Warum sie nicht gegangen ist: Beitrag zu einer Wissensgeschichte der Gegenwart
Abstract: Dieser Beitrag konturiert anhand von ausgewählten Szenen aus Medien und Literatur der Gegenwart eine Wissensgeschichte von häuslicher Gewalt. Im Fokus stehen affektive und gesellschaftliche Rezeptionen von Macht und Intimität, die Diskurse um häusliche Gewalt prägen, sowie die literarischen Eingriffe, die diese in Frage stellen und zu unterwandern versuchen. Diese Interventionen verfolgt der Beitrag anhand einer Reihe von Beispielen aus neueren autobiografischen Arbeiten, darunter Carmen Machados In the Dream House (2019) und Natasha Trethewey Memorial Drive. A Daughter’s Memoir (2020), sowie Antje Joels Prügel (2020). Dabei geraten kulturelle Vorstellungen von Macht und Widerstand, Gewalt und Ermächtigung in den Blick, die sich auf affektiver Ebene ereignen, ebenso wie Formen des Widerstands, die so flüchtig sind, dass sie erst im Nachhinein als solche registriert werden. This article explores cultural narratives and imaginations on domestic abuse, and how they are contested in the present moment. With regard to popular discourse and recent memoirs, the aim is to analyze affective structures at play in cultural perceptions on abuse and the role of storytelling for shifting cultural perspectives of violence and intimacy, especially with regard to the cultural omnipresence of victim-blaming narratives. Drawing on the recent wave of autobiographical literature on intimate forms of abuse, such as Carmen Machado’s cross-genre memoir In the Dream House (2019) and Natasha Tretheway’s re-telling of her mother’s life and murder in Memorial Drive. A Daughter’s Memoir (2020), as well as on research in affect studies and feminist thought (Ahmed 2017), the article explores theories of dissent and defiance in the context of portrayals of abuse.
Keywords: Mediengeschichte, Popkultur, Affekttheorie, Wissensordnungen, Widerstands- und Gewaltforschung, Feministische Theorie
„I remember the last time you hit me. The last time anyone hit me”, sagt die Regisseurin Attiya Khan in ihrem Dokumentarfilm A Better Man (2017, 17:00-17:15’). Khan beschreibt dabei den Tag, als sie ihren damaligen Partner endgültig verließ. Es war nicht das erste Mal, dass sie völlig erschöpft von einer Spätschicht nach Hause kam; dass sie, nachdem er sie angegriffen hatte, es schaffte, sich von ihm loszureißen und auf die Straße zu rennen; oder, dass sie die Jalousien der Nachbarn herunterfahren sah und sich fragte, wie sie den nächsten Tag überstehen solle. „But then I realized I could do it. I’ve been doing it every day for the past two years” (17:15-17:30), erinnert sich Khan, während die Kamera lange Zeit auf ihrem Gesicht ruht. A Better Man dokumentiert die Begegnung zwischen Khan und ihrem Ex-Partner Jahrzehnte nach der Trennung. Der Film enthüllt dabei epistemologische Verstrickungen von Gewalt und Intimität, ebenso wie die Vielfalt an Formen der Verweigerung, der Sabotage undes Selbstschutzes, die sich jenseits der Gegenüberstellung zwischen Gehen und Bleiben, zwischen Viktimisierung und Widerstand abspielen.
Wie in vielen Darstellungen zu häuslicher Gewalt nimmt auch in A Better Man die Szene der Flucht – der letzten, wohlbemerkt – eine zentrale Rolle ein. Khan schildert sie jedoch weniger als einen Moment von tiefer Entschlossenheit – als singulären, heroischen Akt – und vielmehr als ein Inventar des Erlebten. Dadurch weist Khan die Frage, die sich durch die Motiv- und Mediengeschichte von häuslicher Gewalt zieht, in ihrer Prämisse zurück. Die Frage warum sie nicht gegangen ist, und die verschiedenen Formen, die sie annehmen kann: Warum hat sie sich das so lange gefallen lassen? Warum tut sie sich das selber an? In dieser Frage kulminieren Vorstellungen von Gewalt und Widerstand, von Zwang und Verweigerung, die sich unausgesprochen durch die kulturelle Rezeption der Thematik häusliche Gewalt ziehen.
A Better Man reiht sich ein in eine Welle von Filmen, Autobiografien, Romane und Serien, die in den letzten Jahren entstanden sind und auf unterschiedliche Weise die Emotions- und Wissensordnungen von intimer Gewalt hinterfragen. Darunter Michaela Coels Fernsehserie I may destroy you (HBO), der Kinofilm „Der Unsichtbare“ mit Elizabeth Moss in der Hauptrolle, die Netflix Serie Maid (2021), Natasha Tretheways Memorial Drive. A Daughter’s Memoir (2020), Maria Machados Buch In the Dreamhouse (2019), oder Antje Joels Autobiographie Prügel. Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt (2020).
So verschieden diese Werke in ihren Text- und Medienformen auch sind, so greifen sie alle ein in den Diskurs um Gewalt und Intimität und rücken Aspekte in den Fokus, die bisher wenig Beachtung fanden.
Der vorliegende Beitrag bietet eine explorative Skizze der zeitgenössischen Affekt- und Wissensgeschichte von häuslicher Gewalt. Zunächst geht es um (pop)kulturelle Repräsentationen von Partnerschaftsgewalt, anschließend um die Rolle der Flucht als spezifische Ästhetik des Widerstands, und schließlich stehen Formen des Protestes und der Verweigerung im Fokus, die sich auf affektiver Ebene, zum Beispiel, als momenthafte Auflehnung im Alltag, äußern. Dabei geht es nicht darum, kulturell evidente und historisch unsichtbare Formen von Gewalt und Verweigerung gegeneinander aufzuwiegen, sondern darum, Affekt- und Erzählräume der Ausweglosigkeit zu beleuchten.
1 Kulturelle Imaginationen von häuslicher Gewalt
Kulturelle Wahrnehmungen von Intimität und Gewalt sind nicht nur im Wandel begriffen, sie sind auch eng verwoben mit rechtlichen und sozialen Ordnungen der Intelligibilität. Diese äußern sich beispielsweise in Form von affektiven Investitionen in eine Version der Wirklichkeit, die einvernehmlich ist, in der sich gewaltvolle Übergriffe als Missverständnisse, als Krisen oder Konflikte herausstellen, oder in der die Opfer von Gewalt eine Mitschuld an ihrer Viktimisierung tragen. Diese Intelligibilitätsregimes treten zum Beispiel dann zutage, wenn ein Gericht eine Straftat als Totschlag, und nicht als Mord, mit der Begründung bewertet, dass „die Trennung dem Täter den Boden unter den Füßen weggezogen (habe)“ (Raether und Schlegel, 2019). Inwiefern die juristische Rezeption von Gewalterfahrungen in gesellschaftliche Muster des Denk- und Sagbaren eingelassen ist, macht beispielsweise die Rechtsanwältin Christina Clemm deutlich. Basierend auf realen Fällen schildert Clemm in ihrem Erzählband Akteneinsicht (2020) in abgewandelter und fiktionalisierter Form Schicksale, die ihr in ihrer Arbeit als Rechtsanwältin begegnet sind. Die Autorin macht dabei auf die Vorurteile aufmerksam, mit denen Frauen, die von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind, im Freundes- und Bekanntenkreis, auf der Polizeiwache, im Alltag, und ebenso vor Gericht konfrontiert werden. Wie Clemm notiert, gibt es „kaum einen anderen Deliktsbereich, in dem auf die eine oder andere Weise den Opfern direkt oder indirekt Mitschuld für die Tat zugeschrieben wird“ (35).
Dass die Auseinandersetzung mit Fällen von häuslicher Gewalt aus sicherer Entfernung zum Thema geführt wird, hängt auch mit historisierten Vorstellungen, Bildern und Narrativen aus Medien und Popkultur zusammen. Denn Schilderungen von häuslicher Gewalt klingen oftmals abstrakt und formelhaft, und sie sind zudem – in Zeitungsartikeln und – Überschriften zum Beispiel – oft skandalisiert. Das beeinflusst die kulturelle Aufmerksamkeit, die dem Thema zukommt. Carmen Machado notiert dazu in ihrer genre-übergreifenden Autobiografie In the Dream House (2019): “We think of clichés as boring and predictable, but they are actually one of the most dangerous things in the world. Your brain can‘t engage a cliché, not properly – it skitters right over the phrase or sentence or idea without a second thought” (Machado 2019, 269).
Diese kulturellen Wahrnehmungsmuster reflektiert die Autorin Antje Joel in ihrem autobiografischen Buch Prügel. Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt (2020). Joel schildert darin ihre Erfahrungen mit Partnerschaftsgewalt. „Seine Stirnader ist geschwollen. Seine Nasenflügel beben. (..) Seine Gesichtszüge, seine Hände, sein ganzer Körper fliegt vor Zorn und vor Anstrengung, nicht doch zuzuschlagen“ (Joel 2020, 20). Joel beschreibt wie schwierig es war, einen Verlag zu finden, der bereit war, ihre Geschichte zu veröffentlichen. „Für so ein Buch gibt es kein Publikum“ sagte man ihr (Joel 29). Als sie einen Artikel über ihre Erfahrungen für eine Zeitung schreibt, ist der Redakteur von ihrer Geschichte beeindruckt, und zugleich erleichtert darüber, dass ihm „so eine kaputte Welt völlig fremd ist“ (Joel 2020, 16). „Ich war die Kaputte. Aus einer kaputten Welt“ erinnert sich Joel. „Ein sozialer Freak, in dessen Freakwelt man einen interessierten Blick wirft, um sich dann mit wohligen Schauder abzuwenden und in sein eigenes, verdient heimeliges Leben zurückzukehren.“(Joel 2020, 16). Joels Prügel (2020) nimmt einen besonderen Status im deutschsprachigen Diskurs ein, weil das Buch persönliche Erfahrungen mit häuslicher Gewalt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ereignisse beschreibt. Joel macht dabei auf die gesellschaftlichen Gefühlsräume aufmerksam, die durch die kollektive Rezeption von Bilder und Narrativen zu häuslicher Gewalt entstehen.
Zu diesen kulturellen Rezeptionsformen zählt auch das, was die Filmwissenschaftlerin Diane Shoos als “Post-Awareness” beschreibt: die Annahme, dass – nachdem die Zahlen und Berichte allgemein bekannt sind – wir schon „alles wissen, was es zu wissen gibt“ wenn es um häusliche Gewalt geht (2017, 6). In ihrem Buch Domestic Violence in Hollywood Film (2017) schildert Shoos den Einfluss von Hollywood Filmen zum Thema häusliche Gewalt, die in den 1980ern und 90er Jahren entstanden sind. Darunter The Burning Bed (1984), Sleeping ith the Enemy (1991), What’s Love Got to Do with It? (1993) und Dolores (1995). Die dramatischen Handlungsstränge trugen zum öffentlichen Bewusstsein für das Thema bei, aber sie hielten auch die Illusion aufrecht, dass häusliche Gewalt etwas war, dass anderen Menschen passierte.
Sleeping with the Enemy (1991) und der Film Enough (2002) mit Jennifer Lopez, beispielsweise, stellen die Verwandlung ihrer Protagonistinnen ins Zentrum: von einem Opfer von Gewalt in eine Kämpferin, die ihren Peiniger heroisch besiegt. Diane Shoos notiert dazu: “Despite the fact that these narratives seem to sympathize with their protagonists and challenge myths about domestic violence, most offer all-too-comfortable positions from which we can ‘see’ what we already assume about men as abusers, women as victims, and the racial and class politics of violence” (Shoos 2017, 5). Diese narrativen Leerstellen haben nicht nur soziale und juristische Konsequenzen, sondern greifen in kulturelle Imaginationen einer Gesellschaft ein. Noch immer werden öffentliche Diskussionen zum Thema von der Frage dominiert, warum Opfer von Gewalt bei ihren (Ex)-Partnern und Partnerinnen „geblieben“ sind. Autobiografische und autofiktionale Medien können hierbei ebenso kulturelle Wahrnehmungen aufbrechen und verschieben, wie fiktionale Arbeiten – zum Beispiel, indem sie Topografien der Herabsetzung von ihren Wirklichkeitsbedingungen her betrachten.
Während die Wissensgeschichte von Gewalt und Intimität von unverfügbaren Erfahrungen durchzogen ist, sind manche Ereignisse derart bekannt, dass sie als paradigmatische Bilder im kulturellen Gedächtnis zurückbleiben. Dazu zählt auch die Verfilmung von Tina Turners Autobiografie I, Tina (1986) in What’s Love Got to Do with It (1993). Die Sängerin hatte damals die Entstehung des Films mit Angela Bassett in der Hauptrolle aktiv begleitet. Jahrzehnte später schildert sie in ihrem Dokumentarfilm Tina (HBO, 2020) jedoch, wie belastend die Pressetour und die Fragen der Journalist*innen gewesen sind. Immerzu wollte man von ihr wissen, wie die Ehe zu Ike Turner gewesen ist, warum sie trotz der Übergriffe so lange geblieben ist, und ob die Szene des Entkommens – im Film überquert Angela Basset den Las Vegas Highway und sucht mit nur 32 Cent in der Tasche Zuflucht in einem Hotel – in Wirklichkeit genauso abgelaufen ist.
2 Die Flucht im Kanon der Repräsentation von häuslicher Gewalt
If you want a happy ending, that depends, of course, on where you stop your story.
– Orson Welles (1987)
Bildet die Frage, warum sie nicht gegangen ist, einen immer wiederkehrenden Refrain des gesellschaftlichen Interesses am Thema häusliche Gewalt, so nimmt die Flucht als Ästhetik des Widerstands im Kanon der Filmgeschichte zu häuslicher Gewalt eine zentrale Rolle ein. Kaum ein Film, der sich dem Thema widmet, in dem nicht zunächst die Flucht, und später die held*innenhafte Konfrontation, einen emotionalen Höhepunkt der Erzählung darstellt. Die Flucht figuriert dabei als ein Akt der Behauptung. Aber wie sieht Fliehen noch aus? Und welche anderen Formen und Widerstandsakte lassen sich als politische lesen?
„Fliehen bedeutet, mit den eigenen Füßen zu denken“ schreibt Iris Därmann in ihrem Buch Widerstände. Gewaltenteilung in statu nascendi (2021, 51). Würde man das Politische von Widerstandspraktiken jedoch an ihrem Erfolg messen, so Därmann, „am effektiven Schaden, den er den Gewalthabern zufügt, am Sturz des Gewaltregimes, gegen das er sich richtet, machte man die zahllosen gescheiterten, im Sande verlaufenen und beinahe spurenlos gebliebenen Widerstandsakte terrorisierter, anteilsloser, ausgezehrter und erniedrigter Menschen einmal mehr unsichtbar“(53). Denn es gibt unzählige Formen des Widerstands, die, auch wenn sie nicht in historisch sichtbare Umstürze münden, dennoch geschehen. Wie könnte eine „’undisziplinierte’ Form der Widerstandsforschung“ aussehen, fragt Därmann und meint damit eine Widerstandsforschung, „die auf ein historisch-kulturell breites Spektrum von Praktiken, Passivierungen, Aisthetiken, Geschichten und Theorien abzielt“ (10). Auf diese Fragilität und Fantasie von Macht verweist auch Jacqueline Rose in ihrem Buch On Violence and on Violence against Women (2021). Darin verdeutlicht Rose, dass jene, die Gewalt ausüben – insbesondere Gewalt gegen Frauen – dies nicht aus Überzeugung in ihre eigene Überlegenheit heraustun, sondern aus der Konfrontation mit einer Realität, die ihnen die Grenzen ihrer Macht vorführt. „Violence, then, is man’s response to the fraudulence of his power and the limits of his knowledge“ (Rose 2021, 179).
Von der Vielzahl an Formen der Verweigerung und des Widerstands, die kaum sichtbar, erkennbar, oder erfolgreich sind, und dennoch immerzu stattfinden, berichtet die Journalistin Rachel Louise Snyder in ihrem Buch No Visible Bruises: What We Don’t Know About Domestic Violence Can Kill Us (2019, S. 53). Snyder setzt sich mit dem Thema häusliche Gewalt aus verschiedenen Perspektiven auseinander. Sie spricht mit Überlebenden, mit den Angehörigen von Opfern, mit Kriminolog*innen und Mitarbeiter*innen in Beratungsstellen. Sie hebt die besonders bedrohliche und ausweglose Situation hervor, in der sich Betroffene vorfinden können. Snyder betont dabei die alltäglichen Strategien des Überlebens und Formen des Selbstschutzes, ebenso wie die unmittelbare Gefahr, die für Außenstehende oftmals nicht als solche vernommen werden (S. 53).
3 Wie sie (nicht) gegangen ist. Erzählräume der Ausweglosigkeit in Carmen Machados In The Dream House (2019)
„Die meisten Formen von intimer Gewalt sind völlig legal“, schreibt die Autorin Carmen Maria Machado in ihrem Buch In the Dream House (2019, 129). Darin unternimmt sie eine persönliche und genre-übergreifende Auseinandersetzung mit emotionalen Formen von Gewalt. Das Buch ist eine Autobiografie und zugleich ein literarisches Experiment, in dem Machado den psychischen und emotionalen Missbrauch durch ihre Ex-Partnerin rekonstruiert. Die Geschichte, die Machado erzählt, entzieht sich einer linearen Erzählung, und besteht stattdessen aus Fragmenten, Querverweisen und Sackgassen. Die Lektüre spiegelt auf diese Weise den Inhalt, von dem das Buch handelt: das Gefühl von Ausweglosigkeit und Gefangenheit in einer Beziehung, die von schleichenden Formen der Herabsetzung geprägt ist. Das Buch variiert dabei das Motiv eines Hauses – eine Architektur aus Erinnerungen und Theoriefragmenten. Machado erschafft einen Erzählraum, in dem sie Erfahrungen reflektiert, die in der vertrauten und oftmals heteronormativen Matrix, welcher Diskurse um Intimität und Missbrauch unterworfen sind, kaum Platz haben.
Das Wort „Archiv“, so Jacques Derrida, leitet sich aus dem griechischen Wort arkheion ab, es heißt so viel wie „das Haus des Herrschers“. Als Sinnbild des Privaten ist das eigene Zuhause ein Bereich undokumentierter Erinnerungen und Erfahrungen fernab öffentlicher Wahrnehmungen und Wissensordnungen. Als Machado, während sie sich mit der fehlenden Historiografie von Partnerschaftsgewalt in queeren Beziehungen befasst, das erste Mal auf diese Bedeutung des Wortes „Haus“ stößt, ist sie wie gebannt. Sie fragt sich: „When the historian of queer experience attempts to document a queer past, there is often a gatekeeper. Representing a straight present“ (Machado 2019, 3). Wie erzählt man eine unmögliche Geschichte, fragt Machado – und rezipiert dabei die Frage, die die amerikanische Kulturhistorikerin und Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman in einem Aufsatz über die unverfügbaren Erfahrungen der weiblichen Opfer des transatlantischeSklavenhandels stellt (Hartman 2008). Ausgehend von den Leerstellen der Geschichte – den Wirklichkeiten, von denen niemand Notiz genommen hat – exponiert Hartman die Grenzen historiografischer Forschung. Sie zeigt auf, inwiefern eine Wissensgeschichte, die nur das in Betracht zieht, was nachweisbar ist, immer eine Geschichte der Gewalt ist, weil sie die Grenzen des Denkbaren einhält, die das Archiv vorgibt.
Auf ihre eigene Weise versucht Machado eineunmögliche Geschichte von Gewalt und Intimität vor dem Hintergrund der Unsichtbarmachung von queeren gewaltvollen Beziehungen zu erzählen. Sie setzt dabei immer wieder neu an, kehrt zurück an Räume, Orte und Personen aus Literatur und Popkultur, und sucht nach Verbindungslinien und Geheimgängen, die zu ihrer eigenen Geschichte führen. Und sie beschreibt Formen der Intimität, die durch die Gewalt erzeugt, verzerrt und in Geiselhaft gehalten werden, zum Beispiel dann, wenn ihre Partnerin sie fragt, wer von dem, was zwischen ihnen geschieht, weiß. Das Gefühl der Gefangenschaft und der Verlorenheit zu beschreiben, gleicht dabei einer unmöglichen Übersetzungsarbeit. “Folks know. Folks can pick up on words of rock. Folks will know you for your wounds, your missing skin. Folks say nothing but Why didn’t you go / Why didn’t you run / Why didn’t you say? (Also: Why did you stay?) I try to say, but I fail and fail and fail.” (173). Als Machado über den Begriff der Dislokation in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt stößt, stellt sie fest, dass der Rückzug aus der sozialen Welt, den sie erlebt hat, tatsächlich einem Wechsel des Wohnraums entspricht: „That is to say, the victim has just moved somewhere new, or she’s somewhere where she doesn’t speak the language, or has been otherwise uprooted from her support network, her friends or family, her ability to communicate”(81)
In The Dream House vermittelt das Gefühl vonGefangenschaft in einem Kapitel besonders effektiv. In „Choose your own adventure“ stellt sich die Autorin verschiedene mögliche Entscheidungen vor, die sie hätte treffen können. Der Abschnitt beginnt mit einer Szene, die zunächst Ruhe und Zwanglosigkeit ausstrahlt. Sie liegt neben ihrer Partnerin und erwacht aus einem Traum.
You wake up, and the air is milky and bright. (...) When you turn over, she is staring at you. The luminous innocence of the light curdles in your stomach. You don’t remember ever going from awake to afraid so quickly. ‚You were moving all night’ she says. (...) If you apologize profusely, go to age 190. If you tell her to wake you up next time your elbows touch her in your sleep, go to page 191. If you tell her to calm down, go to page 193 (Machado 2019, 189).
Machado strukturiert den Abschnitt auf eine Weise, die ein „Entkommen“ oder „Distanzieren“ der Lesenden zum Text kaum möglich macht. Das durchgängig in der zweiten Person verfasste Kapitel hält Leser*innen sinngemäß gefangen in den Sackgassen der Geschichte. Dabei sind die Szenen, die Machado beschreibt, so alltäglich, wie beklemmend: „As you’re washing the dishes, you think to yourself: Maybe I could tie my arm down somehow? Maybe put a tack on my forehead? Maybe I should be a better person? Go to Page 198.” (Machado 2019, 196). Wollen Leser*innen sich der Zirkularität des Kapitels und den Gesetzmäßigkeiten der Lektüre widersetzen, lesen sie: „You shoulnd’t be on this page. There’s no way to get here from the choices given to you. Did you think that by flipping through this chapter linearly you’d find some kind of relief? (…) Go to page 198.” (Machado 2019, 197). In diesen Textpassagen macht Machado deutlich, wie selbstverständlich kulturelle Narrative von Selbstbestimmung und Souveränität den Zugang zum Thema häusliche Gewalt prägen. In The Dream House ist aber auch eine Abhandlung über das Erzählen selber und das Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit. Der Autobiografie spricht Machado hierbei eine besondere Rolle zu: „The memoir is, at its core, an act of resurrection. Memoirists recreate the past, reconstruct dialogue. They summon meaning from events that have long been dormant.“ (2019, 4).
4 Natasha Tretheweys Memorial Drive (2020): Widerständige Intimitäten
Eine andere Autobiografie, die ausgehend von Intimität und Gewalt ein Bild der kulturellen Gegenwart zeichnet, ist Natasha Tretheweys Memoral Drive. A Daughter’s Memoir (2020). Darin schildert die Schriftstellerin und US Poet Laureate Preisträgerin Natasha Trethewey das Leben und den Mord an ihre Mutter. Als Trethewey 19 Jahre alt ist, bricht ihr ehemaliger Stiefvater in dWohnung ihrer Mutter ein und ermordet sie. Zwei Jahre zuvor hatte sie sich von ihm getrennt. Mit poetischer Genauigkeit verwebt Trethewey persönliche Erinnerungen mit dem kulturellen Kontext, in dem die Gewalt stattfand. Sie holt dabei soziale Erwartungen, Formen von strukturellen Rassismus, die sie und ihre Mutter erfahren haben, sowie Szenen des Widerstands aus dem erzählerischen Vakuum heraus, in dem sie jahrzehntelang existiert haben. Memorial Drive erzählt dabei nicht nur eine Geschichte von Gewalt. Das Buch handelt auch von den Facetten, die um den Begriff domestic abuse herum existieren.
An einer Stelle erinnert sich Trethewey da-ran, wie ihre Mutter ihr zum zwölften Geburtstag ein Tagebuch schenkt. Wenig später bemerkt sie das zerbrochene Schloss an ihrem Tagebuch. „Who said you could go to Washington?“ fragt ihr Stiefvater, und sie weiß, dass er es gelesen hat. Sie denkt an die Laute aus dem Schafzimmer, die sie vor einigen Wochen gehört hat, an den Klang seiner Faust, an die Angst in der Stimme ihrer Mutter. Sie ist wütend, doch sie sagt nichts. Als sie das nächste Mal in ihr Tagebuch schreibt, beginnt sie ihren Eintrag nicht, wie sonst, mit „dear Diary“. Ihre Worte sind nicht länger an ein imaginäres Selbst gerichtet. Stattdessen ist jede neue Notiz, die sie verfasst, ein Inventar von Anklageschriften. „Not only had I stopped expecting that my words could be private, but also I had begun to rethink of them as a near-public act of communication” (2020, 109). Sie ist sich sicher, dass er kein Wort darüber verlieren würde. “In my first act of resistance, I had inadvertently made him my first audience (…) From then on, when he looked at me, I’d return his gaze, the afterimage of my words in the space between us” (Trethewey, 109).
Trethewey blickt an vielen Stellen zurück auf Momente der Einschüchterung durch ihren Stiefvater während ihren Heranwachsens. „Often I wonder whether the course of our lives would have been different had I told my mother, early on, the things she could not have known: The ways Joel had begun to torment me when she was not at home“, fragt sich Natasha Tretheway (2020, 104).
Trethewey schildert aber auch eine Reihe von Szenen der Verweigerung, so alltäglich und subjektiv, dass es leicht wäre, diese Momente als das, was sie waren, zu übersehen. An einer Stelle erinnert sie sich daran, wie sie eines Tages von der Schule nachhause kam und Joel, ihr Bruder und ihre Mutter am Küchentisch saßen. Normalerweise hätte sie gewartet, bis Joel den Raum verlässt, um ihrer Mutter von den guten Nachrichten zu erzählen. Doch an diesem Tag waren die Neuigkeiten zu aufregend. Sie erzählt, dass eine ihrer Kurzgeschichten in der schulischen Literaturzeitschrift veröffentlicht wird. Und dass sie entschieden hat, Schriftstellerin zu werden. Sie sieht die Freude im Gesicht ihrer Mutter, bevor Joel aufsteht und sagt:
„You not gonna do any of that,“. He doesn’t even look up from his plate when he says it. My mother is seated to my right and I see her out of the orner of my eye, a deep furrow between her brows, her jaw clenched so tight she seems to speak with her mouth closed. „She. Will do. WHATEVER. he wants.“ (112, Hervorhebung im Original).
Natasha Trethewey erinnert sich an diesen Moment auch Jahrzehnte später noch genau. Ihre Mutter hatte ihre Leidenschaft für Geschichten und Gedichte schon lange insgeheim gefördert. In diesem Moment traut sie sich jedoch nicht, ihre Mutter anzusehen, denn sie will seinen Zorn nicht weiter schüren. „This moment is different, and I know the cost. She’s going to be beaten tonight for that, I think, the tone – even inside my head – resigned, matter-of-fact“ (112). Den Rest des Abends essen sie schweigend, Joel in Wut, ihre Mutter in leiser Trotzhaltung. Sie sieht ihre Mutter an stellt sich den Preis vor, den ihre Mutter dafür bezahlen wird, dass sie sie geschützt hat. In ihrem Buch denkt Trethewey aber auch an die Wirkung, die die Worte ihrer Mutter bis heute hinterlassen haben: „I’ve replayed this scene in my head countless times: She. Will do. WHATEVER. She wants. Even now I hear in my mother’s voice, her measured restraint, the origins of my own“ (113, Hervorhebungen im Original).
Diese gefühlte Rebellion lässt sich als Form des Widerstands verstehen, auch wenn sie nur affektiv registriert, oder erst Jahre später als widerständige Akte bezeugt und gelesen wird. In Living a Feminist Life (2019) beschreibt Sara Ahmed die Komplexität und Vielschichtigkeiten von Protest und Widerstand, auch wenn diese nicht immer explizit als solche verbalisiert sind. Ahmed spricht von “loud acts of refusal and rebellion as well as the quiet ways we might have of not holding on to things that diminish us“ (Ahmed 2019, 1). Widerstandsakte können, so betrachtet, in Form von gefühlten Reaktionen auf Ungerechtigkeiten verstanden werden – am eigenen Körper, sei es in dem Augenblick wo sie geschehen, oder erst im Nachhinein.
Während Machados Autobiografie bewusstfragmentarisch verfasst ist – die Ereignisse werden durch Lücken, Sprünge und in Form von fragmentarischen Episoden zusammengehalten – ist es in Tretheweys Memorial Drive die groß angelegte Erzählung, zurückschauend, noch einmal von vorne beginnend, die eine verdichtete Rekonstruktion der Ereignisse, die ein andere Erzählung von Gewalt und Intimität hervorbringt; eine, in der das Private als Schutzraum für Gewalt entlarvt wird, zugleich aber auch von Formen der Intimität, der Nähe, und des Einverständnisses erzählt, die jenseits, unterhalb oder inmitten der Gewalt entstehen und verteidigt werden. Die durch diese Schilderungen geschaffenen Artikulationsräume zeichnen sich dadurch aus, dass sie individuelle Ereignisse innerhalb gesellschaftlicher Diskurse kontextualisieren und private Gewalterfahrungen als Formen von struktureller Gewalt sichtbar machen.
Machado und Trethewey führen auf spezifische Weise die gelebten Bedingungen von Intimität und Nähe vor. Sie zeigen dabei die Schatten und Grenzen von tradierten Erzählungen über den Verlust und die Wiedererlangung von Freiheit auf. In dieser Hinsicht problematisieren sie das, was Lauren Berlant in On the Inconvenience of Other People als die Sehnsucht nach Macht und Souveränität westlicher Zivilisationen beschreibt: “the sense that no one was ever sovereign, just mostly operating according to some imaginable, often distorted image of their power over things, actions, people, and causality.“ (Berlant, 2022). Es ist zugleich eine Zurückweisung an die Erwartung, dass die Lektüre in eine tiefe Einsicht mündet, die Trost oder Hoffnung spenden würde.
Anstelle dessen treten Formen von Nähe und Intimität – Allianzen, Vertraulichkeiten, Verbindungslinien – zutage, die inmitten oder jenseits der Gewalt entstehen, oder mit denen ihr entgegnet wird. So wie die Verbundenheit zwischen der zwölfjährigen Trethewey und ihrer Mutter in Memorial Drive, oder die Intimität, die Machados In The Dreamhouse zu den Leser*innen herstellt. In beiden Fällen setzt das autobiografische Erzählenjemand anderen voraus – “the necessary other”, wie Elena Ferrante in ihrem Buch In the Margins schreibt. (In the Margins, 61). Darin reflektiert Ferrante die Entstehungsgeschichten ihrer Romane, und die prägenden Einflüsse auf ihren Erzählstil.
Dazu zählt die Autobiographie von Alice B. Toklas, in dem Gertrude Stein aus Sicht ihrer langjährigen Gefährtin Alice Toklas ihr eigenes Leben schildert. Nach der Lektüre ist Ferrante davon überzeugt, dass der einzige Weg, um eine Autobiografie zu verfassen, der ist, die Autobiografie von jemand anderen zu schreiben (Ferrante 2022, 60). Von dieser Idee einer „notwendigen Anderen“ inspiriert, entwickelt Ferrante die fiktiven Stimmen von Lenu und Lila – die zwei Frauen im Zentrum von Ferrantes Neapolitanischer Saga, die sich ihr Leben erzählen, eine das der anderen. „Put simply, I tell you my story in order to make you tell it to me.”, notiert Ferrante (2022, 57).
5 Häusliche Gewalt: Die Life Story
Die verschiedenen Beispiele, die in diesem Beitrag präsentiert wurden, lassen sich, so unterschiedlich sie in der Form sind, als kulturelle und künstlerische Eingriffe in die Wissensordnung von Gewalt und Intimität verstehen. Szenen des Alltags, die Machado und Thretheway beispielsweise anführen, geben Formen der Rebellion preis, die als Widerstandsakte verstanden werden können, auch wenn sie momenthaft oder provisorisch sind, erfolglos bleiben oder zu nichts führen; sie erweitern die kulturelle Wissensgeschichte von häuslicher Gewalt um Formen und Ästhetiken des Widerstands, die auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar sind. Das geht mit Verschiebungen in kulturellen Narrativen einher: von der Faszination mit den Beweggründen hinter Straftaten, hinzu der Historisierung von Affekten, Erfahrungen und Ereignissen, die un-theoretisiert sind, weil man sie vielleicht für unwichtig, nebensächlich, oder schlicht undenkbar hielt.
In The Carrier Bag Theory of Fiction (1987)fragt sich die Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin ob die zentralen Erfindungen der Mensch -heit in Wirklichkeit keine Jagd- und Kampfwaffen waren, sondern einfache Behälter – Carrier Bags – , mit denen sich nützliche Dinge, wie Nahrung, sammeln ließ. Le Guin stellt damit eine alternative Perspektive auf die Menschheitsgeschichte vor. Anders als die vertrauten Heldengeschichten,die heroische Taten in den Mittelpunkt stellen, stellt Le Guin die Perspektive einer Sammlerin in den Mittelpunkt menschlicher Historiografien: „It is the story that makes the difference. It is the story that hid my humanity from me, the story mammoth hunters told about bashing, thrusting, raping, killing, about the Hero. (…) The killer story.“ (33). Im Modus des Erzählerischen, des Fragmentarischen und Anekdotischen weisen die hier vorgestellten literarischen Aufarbeitungen von erlebter Gewalt falsche Dichotomien zurück und zeigen Facetten des gelebten Alltags auf. Sie rücken damit den Fokus von der Faszination mit dem Bezwingen, des Heroischen, hin zu den Zwischenräumen der Geschichte, zum Leben inmitten und trotz der Gewalt – der Life Story.