Uwe Lindemann: Totale Entheimatung, oder: Die Vertreibung des Menschen von der Erde. Zur Aktualität von H.G. Wells’ The War of the Worlds
Abstract: Der Beitrag thematisiert anhand einer Analyse von H.G. Wells’ The War of the Worlds (1898) die prekäre Beziehung des Menschen zu seinem vermeintlich „natürlichen“ Heimatplaneten in einem Kriegsszenario, das auf die Vernichtungskriege des 20. Jahrhunderts vorausweist. Bereits Ende des19. Jahrhunderts macht Wells’ Roman die komplexen Rahmenbedingungen bewusst, innerhalb derer der Mensch die Erde als „natürlichen“ Lebensraum ansieht. Zugleich führt der Roman die Folgen vor, die mit einem Vernichtungskrieg und dem dadurch ausgelösten Zusammenbruch aller sozialen, politischen und institutionellen Sicherungssysteme einhergehen. Der Beitrag zeigt, dass Wells’ Text im Zeitalter globaler Flüchtlingsströme sowie elementarer ökologischer Veränderungen weiterhin höchste Aktualität besitzt.
Based on an analysis of H.G. Wells’ The War of the Worlds (1898), this contribution deals with the fragile relationship of humans to their supposedly “natural” home planet in a war scenario that points to the World Wars of the 20th century. Already at the end of the 19th century, Wells’ novel makes us aware of the complex framework within which mankind regards the earth as a “natural” habitat. At the same time, the novel demonstrates the consequences of a war of annihilation and the resulting collapse of all social, political and institutional security systems. The article shows that Wells’ text remains still highly relevant in an age of global refugee flows and elementary ecological changes.
Keywords: War of the World, Heimat, Natur, Planet Erde, Science Fiction
1 Ankunft des Unerwarteten
Im 1898 veröffentlichten Roman The War of the Worlds schildert der britische Schriftsteller George Herbert Wells eine apokalyptische Angstund Alteritätserfahrung, die in radikaler Weise die Frage nach der Stellung der Menschen auf der Erde thematisiert. Bei Wells werden nicht nur die Leistungen menschlicher Zivilisation in Frage gestellt, insbesondere die der britischen auf dem Höhepunkt ihrer imperialen Machtentfaltung.1 Auch das Selbstverständnis des Menschen als dominante irdische Spezies wird in Zweifel gezogen und somit das Weiterleben des Homo sapiens in seiner bisherigen Form. Für die Außerirdischen, welche die Erde nach ihrer Landung im Eiltempo erobern und kolonisieren, taugt der Mensch lediglich als Nahrungsquelle. Was ihn sonst ausmacht und möglicherweise mit Stolz erfüllen mag, wird im Schlagschatten der extraterrestrischen Invasoren unbedeutend und wertlos. Alle Versuche, die außerirdischen Besucher mittels menschlicher Militärtechnologie zu besiegen oder zu vertreiben, schlagen fehl. Auch wenn die Invasion der Außerirdischen im Roman regional beschränkt bleibt, ist ihr im Prinzip keine Grenze gesetzt. Die Erde als exklusiver Lebensraum und „Heimat“ des Menschen steht als Ganzes auf dem Spiel.
Es ist diese ungeheure und zugleich ungeheuerliche Relativierung und Depotenzierung des Menschen, welche die Lektüre von Wells’ Roman auch heute noch, zumal im Rahmen der aktuellen Anthropozän-Debatte,2 interessant macht. Wenn die Außerirdischen die Erde ohne Rücksicht auf die vorhandene Biodiversität umgestalten, wird darin nicht nur die unbedingte ökologische Verwiesenheit des Menschen auf seinen Heimatplaneten sichtbar. Der Roman rückt zugleich die Erfahrung einer bedrohten Erde in den Mittelpunkt, und dies mehr als ein halbes Jahrhundert, bevor es dem Menschen möglich ist, mittels Nuklearwaffen ‚seinen‘ Planeten faktisch unbewohnbar zu machen.
Im Gegensatz zu anderen Texten, die im 18. und 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Idee von der Pluralität der Welten Erfahrungen mit Außerirdischen narrativ entfalten, versucht Wells der außerirdischen Lebensform die denkbar größte Andersartigkeit und Fremdheit zu verleihen. Damit versucht Wells jedwede exotistische Lesart seines Romans zu verunmöglichen. Er verweigert dem Leser ostentativ, eine Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden herzustellen. An der inkommensurablen Andersartigkeit der Aliens zerschellt im Roman nicht nur die menschliche Einfühlungs- und Vorstellungskraft. In provokativer Weise überfordert diese Andersartigkeit auch die Erkenntnisfähigkeit und das Wissen des Menschen. Die Außerirdischen treten der Menschheit als erratischer Block entgegen.3
Bemerkenswerterweise wird am Schluss von The War of the Worlds das von der Außerirdischeninvasion ausgehende Bedrohungs- und Verlustszenario nicht aufgelöst. Im Gegenteil, die fundamentale biologische, soziale, kulturelle und epistemische Entsicherung, die mit der Landung der Außerirdischen einsetzt und den Erzähler traumatisiert zurücklässt, wird prognostisch in die Zukunft verlängert. Mögen auch die auf der Erde gelandeten Außerirdischen tot sein und die unmittelbare Gefahr gebannt, so bedeutet dies, wie der Roman betont, nur eine zeitweilige Atempause, da man nicht weiß, ob nicht bald eine zweite Invasionswelle droht (Wells 1993, 192).
Diese radikale Zukunftsoffenheit, die in der Emergenz der Außerirdischeninvasion gründet, treibt den evolutionsgeschichtlich fundierten Pessimismus4 des Romans auf die Spitze. Was Wells zeigt: Die Welt gehört nicht den Menschen. Sie mögen zwar momentan Krone der Schöpfung sein; aber das kann sich schnell ändern. Stimmen die Umweltbedingungen nicht mehr, innerhalb derer eine Spezies oder Artengruppe überleben kann, steht – vergleichbar mit dem Aussterben von Tieren (Wells 1993, 52) – deren Fortbestand in Frage. Der Mensch ist, so macht der Text in pointierter Weise deutlich, bestenfalls eine Episode in der Erdgeschichte.
2 Das ganz Andere
Die erste Landung bzw. genauer: den ersten Einschlag eines außerirdischen Raumschiffs siedelt Wells in einem agrarisch geprägten Landstrich fünfunddreißig Kilometer südwestlich von London an. Der Erzähler, von Beruf Schriftsteller, lebt dort mit seiner Frau in einem Landhaus. Man führt offenbar eine harmonische Ehe. Vor der Ankunft der außerirdischen Invasoren ist die Welt noch in Ordnung. Alles scheint, wie es im Roman heißt, „safe and tranquil“ (Wells 1993, 55).
Aus dem Kontrast zwischen der ländlichen Idylle am Beginn und den folgenden Ereignissen gewinnt die Invasion ihre volle narrative Wucht. Sie gipfelt in der Beschreibung der Verwüstungen, welche die Außerirdischen mit ihren Waffen (einer Art Laserstrahl und Giftgasbomben) anrichten.5 Es wird von brennenden Dörfern, Äckern und Wäldern, über denen dichte Rauchwolken hängen, und kochenden Flüssen berichtet. Überall sind grässlich entstellte Leichen zu finden. Dazwischen macht sich in rasender Geschwindigkeit eine extraterrestrische Pflanze breit, die das Land nachts rot schimmern lässt. Die Überlebenden verbergen sich vor den Außerirdischen in unterirdischen Höhlen. Nur nachts können sie ins Freie kommen. Die Landschaftsbilder in The War of the Worlds erinnern nicht allein an apokalyptische Szenarien, wie man sie aus religiösen Endzeitvisionen kennt, sondern sie gemahnen bereits an die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges, in dem es nicht zuletzt um die Verteidigung und den Ausbau imperialer Machtansprüche ging.
Es gibt keine Möglichkeit zur Kommunikation mit den extraterrestrischen Besuchern. Dies wird schon zu Beginn des Romans deutlich, wenn eine Abordnung von Wissenschaftlern versucht, in friedlicher Absicht mit den Außerirdischen Kontakt aufzunehmen, dafür aber mit dem Leben bezahlt (Wells 1993, 67f.). Die Kolonisierung durch die Außerirdische erfolgt rücksichts- und skrupellos. Für sie sind die Menschen nur eine Spezies unter vielen auf dem fremden Planeten. Die Außerirdischen nehmen sich, was sie brauchen, ohne Fragen zu stellen oder Antworten zu geben. Über ihre Ziele weiß man nur: Sie gestalten die Erde in ihrem Sinne um und Menschen dienen ihnen als Nahrung. Im Übrigen aber scheint es keine Verbindung zwischen beiden „Welten“ zu geben. Bis zur Invasion haben sie unabhängig nebeneinander existiert. Nun können sie offenbar nicht koexistieren.
Besonders zugespitzt hat Wells die inkommensurable Fremdheit der außerirdischen Lebensform in ihrer Physiognomie und Physiologie. An irdischen Maßstäben gemessen, würde man sie am ehesten für Cephalopoden halten. Einen Rumpf und die damit verbundenen Organe besitzen sie nicht. Die Außerirdischen sind ganz Kopf und „Hände“ – je acht Tentakel in zwei Bündeln. Wie Insekten brauchen sie keinen Schlaf. Sie leben von flüssiger Nahrung und saugen anderen Lebenswesen das Blut aus: einer einheimischen Spezies, die sie auf ihrer Reise zur Erde mitgenommen haben und von denen man Reste in ihren Raumschiffen entdeckt, sowie (nach ihrer Ankunft auf der Erde) von Menschen. Sie haben große, dunkle, starrende, an Oktopoden erinnernde Augen und einen Mund, der allerdings stark zurückgebildet ist. Eine Nase fehlt. Sie besitzen keine Sexualität, da sie sich durch Abknospung vermehren, wie es etwa bei Polypen der Fall ist (Wells 1993, 150). In gattungsgeschichtlicher Hinsicht bestehen nur wenige morphologische Ähnlichkeiten zu Mammalia, geschweige denn zu den Hominoidea, also Menschenartigen im weiteren Sinn.
Um die andersartige Physiologie der extraterrestrischen Lebensform zu unterstreichen, gestaltet der Text die erste Begegnung des Erzählers mit den Außerirdischen als Ekelerfahrung (Wells 1993, 63). Abgestoßen, ja zurückgestoßen weicht er vor den Neuankömmlingen zurück. Erst nach und nach kann er sich überhaupt an ihren Anblick gewöhnen. Im weiteren Verlauf werden immer wieder aversive Gefühle geschildert: gegen das emsig-insektenhafte Verhalten der Außerirdischen, gegen ihre vampirisch-parasitäre Ernährungsweise, gegen ihr zoomorphes, an maritime Lebensformen erinnerndes Aussehen.6 Dass die Außerirdischen mit Oktopoden und Polypen verglichen werden, ist kein Zufall, gilt das Meer doch seit der Antike als paradigmatischer Lebensraum monströser Geschöpfe.7
Erst kommt der Ekel, dann die Angst, und als man realisiert, dass man den in technischer Hinsicht haushoch überlegenen Außerirdischen militärisch nichts entgegenzusetzen hat, die Panik. Diese schildert der Roman in mehreren Massenszenen. Rücksichtlos gegen andere versuchen die vor den Außerirdischen fliehenden Menschen mit allen Mitteln ihr Hab und Gut zu retten. Es herrscht Chaos und Anarchie. Eindrucksvoll zeigt der Roman, wie brüchig die soziale Ordnung ist, sobald die gewohnten Bahnen des Zusammenlebens verlassen werden. Sieht man von wenigen Ausnahmen ab, gibt es keine Solidarität. Die Menschen verwandeln sich in genau jene Tiere, die sie in den Augen der Außerirdischen längst sind – ein weiteres parodistisches Element des Textes im Rekurs auf zeitgenössische Theorien zur Psychologie der Masse.
3 No Exit
In Wells’ säkularer Apokalypse gibt es kein Außen, das noch Hoffnung und Perspektive bieten würde. Die Errungenschaften der menschlichen Zivilisation bieten keinen Schutz gegen die totale „Entheimatung“, welche die Außerirdischen betreiben, um für sich selbst einen neuen Lebensraum zu schaffen. Dabei basiert die Macht der Außerirdischen auf ihrer überlegenen Technologie. Als bloße Lebensform sind sie auf der Erde nicht konkurrenz-, vermutlich nicht einmal überlebensfähig. Schon aufgrund ihrer Physiologie sind sie auf Prothesen angewiesen. Teilweise sind sie mit ihren Gerätschaften geradezu cyborgartig verschmolzen.8 Im Krieg zwischen Menschen und Außerirdischen geht es in letzter Konsequenz darum, wer die bessere Technologie besitzt.9 Diese garantiert Dominanz und „Naturbeherrschung“ (im weitesten Sinne), und zwar gerade unter Ausschluss anderer Selektionsmechanismen.10
Das Ende des Textes macht deutlich, dass der Glaube an die Beherrschbarkeit der Erde und ihrer Bewohner mittels Technik ein Trugschluss ist. Nicht die bessere Technologie entscheidet, wer überlebt. Es ist – ganz im Sinne der Darwin’schen Evolutionsbiologie – der an die Lebensbedingungen am besten Angepasste. Der Sieg über die Außerirdischen ist letztlich den Krankheitsepidemien zu danken, die seit Jahrtausenden zahllose menschliche Opfer gefordert haben (Wells 1993, 184). Der Roman verweist hier unmittelbar auf damalige Realität. Bis kurz vor der Veröffentlichung von The War of the Worlds wütet zwischen 1881–1896 fünfzehn Jahre lang eine weltweite Choleraepidemie. Es ist der fünfte Ausbruch der Cholera im 19. Jahrhundert. Zwar erreicht die Epidemie in den 1880er und 1890er Jahren nicht England,11 fordert aber zum Beispiel in Hamburg noch 1892 mehr als achteinhalbtausend Tote.
Andererseits wird mit dem Schluss des Romans auf die damalige Kolonisierung angespielt. Die Kolonisatoren brachten den Kolonisierten in der Regel nicht nur Zivilisation, Kultur und die „richtige“ Religion, sondern stets auch Krankheitserreger, oft mit verheerenden Auswirkungen für die indigenen Völker.12 In Wells’ Roman wird dieser Aspekt in negativer Hinsicht gespielt. Hier gehen nicht die Kolonisierten an Krankheitserregern zugrunde, sondern die Kolonisatoren.
Der Schluss von Wells’ Roman ist in mehrfacher Hinsicht ironisch gebrochen, zum einen, weil im Sieg der Mikroorganismen über die Außerirdischen die forcierte Depotenzierung und Relativierung des Menschen ungebrochen fortgeschrieben wird, zum anderen, weil die damalige Wissenschaft, allen voran Louis Pasteur und Robert Koch, die „microscopic allies“ (Wells 1993, 184), die den Außerirdischen im Roman den Garaus machen, auf breiter Front zu bekämpfen beginnt. Drittens rekurriert das mit den Bakterien und Viren ins Spiel gebrachte Hygiene-Thema auf das im Roman skizzierte Szenario eines möglichen, menschlichen Widerstands gegen die Außerirdischen. Der Plan sieht vor, dass sich die überlebenden Menschen – gewissermaßen in Umkehrung der in Wells’ früherem Roman Time Machine (1895) geschilderten Verhältnisse – in den Untergrund zurückziehen, genauer: in die Londoner Kanalisation, um von dort aus partisanenartig zu operieren.13
4 Prekäre Natur, prekäre Heimat
Wells’ Roman macht die Ansprüche sichtbar, mit welcher der Mensch seit biblischer Zeit die Erde als sein Eigentum und seinen Herrschaftsbereich ansieht. Überdies kennzeichnet der Roman das Verhältnis von irdischer Natur und Mensch als fragil und verletzlich. Dabei macht Wells in der Hypertechnisierung der außerirdischen Invasoren zugleich die Grenzen einer rein auf Technologie basierenden Naturbeherrschung deutlich und artikuliert ein fundamentales Unbehagen. Dass die Außerirdischen mit Hitzestrahlgeneratoren und Gasbomben ausgestattet sind, also mit zwei der damals tonangebenden Zukunftstechnologien, zeigt dies ebenso wie das über das Ende des Romans verlängerte Bedrohungsszenario einer möglichen zweiten Invasion. In den Außerirdischen blicken die Menschen ihre eigene technisierte Zukunft. Noch zugespitzter ausgedrückt: Die Menschen haben im Zuge der Industrialisierung und des dadurch bedingten Technologieschubs, der gerade auch im militärischen Bereich Ende des 19. Jahrhunderts spürbar ist, längst begonnen, sich selbst zu entheimaten, und die grausamen Vernichtungskriege des 20. Jahrhunderts werden Wells’ Vision um ein Vielfaches übertrumpfen.
In Wells’ Dystopie wird keine alternative Welt präsentiert, zu der man zurückkehren oder in die man aufbrechen könnte. Das anfängliche Lob des Landlebens bleibt kursorisch und exklusiv auf die private Situation des Erzählers bezogen. Wenn er zu Beginn des Romans davon berichtet, dass er gerade dabei sei, das Fahrradfahren zu erlernen, oder wenn er die Geräusche, die, durch die Entfernung freilich stark gedämpft, von einem Bahnhof in der Nähe nachts zu seinem Landhaus herüberklingen, als Melodie wahrnimmt (Wells 1993, 55), dann wird das Thema Technisierung früh ins Lob des Landlebens eingeflochten. Aber es wird kein Gegensatz aufgemacht, hier sorgloses naturnahes Landleben, dort Industrialisierung und Urbanisierung. Beides scheint nebeneinander existieren zu können, ohne dass daraus ein Konflikt entstünde.
Der Text bleibt ambivalent. So sehr die teils satirischen, teils parodistischen Motive hervortreten, so wenig lässt sich eine klare zivilisationskritische Stellungnahme erkennen. Das Verlustszenario des Romans entwirft keine erstrebenswerte Vergangenheit oder zukünftige Parallelwelt. Ganz und gar verwiesen auf das Hier und Jetzt thematisiert der Text anhand der Außerirdischeninvasion die Umbrüche, welche die moderne Wissenschaft und Technik hervorbringen, und die fundamentale Verunsicherung, die mit diesen Entwicklungen einhergeht. Zentraler Punkt ist, wie sich der Mensch im Verhältnis zu seiner Umwelt definiert und welche Rolle er dieser Umwelt für sein Leben und Überleben zubilligt. Dass dieses Verhältnis keineswegs klar ist, macht Wells’ Roman schon Ende des 19. Jahrhunderts deutlich. Wie in einem Brennspiegel versammelt der Text die Leitthematiken seinerzeit virulenter wissenschaftlicher Diskurse aus Biologie, Politik, Soziologie, Anthropologie, Religion und Astrophysik und lässt sie in parodistisch-satirischer Brechung aufeinanderprallen.
Die Außerirdischeninvasion zieht in radikaler Form die Selbstverständlichkeit menschlicher Welt- und Selbstdeutungen in Zweifel und betont deren instrumentell-konstruierten Charakter. Das fehlende Wissen des Erzählers in Bezug auf die Außerirdischen spiegelt die prinzipielle Verunsicherung in Bezug auf die Welt- und Selbstdeutungen des Menschen. So sehr außer Frage steht, dass der Mensch auf der Erde beheimatet ist, so wenig ist damit darüber ausgesagt, in welcher Weise diese Beheimatung gedeutet und verstanden wird. Die Konfrontation des Menschen mit einer außerirdischen Spezies stellt – im Gegensatz zu dem, was man vielleicht intuitiv erwarten würde – in Wells’ Roman gerade die „Natürlichkeit“ der Beziehung des Menschen zu seinem Planeten in Frage.
5 Kriegserfahrungund Heimatgefühl
Das Thema Heimat wird in Wells’ Roman nicht nur über die prekäre Beziehung des Menschen zu seiner vermeintlich „natürlichen“ Heimat, der Erde, verhandelt. Es wird überdies in jenen Szenen des Romans zum Thema, wo die Folgen des Krieges mit den Außerirdischen geschildert werden. Wells’ Text stellt hier nicht allein den identifikatorischen Bezug zur Heimat heraus, der im individuellen Erleben und Erinnern gründet. Der Roman macht auch deutlich, dass erst der Entzug bzw. die Gefahr des Entzugs die Bedeutung von Heimat für das einzelne Individuum hervortreten lässt. Mehr noch, erst der Entzug von Heimat konstituiert Heimat als solche, macht sie zu einem Gut, dass man zu verteidigen beginnt. Heimat ist also nichts, was von vornherein gegeben wäre. Sie wird erst im möglichen Verlust und der daraus resultierenden Distanz zum Referenzpunkt des Individuums.14
Aus diesem Grund ist Heimat nicht allein Konstrukt oder Erzählung im Nachhinein. Heimat besitzt, wie Wells’ Roman zeigt, immer schon eine affektuale Dimension, die nicht in einem allgemeinen Konzept aufgeht. Interessanterweise hat Ernst Jünger diesen Aspekt früh in Bezug zur Erfahrung des Krieges gesetzt. Über die Gespräche in den Schützengräben während des Ersten Weltkriegs berichtet er:
Jetzt sind sie [die Soldaten] bei der Heimat angelangt. Das ist ihr zweiter großer Gesprächsstoff. Wie andere ihre Welt in Leben und Dichten, Hell und Dunkel, Gut und Böse, Schön und Häßlich, Freude und Leid, teilen sie die ihre in Heimat und Krieg. Sagen sie ‚zu Hause‘ oder ‚bei uns‘, so denken sie dabei nicht an irgendeinen bunten Fleck der Landkarte. Heimat, das ist die Ecke, an der sie als Kinder spielten, der Sonntagskuchen, den die Mutter backt, das Zimmer im Hinterhaus, die Bilder überm Sofa, ein Sonnenstrahl durchs Fenster, das Kegelspiel an jedem Donnerstag, der Tod im Bett mit Zeitungsnachruf, Leichenzug und wackelnden Zylindern hinterher. Heimat, das ist kein Schlagwort; es ist nur ein kleines bescheidenes Wörtchen und doch die Hand voll Erde, in der ihre Seele wurzelt. Staat und Nation sind ihnen unklare Begriffe, aber was Heimat heißt, das wissen sie. (Jünger 2016, 106)
Die Abwesenheit des Politischen, die sich Jüngers Ausführungen zeigt, kennzeichnet auch Wells’ Roman. Wenn der Erzähler während seiner Flucht an sein Zuhause denkt, sind es die Nebensächlichkeiten und Kleinigkeiten aus dem gemeinsamen Leben mit seiner Frau, an die er sich erinnert. Anfangs hofft er noch, dass die militärische Schlagkraft der britischen Armee die Außerirdischen besiegen kann. Aber schon bald wird deutlich, dass das britische Empire den extra-terrestrischen Invasoren militärisch nichts entgegenzusetzen hat.
Er ist auf sich allein gestellt. Von außen ist keine Hilfe zu erwarten. Politische Wortführer oder Amtsträger bleiben im Roman bezeichnenderweise unerwähnt. Das mächtige britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung geht sang- und klanglos unter. Zurück bleibt das einzelne Individuum mit seinem höchstpersönlichen Bezug zum lokal gefassten sozialen Nahraum und den Emotionen, die es damit verbindet.
Neben der ökologischen Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt thematisiert The War of the Worlds auf diese Weise auch den Zusammenhang von Kriegserfahrung und Heimatgefühl. Mit Blick auf die großen militärischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts schildert Wells’ Roman nicht allein die Auswirkungen, die aus einem Vernichtungskrieg mit hochtechnisierten (Massenvernichtungs-)Waffen resultieren. Der Text antizipiert zugleich die nicht-militärische Seite eines solchen Krieges und macht die Wirkungen auf die sozialen, politischen und institutionellen Zusammenhänge sowie auf die psychosoziale Verfassung der Menschen namhaft. Die außerirdischen Invasoren hinterlassen verbrannte Erde sowohl in ökologischer als auch in geo- und ethnografischer Hinsicht.
Die Außerirdischen wirken in Wells’ Roman nicht nur als epistemische Disruptoren, indem sie die fragilen Rahmenbedingungen bewusst machen, innerhalb derer der Mensch die Erde als „natürlichen“ Lebensraum ansieht. Der Text führt gleichermaßen die Folgen vor, die mit einem Vernichtungskrieg und dem dadurch ausgelösten Zusammenbruch aller sozialen, politischen und institutionellen Sicherungssysteme einhergehen. Obwohl der Text versöhnlich endet, wenn der Erzähler seine totgeglaubte Frau wiedertrifft, wird The War of the Worlds von einer fundamentalen anthropologischen Verunsicherung beherrscht. Es ist ein Text, der im Zeitalter globaler Flüchtlingsströme sowie elementarer ökologischer Veränderungen höchste Aktualität besitzt, weil er das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seiner Umwelt radikal auf die Probe stellt. Die bittere Pointe von Wells’ Text aus heutiger Sicht ist: Wir brauchen keine Außerirdischen, um unsere Welt auf radikale und – treffen die Vorhersagen der Klimaforscher zu – die Menschheit in ihren Existenzbedingungen fundamental gefährdende Weise umzugestalten.
Literaturverzeichnis
Fußnoten
1 Das britische Kolonialreich umfasste zu dieser Zeit „mit acht Millionen Quadratmeilen ein Sechstel der Erdoberfläche und ein Fünftel der Erdbevölkerung“ (Neitzel 2000, 223). Aus diesem Grund war Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weltweit unbestritten die wichtigste Handelsmacht und technologisch führende Nation. Darüber hinaus hatte es eine „dominante Stellung in der Telekommunikation“ (Holtorf 2013, 219) inne. Die global dominante Stellung Großbritanniens basierte daher nicht nur auf seiner geografischen Größe, sondern nicht weniger auch auf der Kontrolle von See- und Handelswegen und den dafür erforderlichen Kommunikationswegen. 2 Zum Stand der Debatte vgl. Gebhardt 2016 sowie Ruppenthal 2018, 45ff. 3 Dies wird auch in der Erzählanlage des Romans gespiegelt. Alle Ereignisse werden retrospektiv aus der subjektiven Perspektive des Erzählers berichtet. Was Tatsache, was Vermutung ist, lässt sich oft nicht entscheiden. So bleibt letztlich auch unklar, woher die Außerirdischen stammen. Der Text legt einen Konnex zum Mars nahe. Bewiesen werden kann dies aber nicht. Dazu tritt die ausgesprochene Ironie des Textes, die sich sowohl in der satirischen Überzeichnung vieler Figuren als auch in der parodistischen Verfremdung religiöser Auffassungen und damals virulenter wissenschaftlicher Theorien zeigt. Zugespitzt wird diese Ironie am Schluss des Textes: Nicht die Menschen vermögen die extraterrestrischen Invasoren zu besiegen. Es sind irdische Mikroorganismen, die den offenbar immunabwehrschwachen Außerirdischen den Garaus machen. 4 In diesem Sinne wurde der Roman als allegorische Veranschaulichung des sozialdarwinistischen Kampfes der Nationen untereinander interpretiert. Andere Deutungen haben in den Außerirdischen eine zukünftige biologische Entwicklungsstufe des Menschen gesehen, wobei die intellektuelltechnische Vervollkommnung mit körperlicher Degeneration und dem Verfall moralischer Werte einhergehe. Gute Überblicke über wichtige Interpretationsansätze zu Wells’ Roman bieten der Aufsatz von Schultze (1986) sowie die Einleitung und der umfangreiche Anmerkungsapparat zur kritischen Edition von 'The War of the Worlds' (Wells 1993). 5 Die Außerirdischen besitzen mit Hitzestrahl und Gasbomben zwei überlegene militärische Technologien. In den Bereichen Elektrotechnik und Chemie war Deutschland um 1900 weltweit führend. So hat man die Außerirdischen in Wells’ Roman als Deutsche interpretiert. Der Text schildere die britische Furcht vor einer militärischen Invasion vom europäischen Kontinent aus. 6 Wells spielt in seinem Roman virtuos auf der Klaviatur ekelerregender Erfahrungen und Gefühle. Besonders erhellend für Wells’ Roman ist der Essay 'Der Ekel' (1929) des ungarischen Philosophen Aurel Kolnai. 7 „Aus dem Ozean, der den Rand der bewohnbaren Welt umgibt, kommen die mythischen Ungeheuer, die von den vertrauten Gestalten der Natur am weitesten entfernt sind und von der Welt als Kosmos nichts mehr zu wissen scheinen.“ (Blumenberg 1979, 9) Bei Wells ist das irdische Meer durch einen interstellaren Ozean ersetzt. 8 An einer Stelle hält der Erzähler eine Maschine zunächst für ein Lebenswesen, bevor er entdeckt, dass ein Außerirdischer darauf sitzt und sie steuert, von der Maschine aber kaum unterscheidbar ist (Wells 1993, 149). Diese Maschine wird mit einem krebsartigen Tier verglichen, wo der Außerirdische an der Stelle des Hirns sitzt – eine Anspielung auf die damalige Degenerationstheorie, wo der sogenannte Sackkrebs, der parasitär in anderen Krebsen lebt, seine Physiologie auf einen Sack reduziert, von dem aus ein Blutgefäßnetz ausgeht, das in den parasitierten Krebs eingewachsen ist. Vgl. Lankester 1880, 33f. 9 Dieser technischen Auseinandersetzung widmet Wells ein eigenes Kapitel im Roman, wo ein außerirdischer Tripod gegen ein britisches Kriegsschiff, die „Thunderbird“, kämpft. Vgl. Kap. 17 im 1. Buch. 10 In Bezug auf die Beschreibung der biologisch-technischen Organisationsform des extraterrestrischen Lebens in Wells’ Roman fühlt man sich an Donna Haraways Cyborg-Theorie erinnert. Allerdings lässt sich aus Wells’ Text kaum das kritische Potential gewinnen, das Haraway in der Profilierung und Aufwertung des Hybriditätsbegriffs und -konzepts herausarbeitet. Zu vage und spekulativ bleiben bei Wells die Bemerkungen zur extraterrestrischen Lebensform hinsichtlich ihres sozialen Lebens. 11 Choleratote in Großbritannien im 19. Jahrhundert: während der Epidemie von 1831/32 geschätzte 22 000 Tote, 1848/49 55 000 sowie 1853/54 weitere 20 000, 1866/67 dann „nur“ noch 14 000 Todesfälle. Vgl. Halliday 2011. 12 Schon im 18. Jahrhundert wurden Krankheitserreger gezielt als Biowaffen eingesetzt, gerade auch im Kolonialismus, um indigenen Völkern zu schaden. So setzten sowohl die Briten als auch die Franzosen Krankheitserreger gegen die Ureinwohner Nordamerikas ein. Vgl. Schäfer 2002, 20. 13 Als 1858 London der „Große Gestank“ heimsuchte – damals glaubte man noch, man könne sich durch giftige Ausdünstungen (Miasmen) anstecken –, beschloss das englische Parlament den Bau einer städtischen Kanalisation. Von 1859–65 wurden dann mehr als 700 Kilometer davon gebaut (Halliday 2011). Zu den recht ähnlichen französischen Verhältnissen in Paris Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Corbin 1988. 14 In diesem Sinne argumentieren auch Gebhard/Geisler/Schröter (2007, 11f.) in der Einleitung zu ihrem Heimatband. Jenseits aller wortgeschichtlichen Annäherungen an den Heimatbegriff macht gerade die Erfahrung des Verlusts einen wesentlichen Aspekt des Heimatverständnisses in der Moderne aus.