sich einer Lektüre an, nach der ihr Einsatz sich mit dem Anspruch verbinden lässt, (qualitativ) nichthegemoniale – d. i. noch nicht ausgereifte, lädierte Lebens-Form – in dennoch (kulturell) hegemoniale – d. i. noch reifende und einzig veritable Lebens-Form – umzucodieren. Damit wird über die Diskussionen um Formen und Leben am Anfang des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit kultureller Hegemonie in solche Männlichkeits-Konzepte verlagert, denen der Drang zum Ausreifen eigen ist, die sich also in ein Modell nach vorne hin geöffneter Verlaufsformen einpassen. Lukács’ geschichtsphilosophisches, ja soziopoetisches Projekt5 artikuliert damit unterschwellig ein quasi-teleologisches Modell für Geschlechter-, Roman- und Geschichts-Formen, dessen Fortschrittsdynamik nicht zu trennen ist von den drei Einheiten (Geschlecht, Roman, Geschichte) und deren Funktionalisierung für das Erzählen. Lukács eröffnet eine Perspektive, in der (lädierte) Männlichkeit mit modernem Erzählen und dessen Progression verklammert wird.
Lukács’ Theorie wurde auch von Walter Ben-jamin wahrgenommen und reflektiert, wohl am prominentesten in seinem Erzähler-Aufsatz. Zugleich war das Konzept der Männlichkeit in den Theoriedebatten um literarische und Lebens-Formen des frühen 20. Jahrhunderts einerseits nun etabliert; andererseits und paradoxerweise wurde zeitgenössische Männlichkeit als krisenhaft profiliert.6 Daher scheint es lohnenswert, den Funktionen der Kategorie ‚Männlichkeit‘ bei Lukács bzw. bei Benjamin und deren Gegenstrebigkeit nachzugehen.7 Das Erkenntnisinteresse ist dabei dreifach motiviert: Die Gegenüberstellung zeigt zunächst (1), dass es sich bei Benjamins Modell im Gegensatz zu dem von Lukács um eines der regressiven Männlichkeit handelt, das er im bucklichten Männlein figuriert. Diese Benjamin’sche Figur zeichnet sich durch die Eigenschaft der Schrumpfung, des Schwindens und der Entstellung aus. Eine Untersuchung der emblematischen Qualitäten, die diese Figur unter dem Vorzeichen ihrer Geschlechtlichkeit für die Geschichtsphilosophie Benjamins hat, drängt sich auf (2). Die Annahme ist, dass sich an der Perspektivierung der Unform des bucklicht Männlein an den verschiedenen Orten in Benjamins ästhetischen und geschichtsphilosophischen Essays eine Form rückläufiger, ja gegenwendiger Geschichts- und  Geschichtenschreibung ergibt, die in ein Stadium einmünden soll, das sich als vergessendes Erinnern beschreiben ließe. Das hat entscheidende Konsequenzen für Erzählordnungen (3). In dieser  Perspektive bietet sich der Benjamin’sche Messianismus, begriffen als Kombination aus Theologie und historischem Materialismus, als diejenige epistemologische Perspektive an, die als ein Vergessen von Geschichte konzeptionalisiert werden kann. Anders ausgedrückt geht es darum, Geschichte als männliches bzw. vermännlichtes Verfahren vergessen zu machen, oder mit Benjamin gesprochen, sie zu ‚entstalten‘. Auf diese Weise ist Benjamins Soziopoetik dazu in der Lage, sich der Formen hegemonialer Männlichkeit als Beschreibungskategorien für poetologische Dimensionen zu entledigen und sie in ihr Außen zu verlagern, sodass Konzepte von Männlichkeit dadurch selbst erst zu einem Untersuchungsobjekt außerhalb von ästhetischen Theorien werden können.

2 Lukács’ Theorie des Romans

Trotz der Zentralität der Formel vom Roman als Form der gereiften Männlichkeit (TdR [63] 61; [81] 74; [84] 77; [131] 109) bleiben Analysen aus der Perspektive einer durch die critical masculinities informierten Literaturwissenschaft noch Desiderat. Die Formel bekommt in bisherigen Untersuchungen ihren Stellenwert für Formen und die historische Perspektive der Theorie Lukács’ zugewiesen. Konsequenzen geschlechtlicher Dimensionen für Form- und Lebenskonzepte einerseits und die Auswirkungen der Debatten um Roman- und Lebens-Formen für Geschlecht andererseits wurden jedoch weitestgehend ausgespart. So lieferte Eva Geulen wichtige Ansätze für eine Lesart, die die Metapher der „gereiften Männlichkeit“ in ihr Zentrum stellt. Sie argumentiert, dass der Umstand, dass der Roman den Prozess des Werdens von Leben zur Form zum Gegenstand hat, „is why Lukács likes to invoke the novel as ‚the form of mature virility‘.“ Geulen – darin stimmt sie mit Rüdiger Campes Perspektive weitestgehend überein – sieht in diesem Romankonzept die Realisierung der Biographie als erzählerischer Möglichkeitsform umgesetzt. Kurzum:

„The form of the novel is formed life. The novel’s solution is thus not even to try to find meaning in any particular contents; rather in adapting the lifeworldly fact of time as its form, the sheer becoming can now appear as essential and meaningful.“8

Wim Peters etwa unternahm eine Analyse des Diskurses um die kulturelle Figur des „Großen Mannes“ in den Texten des frühen Lukács; sein Ansatz diskursiviert aber die Metapher von der gereiften Männlichkeit und deutet sie als Figuration einer weisen und melancholischen Verwaltungsinstanz der nicht einlösbaren Vervollkommnung.9 Und Kirk Wetters versieht Männlichkeit in seinen Untersuchungen zum Dämonischen mit der Eigenschaft der historischen Perspektivierung: Für Wetters ist es klar, dass „hero and narrator are not fixed positions: the process of aging – of achieving ‚mature masculinity‘ – turns demonic heroes into ironic novelists“.10 Wetters wähnt im Partizip ‚gereift‘ einen Alterungsprozess, der vor allem einen Transformationsvorgang des Helden zum Schriftsteller einschließt. Männlichkeit wird in Wetters’ Perspektive zum Verwaltungsmodus der dämonischen Moderne, den er als Erzählweise der Sorglosigkeit konkretisiert, die wiederum die Heldenfigur angesichts der dämonischen Zustände der Moderne aufzubringen hätte.11
So treffend die Analyse für den Zusammenhang von Biografie als Form-Vorlage und dem Roman als nach vorne hin geöffneter Verlaufsform ist, so liegt die Vermutung nahe, dass sie die poietischen Eigenschaften der Metapher von der gereiften Männlichkeit etwas aus dem Blick verliert, wodurch diese Metapher und ihre Bestandteile tendenziell essentialisiert werden. Gereifte Männlichkeit, so muss der Befund lauten, wird auch in der Forschung zur Lebens-Form als Roman-Form hypostasiert. Befragt man die Metapher auf ihre geschichtsphilosophische, formalistische und gender-diskursive Emblematik hin, lassen sich Rückschlüsse auf den Funktionsumfang der Metapher für Lukács’ Theorie im Besonderen und für Romantheorien im Allgemeinen ziehen.

2.1 Die Form(el) der gereiften Männlichkeit

Ausgangspunkt der Theorie des Romans ist die Grundthese, dass sich Leben in der Moderne durch einen Modus der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (LTR [32] 23, 24) auszeichnet, mit der sich die Individuen konfrontiert sehen und die auf institutionelle, soziale, geschichtsphiloso- phische und materialistische Dissonanz verweist. 1914 geschrieben, 1916 in Max Dessoirs Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft in zwei Teilen erschienen und schließlich 1920 in Buchform von Paul Cassirer gedruckt, ist es Lukács’ Theorie des Romans, die als erste ihrer Art gelten kann und das Genre habitualisiert.12 Dieser Essay, der Residuum eines großangelegten Dostojewski-Projekts ist, soll als erste ausgewiesene Theorie des Romans die Gattung retrospektiv beleuchten und systematisieren, und er entstand in einer Zeit, die sich für den Verfasser als „Krisis der Kultur“13 darstellte. Die problematische Subjektwerdung, der die modernen Individuen ausgesetzt sind, wird darstellbar nur mithilfe eines geschichtsphilosophischen Analyseinstrumentariums, das die institutionellen und dialektischen Tendenzen14 sowie die Bedingungen der Zeit zu erfassen in der Lage ist.15 Es ist gerade der Roman, dem Lukács zutraut, die Aporien moderner Subjektivität und Formgebung aufspüren zu können; in diesem Sinne ist Lukács’ Theorie des Romans eigentlich eine der Genese der Moderne und ihrer Formen.16
Das geschichtsphilosophische Paradigma der Theorie ist eines, das antikes und modernes Leben gegenüberstellt. Das Leben des antiken Epos vollzieht sich in den gegebenen Ordnungen von „Liebe, Familie und Staat“; die Person der Antike lebt in einer bereits geordneten Welt, wie sie der Held des Epos vorfindet. (vgl. LTR [14] 25; auch [57, 58] 57) Die Modernen hingegen sind auf der Suche nach einer Form, in der Fragen nach der Ordnung gestellt werden können.[17 Die Person der Moderne  ist eine, die sich im Roman wähnt und dort die gesuchte Form in der Formwerdung findet: Der Roman „ist die Frage nach seiner Form“, wohingegen „in der Welt der Antike und des Epos […] die epische Figur immer zugleich auch Anzeige der sittlichen Person [ist]. Sie ist die Person im Verband der Familie und in der Gemeinschaft der Polis.“18 Entsprechend heißt es bei Lukács:

„Totalität des Seins ist nur möglich, wo alles schon homogen ist, bevor es von den Formen umfaßt wird; wo die Formen kein Zwang sind, sondern nur das Bewußtwerden, nur das Auf-die-Oberfläche-Treten von allem, was im Inneren des zu Formenden als unklare Sehnsucht geschlummert hat [...].“ (LTR 16] 26)

Diese Zwanglosigkeit der Form ist in der Moderne ausgeschlossen, weil in der griechischen Welt Totalität das formende Prinzip jeder Einzelerscheinung ist, wohingegen Dissonanz als Organisationsprinzip der Moderne gelten kann.19 Und es ließe sich hinzufügen, dass das Epos die Form der Konsonanz ist.20 Die Weltzeitalter und ihre Formen gravitieren in der Theorie gleichsam um die Vorstellung der Totalität, allerdings mit gegenläufiger Ausrichtung. Totalität wird dort zum Paradigma, und zwar als eine zu erringende, neue Totalität auf der Folie der Epik, und diese Suche nach der Form muss der Roman vergegenwärtigen.21
Beiden Welten korrespondiert je eine spezifische Lebens-Form. Denn Lukács kennt „nur entweder Leben, das schon Form ist: die griechische Antike, oder Form, die gegeben wird und darum immer Kunst ist, auch wenn sie dem Leben auferlegt wird“.22 In der Theorie des Romans, die sich mit dieser Konstellation auseinandersetzt, heißt es: „Jede Form ist die Auflösung einer Grunddissonanz des Daseins, eine Welt, in der das Widersinnige an seine richtige Stelle gerückt, als Träger, als notwendige Bedingung des Sinnes erscheint.“ (LTR [52] 52) Es gehe aber nicht um die Auflösung der Dissonanz, weil diese Auflösung es verhindern würde, die  Dissonanz als das, woraus schließlich Konsonanz hervorgehen soll, zu ‚erleben‘. Dissonanz muss erfahrbar bleiben, und zwar an der Form des Romans, um Konsonanz garantieren zu können.23 Es wäre daher, so Lukács andernorts, eine „furchtbar große“24 Fehleinschätzung, die Welt, wie sie ist, als einheitlich zu begreifen, und zwar kategorial. Ganz im Gegenteil ist Lukács’ Programm des Romans von einem emphatischen Bekenntnis zum „Dämonischen“25 seiner Gegenwart geprägt: Im Vorwort der Ausgabe von 1962 wird das mit Referenz auf Johann Gottlieb Fichte und seine Formulierung von der Gegenwart als „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit“ sowie auf Lukács’ eigenen Essay zu Søren Kierkegaard mit dem Titel Das Zerschellen der Form am Leben (1909) vom Autor selbst unterstrichen.26 (vgl. LTR 12) Die Konsequenz aus diesen Bezugnahmen lautet, dass gerade die Dissonanz das (Wieder-)Finden der Sinnesimmanenz erlaubt, und das heißt in der Form des Romans. Die metaphysische Behauptung einer homogenen Welt würde demnach ästhetische Erfahrung vielmehr verhindern.27
Anhand der Formel vom Roman als Form der gereiften Männlichkeit ist es Lukács deshalb möglich, diesen Zusammenhang und sein Potenzial offenzulegen, für die Form des Romans fruchtbar zu machen und zugleich Männlichkeit neu zu begründen.

Die Dissonanz der Romanform, das Nicht-eingehen-Wollen der Sinnesimmanenz in das empirische Leben, gibt ein Formproblem auf, dessen formeller Charakter viel verdeckter ist, als der anderer Kunstformen, das wegen dieser seiner scheinbaren Inhaltlichkeit ein vielleicht noch ausgesprocheneres und entschiedeneres Zusammenwirken von ethischen und ästhetischen Kräften erfordert, als es bei evident reinen Formproblemen der Fall ist. Der Roman ist die Form der gereiften Männlichkeit im Gegensatz zur normativen Kindlichkeit der Epopöe [...]. (LTR [63, 64] 61)

Was Lukács als Voraussetzung seiner Überlegungen dient und erst einmal wie der Befund einer Abwesenheit von Sinn anmutet, löst sich in einem scheinbaren Paradox auf: Es gibt Sinn, nämlich in der Art, dass man die „Dissonanz oder Verweigerung der Sinnesimmanenz […] zunächst wieder als eine bestimmte Art der Sinnesimmanenz auffassen“ kann.28 Im Zeitalter „transzendentaler Obdachlosigkeit“ ist die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig – d. i. empirisch – gegeben, sie muss daher formimmanent als nicht gegeben veranschaulicht und damit zugleich sinnhaft werden, nämlich im Roman,29 der die Spannung von Negativität seiner Zeit und zur Totalität strebender Form aushalten und in ihrer Konflikthaftigkeit sinnhaft vor Augen führen muss.30 Die Form des Romans ist also prinzipiell problematisch und ihre Probleme sind wesentlich größer als in den Fällen bekannter Gattungen und deren „evident reinen Formproblemen“. Zweckdienlich zur Beschreibung dieses Sachverhalts ist Lukács die Metapher der „gereiften Männlichkeit“, die hier noch in struktureller Opposition zur normativen Kindlichkeit des Epos verwendet wird. Es lässt sich vermuten, dass das implizierte Formproblem seine semantische Entsprechung im Adjektiv „gereift“ finden soll, dessen Aufgabe vor allem zu sein scheint, einen Bezug nicht so sehr zu stofflichen als vielmehr zu formbezogenen Problemen herzustellen. Der „Romanmensch“, (LTR [61, 62] 61) der nun nicht noch einmal die Typologie vor-romantischer Zeiten durchlaufen kann,31 wird von Lukács nun trotz – oder gerade wegen– der Nichtsinnesimmanenz in seiner berühmten Metapher von der „gereiften Männlichkeit“ verdichtet.
Hier gilt es nun zu unterscheiden zwischen Metapher („gereifte Männlichkeit“) und Formel („Form der gereiften Männlichkeit“). Die Metapher erweckt über die  grammatische Form des prädikativen Partizips („gereiften“) den Eindruck einer punktuell vollendeten Verlaufsform, an deren Ende, so ließe sich Lukács lesen, der  Roman als (bisher) höchste Entwicklungsstufe von Literatur steht, ähnlich also der Hegel’schen Konzeption vom Romanhaften. Zugleich wird die Statik des Adjektivs vom zweiten Bezugspunkt der Metapher – der Männlichkeit – unterlaufen: Vorstellungen von Progressivität, wie sie im Geschlechterdiskurs des 19. Jahrhunderts prominent waren und sich beispielsweise in der englischen Entsprechung ‚virility‘ und deren semantischen Schichten wie etwa Zeugungskraft verbergen, werden im Funktionszusammenhang der Metapher gegen die Form des Zur-Reife-Gekommenen gestellt. Die Metapher will die Spannung, sie meint ein Geworden-sein, ohne das Reifen (aus der Antike heraus) miteinzuschließen. Die Person der Antike reifte, der „Romanmensch“ ist schon gereift. In Bezug auf die Formel fällt auf, dass auch sie ein Spannungsverhältnis aushält, allerdings eines, das vielmehr geschichtsphilosophische Züge trägt. Das zeigt der Genitiv an, der zwischen den Modi objectivus und subjectivus oszilliert. Denn neben der dissonanten Männlichkeit (genitivus objectivus: der Roman ist wie gereifte Männlichkeit) werden zugleich Männlichkeitsimagines herangezogen und reaktiviert, die sich des Bildbereichs genialischer Schöpfung bedienen (genitivus subjectivus: Der Roman ist Produkt eines gereiften Mannes). So lautet die hier verfolgte Lesart der Formel, dass der Roman diejenige Form ist, die von ‚gereifter Männlichkeit‘ hervorgebracht wurde und nur von ihr hervorgebracht werden kann. Die Grammatik der Formel ist vor allem aufschlussreich in Hinblick auf den geistesgeschichtlichen Moment der Recodierung, an dem sich Lukács mit seiner Theorie befindet. Der konstatierende Modus, in dem die Formel gehalten ist, gibt keine klare Lösung zu erkennen, auf welche Weise Lukács sie gebraucht und in welche Richtung und mit welchem Zweck Bildspender und -empfänger positioniert sind. Es handelt sich, in dieser Perspektive, weniger um ein Verhältnis gegenseitiger Absicherung denn um eines gegenseitiger Störung – und gerade darin kommt der Formel das Potenzial zu, als geeigneter Darstellungsmodus der „dämonischen“ Moderne herhalten zu können.
Das Dämonische zeigt den Verlust des Transzendentalen an, ist aber als dem Menschen entrückte Kraft angelegt, die so die Möglichkeit transzendenter Heimat doch wieder impliziert. Auch in dieser verdichteten Passage gehen Bildempfänger und Bildspender ein wechselseitiges Verhältnis ein, sodass Männlichkeit als Umgangsform mit dem Dämonischen aktualisiert und als modernem Leben einzig veritabler Modus inszeniert wird. Die Notwendigkeit (und das potenzielle Überwinden)32 des Dämonischen wird nur erkannt von „männlich reife[r] Einsicht“ und erfährt einen adäquaten Verwaltungsmodus als „gereifte Männlichkeit“. So und nur so kann der Roman sinnvoll vermitteln, warum es sich bei ihm um diejenige Gattung handelt, die das Nicht-Eingehenwollen der Sinnesimmanenz mit der Form vollzieht: Der Modus „gereifte Männlichkeit“ kann die fehlende Sinnesimmanenz als eigene Form zur Darstellung bringen.

2.2 Zusammenschau

Insofern Männlichkeit innerhalb der deutschsprachigen Romanpoetiken vor Lukács als Gestaltungsimperativ gedient hat, wird die Operationalisierbarkeit der Kategorie hier rückwirkend infrage gestellt, zugleich aber rehabilitiert: Der Roman ist Form der Dissonanz, ist Formwerdung im Medium der Biografik und ist damit die Form von Männlichkeit. Lukács kehrt gewissermaßen die Verweisstruktur um, er recodiert Männlichkeit als Chiffre für Nichtsinnesimmanenz und Dissonanz, die so wieder ideale Darstellungsform wird bzw. bleiben kann. Nicht-hegemoniale Männlichkeit wird zurückgespeist und in ihrer Unvollkommenheit als dennoch hegemonial gekennzeichnet. Über die Rehabilitierung der „gereiften Männlichkeit“ installiert Lukács endgültig ein Paradigma der Seinsgleichheit von Roman- und Lebens-Form, die untrennbar miteinander verschränkt sind, sich gegenseitig stabilisieren und eine wechselseitige und austauschbare Relation von ‚Definiens – Definiendum‘ eingehen.

Denn die Zeit ist die Fülle des Lebens, wenn auch die Fülle der Zeit das Sichaufheben des Lebens und mit ihm der Zeit ist. Und das Positive, die Bejahung, die die Form des Romans, jenseits von aller Trostlosigkeit und Trauer seiner Inhalte ausspricht, ist nicht nur der ferne dämmernde Sinn, der sich hinter dem gescheit-erten Suchen in mattem Glanze erhellt, sondern die Fülle des Lebens, die gerade in der vielfältigen Vergeblichkeit des Suchens und des Kämpfens offenbar wird. Der Roman ist die Form der gereiften Männlichkeit: sein Trostgesang erklingt aus der ahnenden Einsicht, daß überall Keime und Fußspuren des verlorenen Sinnes sichtbar werden; daß der Widersacher aus derselben verlorenen Heimat stammt, wie der Ritter des Wesens; daß dem Leben deshalb die Immanenz des Sinnes verlorengehen mußte, damit sie überall gleich gegenwärtig sei. So wird die Zeit zum Träger der hohen, epischen Poesie des Romans: sie ist unerbittlich existent geworden, und niemand vermag der eindeutigen Richtung ihres Stromes nunmehr entgegen zu schwimmen, noch seinen unvorhergesehenen Lauf mit den Dämmen der Aprioritäten zu regeln. (LTR [130/131] 109f.)

Die Fülle des Lebens offenbart sich gerade in der vielfältigen Vergeblichkeit des Suchens und Kämpfens: Das Suchen nach seinem Formenzusammenhang wird hier, in der Form des Romans, als Form der „gereiften Männlichkeit“ affirmiert. Der Roman spendet Trost, wenn er auf die Reste des alten Sinnzusammenhangs verweist und zugleich Zusammengehörigkeit in der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ – gewissermaßen unter Leidensgenossen – stiftet. Das Negative eines unvorhersehbaren Laufs der Dinge  sowie deren Vorgängigkeit (und damit von totalen Sinnzusammenhängen) werden positiv gewertet: Das ist dann die dialektische Doppelstruktur dieser Darstellungsweise.  Temporäres, ‚transzendentales Obdach‘ unter dem Hauskreuz männlicher Aufsicht.
So lautet eine der impliziten Forderungen von Lukács’ Romantheorie, das Verständnis von Roman und von Männlichkeit zu aktualisieren und beide miteinander zu synchronisieren. Damit wird das geschichtsphilosophische Programm der Dialektik von Idee und Wirklichkeit sowie deren Vermittlung in der literarischen Form des Romans als ein vermännlichtes lesbar, Menschen- und Weltzeitalter in ihrer Entwicklung als geschlechtlich gedacht und Männlichkeit so zum Formprinzip von Leben, Welt und Roman erklärt. Sofern sie gereift ist, ist sie bereits gewordene Lebens-Form; sofern sie noch nicht ausgereift ist, ist ihr Progression eingeschrieben.33
Nun mag die Vermutung naheliegen, dass der Dialektiker Lukács dem geschichtsphilosophischen Stellenwert des Romans gerade dadurch Rechnung trägt, dass er das Potenzial in der noch zu kommenden Romanepopöe Dostojewski’schen Zuschnitts vermutet. Was im ursprünglichen Projekt im Mittelpunkt seines Interesses gestanden hatte, wird – und hierbei handelt es sich wohl kaum um einen Taschenspielertrick – in das virtuelle Außen des Textes verlagert. Entsprechend liest sich die abschließende Passage der Theorie: „Es ist die Sphäre einer reinen Seelenwirklichkeit, in der der Mensch als Mensch – und nicht als Gesellschaftswesen, aber auch nicht als isolierte und unvergleichliche, reine und darum abstrakte Innerlichkeit – vorkommt […]“. (LTR 167 [136f.]) Wo jenseits Lukács’ „gespaltene[r] Realität“ eine „neue und abgerundete Totalität“ (ebd.) aufwarten mag, deren Zustandekommen sich an der und über die Gattungsform ‚Roman‘ abzeichnet, liegt der Gedanke an Formen dialektisch aufgelöster Geschlechtlichkeit nicht fern. In der überlieferten Variante der Theorie allerdings, von der der Lukács des Vorworts von 1962 nur bedingt abrückt,34 bleibt diese Synthese Desiderat. Das mag performativ konzipiert sein, in seiner formalen Offenheit also auf die noch zu kommende Lebens- und Romanform virtuell verweisen. Auf eine Form jenseitiger Geschlechtlichkeit, die die angetönte Verlaufsform – von unreif über gereift zu ausgereift – inklusive Telos zu  sprengen in der Lage wäre, ist die Theorie indes nicht angelegt. Denn als gleichsam morphologischer Doppelbegriff konstatiert die konzipierte Lebens-Form Gestalt und betreibt zugleich ihre Formüberschreitung aus sich selbst heraus, jedoch im Modus von Männlichkeit. Die Form des Romans ist damit eine Lebens-Form, deren Entwicklung sich homolog zu der männlichen verhält und Männlichkeit so in den Status der modernen Lebens-Form erhebt. Eine Theorie des Romans ist die Beobachtung der Formung dieser vermännlichten Lebens-Form. Die Dissonanzen, die Lukács für die Prosagattung formuliert, sind gleichursprünglich mit denen des Lebens und der Männlichkeit.
Sofern mit dem affirmativen Modus der gereiften Männlichkeit auch ein Geschichtsmodell artikuliert wird, das sich seinem Ausreifen verpflichtet sieht, liegt darin auch der Grund für die Lukács’sche Geschichtsphilosophie, die den Eigenwert der Moderne zwar anerkennt, hinter dem Dämonischen aber einen Zustand der Erlösung verheißt.

3 Zur Ästhetisierung von Benjamins Messianismus

Lukács’ Strukturmodell der gereiften Männlichkeit, um es noch einmal zu wiederholen, beansprucht Gültigkeit sowohl für die Entwicklung von Romanformen als auch für diejenige moderner Lebens-Formen. Und weil diese Formtheorie auch eine ihres geschichtsphilosophischen Unterbaus ist, gilt lädierte, aber sich ausreifende Männlichkeit auch als Modell historischer Entwicklungen beim frühen Lukács. Hier nun schiebt sich die geschichtsphilosophische Ausrichtung der Benjamin’schen Ästhetik teleskopartig gegenläufig über diejenige von Lukács, was sich auf drei Bereiche erstreckt und deren Zusammenspiel kennzeichnet: Geschlecht, Erzählen und Geschichte. Der Zusammenhang der drei Bereiche ist seit den 1980er-Jahren breit erforscht, allerdings bei einer Schwerpunktsetzung auf Frauenimagines, vergeschlechtlichte Sozialtypen (die Prostituierte) und non-binäre Figuren (Androgyne, Hermaphroditen) verblieben; davon zeugen auch jüngere Veröffentlichungen zu Benjamin aus dem Bereich der gender und queer studies an, die in einer Liste möglicher Forschungsperspektiven diejenige der critical masculinities unerwähnt lassen.35 Eva Geulen entwickelt an der Figur des Hermaphroditen die Perspektive des

„systematic rethinking of Benjamin’s primary philosophical concerns, his theory of language and his philosophy of history, his concepts of experience and materiality – all according to the dimension of gender“36,

für Sigrid Weigel stellt das Weibliche eine zentrale Eigenschaft im Entwicklungsverlauf der Benja-min’schen Dialektik dar;37 und Susan Buck-Morss erkennt in der Prostituierten die Allegorie auf den Warencharakter (des Menschen).38 Im Rahmen der Beschäftigung mit den Topoi der sexuellen Impotenz,39 des Jünglings40 oder des Perversen41 wurde Männlichkeit zwar berücksichtigt, zugleich aber zum Emblem der Moderne in Benjamins Schreiben erhoben. Auch hier kann eine auf Männlichkeit ausgerichtete, funktionsgeschichtliche Untersuchung weitere Aufschlüsse über die Zusammenhänge der Bereiche bei Benjamin liefern.
Programme, wie sie von Geulen und Weigel formuliert und zugleich umgesetzt wurden, haben eine produktive Debatte für den Themenkomplex um die Kategorie gender bei Benjamin angestoßen. Nichtsdestoweniger lässt sich die Perspektive darauf von funktionsgeschichtlichem Standpunkt aus noch erweitern, und das heißt folgendes: Verfolgt man die Konzeption von Geschlecht in Benjamins ästhetischen Schriften und Miniaturen, wird ersichtlich, wie sich am Begriff der Männlichkeit eine Besonderheit für Erzählkonzeptionen herauspräparieren lässt. Insofern Männlichkeit insbesondere in ihren Schwundformen funktional für ein Konzept des Erzählens wird, sind mit diesen Formen auch Implikationen für Benjamins Geschichtsphilosophie verbunden. Es geht, mit anderen Worten, darum, einen geschichtsphilosophischen Regress darüber zu plausibilisieren, ihn mit Schwundformen von Männlichkeit zu analogisieren. Mit dem für beide Bereiche relevanten Konzept von Jugend ist dann auch ein Zielort ausgemacht. Denn neben der regressiven Verlaufsform von Geschlecht, die im Abbau der Männlichkeit angelegt ist, ist es deren Ausgang in der (androgynen, weil sexlosen) Mischform, die die Jugend darstellt, in der auch die Allianz von Theologie und historischem Materialismus angezeigt wird. Zwar konnte die Bedeutung von Figuren wie impotenten Männern, Huren oder Bettlern für die Problematisierung der Kommodifizierung des Menschen nachgewiesen werden, über die es möglich wird, Benjamins Texte in eine nach dem Modell des historischen Materialismus verfahrende Lektüre einzusenken: Es geht um das Verzögern von historisch-materiellen Prozessen, die literarisch figuriert werden im Benjamin’schen Zauder-Personal, das Zeugung ohne zu zeugen betreibt. Es entzieht sich der Reproduktion familialer Muster der Produktion bzw. der Güter- und Geschichtsproduktion nach organischer oder kapitalistischer Maßgabe.42 In Zusammenhang mit der theologischen Perspektive Benjamins allerdings müsste dieser Befund erst noch erbracht werden. Denn eine solche Perspektive kann eine der Schlüsselfiguren für einen ästhetischen Messianismus auf ihre Funktionsweisen befragen – es geht um das bucklicht Männlein.
Anhand des bucklicht Männleins, so die These, konzeptualisiert Benjamin die Möglichkeit, die Heraufkunft (und Überwindung) des Messias zu denken, und zwar durch Formen vergessenden Erzählens. Dieser unscharfen Figur können daher aber mindestens zwei Profile zugeschrieben werden, die die beiden Seiten einer Medaille des Erzählens bilden: Das bucklicht Männlein figuriert einerseits eine Ästhetik der Entstellung, wenn es Subjekt ist; und es lässt andererseits eine Epistemologie des Schwindens denken, wenn es Objekt ist.
Mit Blick auf den Roman und ein diesem Medium entsprechendes Erzählen hat Männlichkeit hier eine recht andere Funktion als etwa bei Lukács. Erzählen ist dann nur möglich, sofern Männlichkeitsformen und solche des Romans, in denen erstere sich abgelagert haben, zu schwindenden werden und auf diese Weise überwunden werden sollen. Benjamins Messianismus ist auf diese Weise dazu in der Lage, neben dem inhaltlichen auch den (rein) konzeptuellen Ballast von gender aus ästhetischen Theorien zu tilgen. Das macht zugleich Männlichkeit und entsprechende Erzählhaltungen als innerhalb ästhetischer Gefüge problematische adressierbar: Männlichkeit als Kategorie von ästhetischen Produktionsweisen kann von nun an zum Objekt von Theorie werden. Dieser Spur sowie ihren Implikationen soll im Folgenden nachgegangen werden; genauer geht es um die Implikationen für geschichtsphilosophische Modelle auf der einen und für das Konzept einer ethischen (Schreib-)Haltung auf der anderen Seite.

3.1 Das bucklicht Männlein

Das bucklicht Männlein hat zwei Orte bei Benjamin: einen poetologisch-mnemopolitischen und einen der literarischen Verfasstheit. Der erste Ort ist der in den Berliner Kindheiten um 1900, dessen konstellative Besonderheiten erste Anhaltspunkte für die Untersuchung liefern. Bekanntlich hat Benjamin Teile des Volkslieds und der auf Clemens Brentanos Überarbeitung zurückgehenden Version, die im Anhang der Sammlung von Kinderliedern in Des Knaben Wunderhorn (1806–1808) zu finden ist, in das letzte Fragment seiner Berliner Kindheit aufgenommen. Den Text kannte er angeblich aus Georg Scherers Deutschem Kinderbuch, bei dem es sich wahrscheinlich um die von Theodor W. Adorno besorgte Ausgabe handelt.43 Die Schlussstrophe, die das bucklicht Männlein in einen bösen Gnom umschreibt, der nicht weniger erlösungsbedürftig wird als das erzählende Kinder-Ich Benjamins, – „Liebes Kindlein, ach, ich bitt, / Bet fürs bucklicht Männlein mit“ (GS IV.1, 304) –, ist eine Zugabe Brentanos.44 Damit ist eine wesentliche Umschrift auch der zuvor im Fragment dargelegten Wahrnehmung des Kindes vollzogen, der es nachzugehen gilt.
Das erzählte Ich hat, sobald das bucklichte Männlein auftaucht, das Nachsehen, ein Nachsehen aber, das anschließend semantisch ambiguisiert wird: „Wo es erschien, da hatte ich das Nachsehen. Ein Nachsehen, dem die Dinge sich entzogen […]. Sie schrumpften, und es war, als wüchse ihnen ein Buckel, der sie selbst nun der Welt des  Männleins für sehr lange einverleibt. Das Männlein kam mir überall zuvor. Zuvorkommend stellte es sich mir in den Weg.“ (GS IV.1, 303) Die Isotopie von Blick- und  Seh-Konzepten öffnet den Begriff des Nachsehens semantisch ebenso wie die im Konjunktiv I angetönte phänomenologische Unsicherheit in Bezug auf die wahrgenommenen Dinge. Auf diese Weise wird ‚Nachsehen‘ vom metaphorischen Bereich der passiven Zustandsbeschreibung (das Nachsehen haben, in nachteiliger Position sich befinden) in den Bereich des wörtlichen Verständnisses überführt (etwas hinterher sehen, darauf zurückschauen). Der Text erklärt Ambiguität zum ontologischen Modus der Dinge bzw. konzipiert deren Erzähltwerden als eines der Erinnerung, die zwischen den zwei semantischen Dimensionen changiert – die Leserin muss vor stabilen Erzähl- und Erinnerungsweisen auf der Hut sein. Das ist auch die dritte Bedeutungsebene, nachsehen, nachschauen, sich vergewissern. In dem  Triptychon werden alle Bedeutungsebenen – Nachteil, Zurückschauen, Vergewissern – destabilisiert, indem sie miteinander konstelliert werden. Daher ist auch der Status des Männleins uneindeutig: Es ist immer schon gegenwärtig, zumindest in dem auf das Zukünftige gerichteten Blick; darin ist es zugleich zuvorkommend, höflich, entgegenkommend. Hier wird eine weitere, vierte Ebene der Ambiguität eingezogen, wenn ‚zuvorkommend‘ neben der höflichen auch eine temporale Dimension erhält. Damit stehen sich das Bedeutungsfeld „Nachsehen“ und „Zuvorkommen“ diametral gegenüber. Die Bedeutungen zersprengen sich gegenseitig und den Begriff von  Bedeutung gleich mit. Das bucklichte Männlein verunmöglicht perspektivisches, berechenbares Schauen und ermöglicht damit ein anderes. Es kommt immer und überall zuvor, stellt sich in den Weg und zwingt zur Umperspektivierung; zugleich ist seine Wirkung die der Schrumpfung, des modalen Regresses.
Es versperrt entsprechend die Sicht auf die Dinge, die nur im Nachsehen, im Hinterherschauen, in der Retrospektive anschaulich werden können und die sogleich selbst zu schrumpfen beginnen – „bis aus dem Garten übers Jahr ein Gärtlein, ein Kämmerlein aus meiner Kammer und ein Bänklein aus der Bank geworden war“ (GS IV.1, 303) –, und in dem Moment, da sie (Männlein und Gegenstände) frontal angeschaut werden, bekommen sie einen Buckel, ihre historische Last.45 Deshalb entziehen sich auch die Dinge, weil ‚die Dinge‘ sich selbst der Ambiguität hingeben, die so als ontologisch instabil angenommen werden müssen. Sie werden angeschaut, und im Beschautwerden werden sie deformiert, sie schrumpfen.
Insofern dieser Beschauungs-Modus an dieFiguren gebunden ist, die einen solchen Blick ermöglichen, reiht sich das bucklicht Männlein in das Figurenarsenal von Benjamins Geschichtsphilosophie ein. Konkret geht es um zwei Figuren der Geschichtsphilosophischen Thesen: Da ist einerseits der türkische Schachautomat, der Benjamins Messianismus verbildlicht; ein wirklicher Automat ist es indes nicht;

„[i]n Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte“. Die Puppe selbst ist der historische Materialismus, ihr Operateur der Zwerg, und sie „kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen“. (GS I.2, 693)

Im Bild des Buckels teilt sich das Männlein den Messianismus mit dem Schachautomaten. Andererseits weist es Parallelen zum Engel der Geschichte auf, der vom Paradies her in Richtung Zukunft getrieben wird mit Blick auf die Vergangenheit, sodass die Geschichte als Katastrophe erscheint, „die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm [dem Engel der Geschichte; M. R.] vor die Füße schleudert“. (GS I.2, 697)Er wird vom Sturm des Fortschritts in die Zukunft getrieben, „der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmelwächst“. (GS I.2, 698) Im Bild des Trümmerhaufens teilt sich das Männlein die verdeckte Schuldmit dem Engel.46 Mit dem bucklichten Männlein konzipiert Benjamin folglich einerseits eine Figur, auf deren Rücken sich die Last des Erinnerten ansammelt, als das geschaute Vergangenheitsich formiert, wenn also Erinnerung zu geschriebener Geschichte wird. Andererseits ist es diese gebückte und verkleinerte Mannes-Figur, die den Messias ankündigt, wenn ihre Form des Vergessens zum poetischen Prinzip erklärt wird. Anders ausgedrückt: Indem memoria als Sache des-Gemacht-Werdens sich darstellt, und zwar nunmehr als Verfahren des verstellten und versperrten Blicks, wird ihre Darstellungsweise anschaulich als inventio,47 und zwar inklusive der Darstellungsbedingungen und das heißt: ihres Geschichts- und Geschlechtsbegriffs.
Entsprechend treibt das Männlein, einem Zollbeamten des Erwachsenwerdens gleich, auch den „Halbpart des Vergessens“ ein (GS IV, 303). Denn zum einen weiß das Männlein als Figur, über diedie Zukunft verstellend perspektiviert wird, dass Erinnern und Vergessen im Gleichschritt passieren werden. Zum anderen hilft es dem erzählenden Ich dabei, die Kindheit vor dem Vergessen zu retten.48 Die Zukunft muss in der Gegenwart bereits als eine gedacht werden, in der diese Gegenwart zur Vergangenheit wird, die im Erinnert Werden dem Vergessen unterstellt ist. Und gleichzeitig muss Kindheit als utopischer Möglichkeitsraum in der Erinnerung gehalten werden. Denn nur im Kindheitsraum, der sein Vergessenwerden als schlimmste aller Möglichkeiten denkt und sich gleichzeitig Fortschrittsnarrativen– dem männlichen Werden – im Modus des Zauderns (potenzia) entzieht, ist die Utopie des Messianismus denkbar. Dort wird Benjamins Zeitform zu einem „Futurum der Vergangenheit“, nämlich paradoxerweise „Zukunft und doch Vergangenheit zu sein.“49 Nur so kann ein „ganzes Leben“(GS II.2, 453) habhaft werden, wie es im Erzähler-Aufsatz und in den Geschichtsphilosophischen Thesen gleichermaßen formuliert wird.
Benjamin zitiert anschließend das Kinderlied: „Will ich in mein Stüblein gehen, / Will mein Müslein essen: / Steht ein bucklicht Männlein da, /Hat’s schon halber ’gessen.“ Es ist immer schonda, und genau so scheinen Dinge immer schon von ihm angeeignet, das evozieren sie als Teileines Arsenals der Diminutive, dessen Verwalter das bucklichte Männlein ist – und nicht zufällig wird das Zitat selbst gleichsam eingeklammert von dem, was das Männlein eintreibt, wie die Konstellation „Halbpart des Vergessens“ und deren Schrumpfungsform „halber ’gessen“ (unter Einbezug semantischer Flexion) suggerieren.
Diese Perspektive, die des verstellten, versperrten und dennoch potenzialisierenden Blicks, wird indes noch weiter geschärft. Denn das erzählende Ich hat das Männlein nie gesehen: „So stand das Männlein oft. Allein, ich habe es nie gesehen. Es sah nur immer mich. Und desto schärfer, je weniger ich von mir selber sah.“(GS IV.1, 303f.) Das Männlein, so ließe sich vorsichtig formulieren, ist die Figur perspektivischer Gegenwendigkeit, die die Blicke an sich vorbeilenkt, einer konvexen Spiegelfläche gleich. Als Figur futurisierter Vergangenheit kann sie erstens nicht angeschaut werden; sie fordert zweitens dazu auf, den Modus des Schauens, d. i. memoria als inventio, zu reflektieren; sodass sie drittens zur Rekonzeptualisierung des Schauens und das heißt zur Rekonzeptualisierung des Geschauten und des Schauenden aufruft. Das Männlein ist das Emblem regressiver Zukünftigkeit. Gemeint ist eine Zukünftigkeit, die den Abbau von Formen geschichtlichen Fortschritts zu ihrem Prinzip erklärt. Und diese Figur, sobald sie zu schauen versucht wird, ist im Absterben begriffen und macht Zukunft nur als eine denkbar, die ihre Umkehrung, d. h. die Revision und den Abbau ihrer ‚traditionellen‘ Darstellungsprinzipien miteinschließt. Das erstreckt sich auch auf alle Erinnerungsobjekte, die im Kontakt mit dem Männlein selbst bis zur Unkenntlichkeit und Gebrauchslosigkeit verkleinert werden. Damit steht schließlich das erzählte Selbst als eines auf dem Spiel, das abhandenkommen („je weniger ich von mir selber sah“), bzw. das sein Erinnern als Erzählen verabschieden soll. Es geht um eine Theorie des Vergessens, die, so Roland Borgards,

„das Vergessene nicht als Form einer absoluten Abwesenheit [denkt], sondern als eine spezifische Form der Anwesenheit, einer reduzierten Anwesenheit, einer eingeklammerten, zurückgenommenen, durchgestrichenen Anwesenheit, die gerade in und dank dieser Zurückhaltung ihre ganze produktive Kraftentwickelt. Das Vergessene ist zwar weg, es ist aber immer auch da.“50

Dieses Vergessen ist eines, das wie ein pharmakón sein eigenes Heilmittel enthält und Vorbedingung der Erlösung ist.51 Das vergessende Werden des erzählenden Ichs wird in der Benjamin’schen Erinnerungspolitik nur darstellbar als ein der männlichen Reifung entgegengesetztes. ‚Herkömmliche‘ Geschichtsschreibung und damit ein Immer-weiter-fort-Schreiben, das sich in genalogische Traditionslinien stellt – ein solches Fort-Schreiben, das macht Benjamin in der Metaphysik der Jugend klar, ist zotenhaft, weil es Sache der Männer ist:

„Zwei Männer sind bei einander immer Aufrührer, am Ende greifen sie zu Feuer und Beil. Sie vernichten die Frau durch die Zote, das Paradoxon notzüchtigt die Größe. Die Worte gleicher Geschlechter vereinigen sich und peitschen sich auf durch ihre heimliche Zuneigung, ein seelenloser Doppelsinn steht auf, schlechtverhüllt durch die grausame Dialektik. Lachend steht die Offenbarung vor ihnen und zwingt sie zum Schweigen. Die Zote siegt, die Welt war aus Worten gezimmert.“ (GS II.1, 94f.)

Geschichtsschreibung als Sache des logos kommt von der männlichen doxa, die sich alles Weiblichen entledigt und dadurch ihre Möglichkeit verwirkt hat, Offenbarung erfahren zu können. Um sich einem im Wortsinne apokalyptischen Modus öffnen zu können, so kann mit Bezug auf das bucklicht Männlein argumentiert werden, muss Mann-Werdung vergessen oder gar nicht erst begonnen werden, es geht um regressive Männlichkeit, die Kind bleibt bzw. in die Kindheit als Sprachkonzept der Unverfügbarkeit einmündet.52 Darüber kann es die Perspektive des vergessen-den Erinnerns affirmieren: „Liebes Kindlein,“ so lauten noch einmal die letzten Zeilen des Essays, „ach ich bitt, / Bet fürs bucklicht Männlein mit.“(GS IV.1, 304) Nur eine sich männlicher Reifung verweigernde Geschichtsauffassung – als schreibendes Erinnern und erinnerndes Schreiben, das ihr eigenes Vergessen mitdenkt – macht Erlösung möglich. Auch auf diese Weise lässt sich dieser letzte Text der Berliner Kindheit in Bezug setzen zum zweiten Ort des Männleins.
Dieser zweite Ort sind die Texte Benjamins zu Kafka. Denn es ist, so Benjamin, Kafkas Blickselbst, der „niemals ein anderer als der unentschiedene, bald stumpfe, bald erbarmende, bald scheele ist, der das bucklicht Männlein streift“.(GS II.3, 1241: Ms 290)53 Kafkas Blick, der seine formlosen Figuren figuriert, kann das nur tun, weil auch er konvex am Männlein vorbeigeleitet wird. Auch Kafkas Blick perspektiviert Form-loses im Modus vergessenden Erinnerns: „Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt.“ (GS II.2, 431)Kafka spreche von der Form der Formlosigkeit ,der sich die vergessenen Dinge und deren Erzählung hingeben: „Vor dieser Seite her gesehen istKafkas Werk überhaupt die Antwort auf die Frage: wie sieht die Welt im Stande des Vergessen-seins aus? […] Die Welt im Stande des Vergessenseins ist entstellt.“ (GS II.3, 1239; Ms 288) Die „Spule Odradek, die Sorge des Hausvaters […], das Ungeziefer […], das große Tier, halb Lamm, halb Kätzchen“ – sie alle „sind entstellt, wie es die Welt für jenen Rabbi war, der lehrte, daß das Kommen des Messias sie nicht durch und durchveränderte.“ (GS II.3, 1239; Ms 288) Sie sind Möglichkeitsbedingung der Erlösung. Und sie sind „durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbilde der Entstellung, dem Buck-ligen. Unter den Gebärden Kafka’scher Erzählungen begegnet keine häufiger als die des Mannes, der den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt.“(GS II.2, 431) Andernorts, am Auftakt der Kaf-ka-Essays und das heißt im Rahmen der Potemkin-Anekdote, (GS II,2, 409) findet Benjamin fürdiesen Zustand den Begriff der Depression, dessen lateinischer Ursprung, deprimere – ‚nieder-gedrückt sein‘, eben dort schon auf die langen Figurenreihen der Buckligen vorausweist, wie ersie eben bei Kafka nachweisen wird.54 Allerdings differenziert Benjamin zwischen solchen Figu-ren, die ontologisch gebeugt sind, und solchen, die gleichsam dynamisch sich beugen. So zählen zum ersten Gestaltenkreis etwa Odradek, Gregor Samsa oder das Katzenlamm, solche Figuren also, die vielmehr „noch im Bann der Familie“ leben. (GS II.2, 414) Zur zweiten Gruppe gehören die „Gehilfen“, so zum Beispiel Bauernfänger, Studenten oder Narren, und das heißt „unfertige Geschöpfe, Wesen des Nebelstadiums“, die „keinem der anderen Gestaltenkreise zugehörig, keinem fremd [sind]; sie sind „Boten, die zwischen ihnen [den Gestaltenkreisen] geschäftig sind.“(ebd.) Und nur für diese kontur- und ortlosen Fi-guren, von denen keine „nicht im Steigen oder Fallen begriffen ist“, und ihresgleichen – nur fürdiese „Unfertigen und Ungeschickten ist die Hoffnung da.“ (GS II.2, 415) Von diesen dynamischen Figuren borgen sich die Buckligen die Eigenschaft der Grenzüberschreitung, genauer: Das bucklicht Männlein als „Urbild der Entstellung“ und damit als Emblem der Unförmigkeit vereint in sich dieEigenschaften beider Welten. Es ist die Referenz auf die Vorwelt einerseits, deren ontologisierte Form etwa die Spule Odradek darstellt (vgl.GS II.2, 430f.); es ist Vergessen als regressives Erinnern andererseits, als eines also, das Erinnern über die Gleichsetzung von memoria und inventio deontologisiert. Nur in dieser dynamisierten Form kann das Männlein sowohl zum Sinnbild des entstellten Leben als auch zur Verkörperung messianischer Hoffnung auf Erlösung werden: „In diesem Sinne lässt Benjamin dem bucklicht Männlein am Ende der Berliner Kindheit das letzte Wort.“55 Und dieser Schwund bzw. dieses Ver-schwinden-Lassen von ontologischen Katego-rien „bis hin zum radikalen Kleinwerden und Ver-schwinden des Subjekts und des Körpers“56 markiert auch das Verschwinden von Männlichkeit, die damit auch Geschichtskonzeptionen etwa teleologischen Gepräges de-ontologisiert, die ihrerseits Maßnehmen an Formen der Mann-Werdung. Die Verlaufsform der Figur ist gegenstrebig zum teleologischen Geschichts- und Erzählmodell der Zeit. Es wird, eingedenk seiner Männlichkeit, abgerüstet, verkleinert und zum Ver-schwinden gebracht. Das bucklicht Männlein „ist der Insasse des entstellten Lebens; es wird verschwinden, wenn der Messias kommt […]“. (GSII.2, 432) Und dieses „Verschwinden des Männ-leins fiele nicht nur mit dem Kommen des Messias, sondern vielleicht auch mit dessen Verschwinden, und damit mit dem Anbruch einer klassen-losen Gesellschaft zusammen“.57 Das Verschwinden von Männlichkeit wird zur Voraussetzung deshistorischen Materialismus.

3.2 Zusammenschau

Mit diesen beiden Orten dem poetologisch-mnemopolitischen und dem literarischen –, an denen das bucklicht Männlein gleichzeitig auftaucht und die doch, so suggeriert es die Linearität von Schrift, versetzt auftreten, wodurch sie sich gegenseitig aktualisieren und durchkreuzen, wodurch sie verschiedene, ja gegenläufige literarische Praktiken artikulieren – mit dieser doppelten Ortsgebundenheit umstellt das bucklichte Männlein die Schriften Benjamins und wird, da es sein Programm einlöst und vorführt, sodass sich die Lektüren der Essays und Passagen auf- und ineinander verschieben, performativ. Wie eine Ergänzung der Benjamin’schen ‚Schwellenkunde‘ (Menninghaus), sich also im Gang durch die textuelle Architektur seiner Schriften nach bereits abgeschrit- tenen Orten umzudrehen oder auf unbesuchte vorauszuschauen, kommt das Programm des bucklicht Männleins daher. Es zwingt die Leserin zu einer „Relektüre des Vergessens“, die sich „in einem gegenbiographischen Erinnerungstext wieder[findet], dem das Vergessen als poietisches Prinzip eingesenkt ist“.58 Die Figur des bucklichten Männlein löst damit dreierlei ein: Erstens dient es in der Berliner Kindheit als Figur von Benjamins geschichtsphilosophischem Impetus des Vergessens und des Destabilisierens von Formen, es geht um Verjüngung als Geschichtsprinzip im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, wodurch Geschichte als wohlstrukturierte Erzählung verabschiedet und die Moderne als historische Diskontinuität erfasst wird.59 Indem Geschichte memoria als inventio zu ihrer Sache erklärt, kann sie in den Messianismus verweisen. Zweitens trägt das bucklicht Männlein an seinem literarischen Erinnerungsort das Mal der Entstellung als Form, „die die Dinge in der Vergessenheit annehmen“ (GS II.2, 431). Als Teil seines Figurenkabinetts wird das Männlein – in diesem Sinne gleichbedeutend mit Kafkas Odradek – zum Urbild der Entstellung,60 sein Körper wird zur „vergessensten Fremde“ (ebd.). Hierin ist der direkte Bezug des literarischen zu dem poetologisch-mnemopolitischen Essay gegeben: Das Unförmige, Ungeschickte, Unfertige verweist auf das halb gewordene Kind der Berliner Kindheit, das durch das konvexe Beschauen des Männleins den Halbpart des Vergessens abtreten muss.61 Der Scherbenhaufen, den das Männlein verursacht, ist zerbrochene Kindheit und zerschellte Erinnerung gleichermaßen; ihrer Form beraubt stellt sie die Möglichkeit eines Erzählens von messianischer Erlösung dar. Denn nicht ohne Grund stellt sich für Benjamin im Erzähler-Aufsatz62 die Verfertigung des textuellen Gegenstandes als eine dar, an der sich die Spuren ihres Verfassers ablagern, 75 „wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale“. (GS II.2, 447) Und das heißt drittens, dass es sich in dem Zusammenschluss beider Orte um eine Ent-Erinnerungsarbeit auch an den Formen des Männlichen handelt, das macht die Grammatik der eigentümlichen Formel klar: Die Abbreviatur des Adjektivs (bucklicht statt bucklichtes oder buckeliges) sowie der Diminutiv zitieren zwar eine Männlichkeit herbei; durch den Kontext der Benjamin’schen Geschichtsphilosophie und das heißt durch die den Dingen innewohnende rückwärtige Verlaufsform ist dieser Männlichkeit der eigene Abbau induziert. Benjamin ist auch am Abbau des Konzepts der Männlichkeit innerhalb ästhetischer Theorien interessiert. Vergessen und Entstellung korrespondieren miteinander. So ist zwar mit dem bucklicht Männlein in der nach Benjamin vergeschichtlichten Ästhetik auf deren geschichtlichen Grund verwiesen, in dem das Motiv legitim war. Allerdings wird das Motiv des bucklicht Männlein und seine Flexionsformen – im wahrsten Sinne dessen Beugungsformen – zu einem, dessen Wiederauftauchen nicht schon Geschlechterimagines heraufbeschwört und reiteriert. Vielmehr wird Männlichkeit de-generiert bis zu einem Punkt, an dem sie keine Möglichkeit mehr bietet, sie als Geschichts- bzw. Formanalogon zu konzipieren. Das bucklicht Männlein eröffnet die Perspektive auf etwas, dass sich als Beginnlosigkeit beschreiben ließe.63 Eine Erscheinung, die indes ephemer ist und bleiben muss, genau wie Kindheit als Übergangsphänomen (zum Messianismus) auftritt. Das ist auch das Revolutionäre bei  Benjamin: Nicht (nur) die Bedeutungen von Begriffen werden zersetzt,64 sondern ihre Herkünfte und damit ihre Anwendbarkeiten, ihr motivischer Ballast gleich mit. Nicht umsonst stellt Birgit Dahlke daher fest, dass Benjamins Verständnis von Jugendlichkeit sich bemerkenswerterweise „nicht an den Vätern als Vergleichsmaßstab aus[richtet], sondern an den Nachgeborenen“.65 Die Erzählung der Moderne wird aus dem Klammergriff eines paternalen Narrativs (Walter Erhart) befreit und mit Blick auf die futurisierte Vergangenheit der (noch nicht vermännlichten) Jugendlichkeit zugänglich gemacht. Mit Benjamin ist der Übergang von vergeschlechtlichter zu messianischer Literaturtheorie getan. Geschlecht verlässt den Bereich des Konzeptionellen und wird nunmehr zum Gegenstand der Theorien selbst.

4 Conclusio

Die Verlaufsrichtung, entlang derer Benjamin ‚seinen‘ Messianismus perspektiviert, ist gegenläufig zu derjenigen, von der Lukács’ Modell des Romans bestimmt ist. Das mag zunächst trivial klingen, eröffnet aber vor dem Hintergrund der Männlichkeitsfolie, auf der beide Modelle aufgespannt sind, den Horizont für eine Umperspektivierung von Schreib-, Erzähl- und Geschichtsweisen, (i. S. v. ways of ‚making‘ history) wie sie erst Jahrzehnte später diskursiv eingespielt wird. Denn den Männlichkeitskonzepten wesentlich ist ihr Angewiesensein auf Kindheitsimagines, und zwar in zweifacher Hinsicht: Kindheit und Jugend sind erstens notwendige Kontrafakturen der in Stellung gebrachten Männlichkeitskonzepte. Und zweitens werden auch diese Imagines allererst im Verfahren der Modelle hervorgebracht, es handelt sich bei ihnen um Teil und Effekt der poiesis der Schriften. In Lukács’ Perspektive wird naive Kindlichkeit ästhetisiert, sofern die griechische Epopöe in dieser Konstellation geschichtlich und dadurch systematisch unterscheidbar geworden ist; innerhalb Benjamins Messianismus geht es dabei um eine Figur der futurisierten Vergangenheit, die eine undialektische66 Perspektivierung der Zukunft ermöglicht. Um über moderne Lebens-Formen sprechen zu können, muss Lukács allererst die kindliche der Antike (nachträglich) erfinden;67 Benjamin stellt Kindheit als Effekt des Erinnerns aus, das das Erinnerte in seinem performativen Vollzug hervorbringt.68
Und genau wie Lukács seine gereifte Männlichkeit erst durch die im Gleichschritt erfundene Lebens-Form der Antike zu konzeptualisieren in der Lage ist, ist es Benjamins bucklicht Männlein, an dem, ähnlich wie an Kafkas Odradek, der „stumpfe Blick“ vorbeistreifen muss, um die Kindheit als Ort einer Lebens- und Erzählform zu inthronisieren, die gerade in der Nicht-Aktualisierung, in ihrer Potenz (potentia, dynamis)69 die Möglichkeit des Messias denkbar machen soll. Mit beiden Modellen ist ein strategischer Einsatz von Kindheit und deren Perspektivierung verbunden, allerdings mit vertauschten Start- und Zielpunkten. Will Lukács der verlorenen Kindheit der Antiken eben jene auf ihr Ausreifen angelegte Männlichkeit entgegensetzen, stellt sich für Benjamin nur der umgekehrte Weg der Schrumpfung, und das heißt in diesem Fall der der Ent-Vergeschlechtlichung als gangbar dar. Die Erlösung wird dort kommen, wo Männlichkeit, um einen weiteren Begriff Benjamins zu verwenden, ‚entstaltet‘ ist, nicht sich ausgereift haben wird. Mit „Entstaltung“ bezeichnet Benjamin einen Modus der Phantasie, die sich immer „auf ein Gestaltetes außerhalb ihrer selbst bezieht“. (GS VI, 116) Männlichkeit – und das betrifft die konzeptuelle wie die empirische gleichermaßen – muss entstaltet werden, um nicht mehr Formvorlage des zu-Gestaltenden zu sein.
Denn mag das Konzept der Männlichkeit auch als Chiffre für Entwicklungstendenzen innerhalb ästhetischer, epistemologischer oder historischer Prozesse gelten, so sind die geschlechtlichen Implikationen des Männlichkeitskonzepts eingedenk ihrer ideengeschichtlichen Herkünfte wohl nicht zu leugnen. Theorien ‚machen‘ auf diese Weise wesentlich mehr, als intrinsische Wahrheiten über ihre Gegenstände zu generieren. Sie und ihre Verfahrensweisen drängen (zurück) in die empirische Wirklichkeit, und so entfalten Geschlechtermetaphern ihre Wirksamkeit sowohl theorieintern als auch -extern. Trennscharf lassen sich diese Bereiche kaum mehr voneinander unterscheiden.
Entsprechend ist die Verwiesenheit von Männlichkeit und Geschichtsperspektive eine wechselseitige: Benjamins „Wendung gegen einen Geschichtsbegriff der Progression und des Kontinuums“70 läuft auch über Figurationen von Männlichkeit, anhand von deren Verkleinerung ein gegenläufiges Geschichtsmodell demonstriert wird; zugleich kann nur ein regressives Verständnis von Geschichte, das an seinem Nullpunkt den Messias aufscheinen lässt, die Überwindung von Männlichkeit als Steuerungseinheit von historischen Prozessen und deren Produktions- wie Beschreibungsformen (Erzählen als historische Konfiguration von Selbst-Verortung und Selbst-Herbei-Erzählen) garantieren.
Für die Figuren und Konzepte von (literaturwissenschaftlichen) Theorien hat das weitreichende Konsequenzen. Mit dem bucklichten Männlein kündigt sich etwas an, das die Haltung des Schreibens genannt werden kann: Der Körper ist Schrift nicht vorgängig, er wird zu einer Operation in ihr, Körper und Schrift korrelieren und sind ko-konstitutiv.71 Um diesen Schritt tätigen zu können, muss Männlichkeit eingedenk ihrer konzeptuellen Genealogie – gemeint sind die Kontiguitäten, die Männlichkeit in diesen (Roman-)Theorien herstellt, sodass sie damit konventionelle Form,- Erzähl- und Geschichtstheorie stabilisiert – als Beschreibungskategorie aus ästhetischen Schriften verbannt werden. Männlichkeit muss, und das führen Benjamins Schriften vor, als dem Projekt des historischen Materialismus schädliches Element kenntlich gemacht und in das Außen der ästhetischen Texte verlegt werden.72 Auf diese Weise bestimmt die ästhetisch-poetologisch fragwürdige Kategorie der Männlichkeit nicht mehr die Theoriegegenstände und wird selbst als Untersuchungsgegenstand relevant. Nur weil das Konzeptuelle des Männlichen aus ästhetischen Theorien verdrängt wird (und sein Verschwinden als Schrumpfeffekt seiner diskursiven Korporealität daherkommt),73 wird es adressierbar. Von nun an wird Schreiben (und Lesen als dessen ko-konstitutiver Akt) im Wortsinne zur Haltungsfrage. Es wird ein Phallogozentrismus adressierbar sein, und seine  Gegenpositionen werden in Flexionsformen gebückter Haltung artikuliert werden. Die Verbindung, die Jacques Derrida in seiner Grammatologie etwa 40 Jahre später zwischen Schrift und Haltung herstellen und an der geschult das Programm einer écriture féminine etwa von Hélène Cixous formuliert werden wird, kündigt sich am  Übergang von gereifter zu buckliger Männlichkeit bereits an: „[E]ine aufrechte Körperhaltung einnehmen, jener gleich, die sich theoretisch nennt, das ist ganz und gar nicht mein Anliegen,“74 wird Cixous ihr eigenes Schreiben charakterisieren. Entsprechend erklärt schon Benjamin diese Kategorie unmissverständlich zu einem der zentralen Orte eines politisch engagierten Lesens bzw. Schreibens, wenn es in Der Autor als Produzent heißt: „Die beste Tendenz ist falsch, wenn sie die Haltung nicht vormacht, in der man ihr nachzukommen hat.“ (II.2, 696) Die Haltung materialisiert sich im Schreiben, und erst dadurch wird die Tendenz fassbar, sie wird performativ, und das macht sie bereits bei Benjamin. Dessen messianisches Programm vom futurisierten Vergessen annonciert den Modus, über den das Konzept der Männlichkeit schrittweise entstaltet werden kann. Nur so läuft Erzählen nicht Gefahr, seine Konstitutionselemente schlichtweg zu negieren, damit es keine Reste mehr geben kann, die ein re-erecting des Systems geschehen machen könnten.

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Fußnoten

1 Theorien können sich nicht ohne Anschauung oder Kon- zeptionen von dem, worum es geht, bilden. Der Blick auf das Objekt am Horizont – gr. θεωρία (theōria) – ist nicht denkbar ohne Bezug auf das sinnlich Wahrnehmbare – gr. αἴσθησις (aísthēsis). Theorie und Ästhetik sind aneinan- der gebunden. Entsprechend gibt es, wie auch schon die antike Rhetorik wusste, keinen Text, keine überzeugende Rede und keine theoretische Diskussion ohne künstliche Gestaltung, ohne den gewollten oder ungewollten Einsatz von Stilmitteln, ohne eine τέχνη (technē), die den Bereich des Sinnlichen zugleich einbezieht und unterläuft. Dieser Kunstgriff erschöpft sich nicht in dem Zweck, das Schwä- chere zum Stärkeren zu machen. Vielmehr wird das Argu- ment im Vollzug allererst hervorgebracht. – Vgl. Mersch/ Sasse/Zanetti 2019. 2 Vgl. Reisener 2021. 3 Vgl. zum Begriff der männlichen Hegemonie. Bourdieu 2012; zum Begriff der hegemonialen Männlichkeit vgl. Con- nell [1995] 2005. 4 Vgl. Campe 2009, S. 197. 5 Vgl. Michler 2015, S. 512. 6 So parallelisiert etwa Otto Flake seine Beschreibung einer Krise des Romans im gleichnamigen Aufsatz von 1922 mit der Diagnose einer Krise der Männlichkeit. 7 Bei der Funktionsgeschichte handelt sich um eine Me- thodik, die sich auch einer Verwendung in intersektionalen Perspektive anbietet, insofern dabei die „Simultanitäten und wechselseitig produktiven Konstruktionsmomente“ verschiedener Kategorien und nicht deren bloßes zeitglei- ches Auftreten verhandelt wird. – Schnicke 2014, S. 17. Für seine methodische Ausrichtung zieht Schnicke Georg Bol- lenbecks (1999) Projekt einer Funktionsgeschichte heran. 8 Geulen 2012. Abschnitt 23. 9 Vgl. Peters 2018. 10 Wetters 2014, S. 152. 11 Vgl. ebd., S. 153. 12 Vgl. Campe 2009, S. 197. Der Erstdruck erschien in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 11 (1916); die Buchausgabe dann 1920 in Berlin. 13 Dannemann 1997, S. 24. 14 Vgl. de Man 2018, S. 18. 15 Vgl. Göcht 2016, S. 189. 16 Vgl. Dannemann 1997, S. 28f. 17 Das wird am Beginn der Theorie performativ vorgeführt, wenn dort die Antiken zu den Modernen durch die literari- sche Operation in Kontrast gesetzt werden. Erst damit wird die Antike als Ort historischer Differenz adressierbar. 18 Campe 2014, S. 171. 19 Dembski 2000, S. 89. 20 Fredric Jameson (1974, S. 165) spricht mit Bezug auf die Antike von der dort gegebenen Totalität. 21 Vgl. ebd. 22 Campe 2007, S. 142 (Anm. 46). 23 Vgl. Campe, 2018, S. 27. 24 Lukács 1982, S. 180. 25 Vgl. zu dieser Kategorie bei Lukács Wetters 2014; auch ders. 2014a. 26 Zu ergänzen wären noch Einflüsse von Henri Bergson, Émile Boutroux und vor allem Georg Simmel. 27 Vgl. Campe 2018, S. 27. 28 Campe 2014, S. 173. 29 Genauer in seinem Medium, der Prosa. Diese fordert aber ihren Tribut, nämlich den der inhaltlichen Totalität – vgl. Moretti 2014, S. 65; auch Blumenberg 1991; siehe dazu bei Lukács LTR [47, 48] 49. 30 Vgl. Dembski 2000, S. 89. 31 Vgl. ebd., S. 172. 32 Das bedeutet, das in der Formel ihre progressive Ver- anlagung angezeigt wird, die so über sich hinaus auf das gleichsam post-dämonische verweist. Aufgrund ihrer An- passungsfähigkeiten kann angenommen werden, dass auch dann Männlichkeit – vielleicht dann formvollendete? – von Lukács als geeigneter Darstellungsmodus imaginiert wird. 33 Die Formel lässt in dieser Doppelperspektive das ge- rade im Umfeld des sogenannten deutschen Idealismus sowie seinen Vorgängern und Nachfolgern (etwa Karl Ro- senkranz, Willibald Alexis oder Wolfgang Menzel), favorisierte Modell von parallelisierter Phylo- und Androgenese in sich zusammenfallen. 34 Zu der Konstellation des Verfasser- und des Kommen- tator-Lukács vgl. Hohlweck 2018. 35 Vgl. Chisholm 2009, bes. S. 265–270. 36 Geulen 1996, S. 162. 37 Vgl. Weigel, 1996. 38 Vgl. Buck-Morss 1986. 39 Vgl. Deuber-Mankowsky, 2007, bes. S. 265–267 (Kapi- tel: Antigenealogische Revolte und Reproduktion). 40 Dahlke 2006, bes. S. 232–242 (Kapitel: Metaphysik der Jugend bei Benjamin). 41 Vgl. Chrisholm 2009, bes. S. 251–253. 42 Vgl. Geulen 1996, S. 164f. 43 Vgl. Herweg 2006, hier S. 52. 44 Vgl. Herweg 2006, S. 52. 45 Vgl. Haider 2003, S. 161. 46 Vgl. Wohlfahrt 1988, S. 153. 47 Vgl. Brüggemann 2008, S. 229. 48 Vgl. Wohlfahrth 1988, S. 151. 49 Szondi 1978, S. 286. 50 Borgards 2009, S. 343. 51 Vgl. Wohlfarth 1988, S. 147. 52 Vgl. Schuller 2009, S. 322. 53 Mit derselben Zeile zu Kafkas Blick leitet Benjamin seine Notizen zum „Halbpart des Vergessens“ ein, die sich wiederum in den Berliner Kindheiten finden (vgl. GS II.3, 1241: Ms 290). 54 Vgl. Lorenz Jäger, Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten, Hamburg 2017, S. 468f. 55 Herweg 2006, S. 63. 56 Renneke 2008, S. 136. 57 Wohlfahrt 1988, S. 158. 58 Borgards 2009, S. 35. 59 Vgl. Dahlke 2006, S. 235. 60 Vgl. Wohlfahrt 1988, S. 128. 61 Vgl. Schuller 2006, S. 335; auch Borgards 2009. 62 Dessen Erzähler-Konzept – für Benjamin Korrektiv des Romanautors – wird im Übrigen männlich figuriert (für den Hinweis danke ich den anonymen Gutachter:innen). Inwie- fern damit eine Problematisierung der hier vorgeschlage- nen Lesart verbunden ist, müsste andernorts nachgegan- gen werden. 63 Botho Strauß (1992) meint damit einen Zustand, der das Aushalten eines Ursprungslosen beschreibt, also wider den Willen zur Einsicht in den Ursprung. 64 Vgl. Geyer-Ryan 1994, S. 201. 65 Dahlke 2006, S. 233. 66 Vgl. Arendt 1989, S. 203; dazu auch Weissberg 2011, S. 180f. 67 Vgl. Fleming 2014. 68 Vgl. Borgards 2009. S. 244. 69 „What we call form-of-life is not defined by its relation to a praxis (energeia) or a work (ergon) but by a potential (dynamis) and by an erativity. [...] By contrast, there is form-of-life only where there is contemplation of a poten- tial.“ – Agamben 2016, S. 247. 70 Weissberg 2011, 180. 71 Vgl. Freeman 1988, S. 63; dazu auch Postl 2013, S. 27f. 72 Mehr noch, hilft dessen Umkehrung – das bucklich- te Männlein eben – dem historischen Materialismus Eva Geulen zufolge (2022, S. 41) „heimlich beim Gewinnen“. 73 Dieser Schrumpfeffekt muss bei all seiner Abstraktheit als Verlaufsform betrachtet werden, sodass das Körperli- che für Cixous (Postl 2013, S. 27) gleichsam verschwindet. 74 Hélène Cixous/Elisabeth Schäfer, 2013, S. 190.