Sonja Witte (2018): Symptome der Kulturindustrie. Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material. Bielefeld: transcript, 414 S., ISBN 978-3-8376-3877-6, 44,99 €. Eine Rezension von Sebastian Winter

Sonja Witte, wissenschaftliche Mitarbeiterin der International Psychoanalytic University Berlin, sucht in diesem Buch auf außergewöhnliche und beim Lesen zunehmend faszinierende Weise nach den unbewussten Gehalten, die einerseits in den Widersprüchen und Dynamiken (massen-)kultureller Produkte und andererseits auch in dem kulturwissenschaftlichen Nachdenken über diese Produkte aufscheinen. Es beruht auf Wittes Dissertation und ist disziplinär angesiedelt zwischen der psychoanalytischen und der gesellschaftstheoretischen Kulturforschung in der Tradition der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos. Ziel des Buches ist es zu zeigen, wie transzendierende Momente als unbewusste, die Dualismen überschreitende Bewegungen an ganz unerwarteten Stellen auch inmitten der konformistischen ‚Kulturindustrie’ auftauchen.

Wittes Werk ist ein sperriger, herausfordernder Text, der es seinen Leser*innen nicht leicht macht. Seinen Thesen nähert er sich mäandrierend und über zunächst vage bleibende Hinweise auf das, worum es in diesem Buch ‚eigentlich’ geht. Kryptische Andeutungen werden nur langsam beim Lesen entschlüsselbarer. Der*die unwissende Leser*in schüttelt anfangs immer wieder den Kopf: Was will der Text ihm*ihr sagen?

Er ist wie ein Mosaik aus sehr genauen, detailreichen Rekonstruktionen von film- und kunsttheoretischen Debatten, ideologie- und kulturindustriekritischen Exkursen, der Metaebene der Argumentationsmusteranalyse und ordnenden Zusammenfassungen aufgebaut. Dabei wechselt der Stil zwischen penibler Gründlichkeit mit vielen Zitaten, Belegstellen und einer teilweise überwältigenden Materialmenge zu auf den ersten Blick verwirrenden Assoziationssprüngen, die thematisch zu etwas ganz Anderem und doch immer Ähnlichem führen. Nach und nach begreift der*die Leser*in: Es besteht eine Homologie von Stil und Inhalt. Die Botschaften des Textes und die des untersuchten Materials sind gleichermaßen rätselhaft und drängen nach Deutung. Er geht um Unbewusstes.

Den konkreten inhaltlichen Ankerpunkt bilden filmtheoretische Debatten der 1950er- bis 1970er-Jahre in Frankreich sowie dazu frei assoziierend einzelne Filme sowie Werke der bildenden Kunst und der Literatur als „ästhetisches Material”. Bei dieser Zusammenschau folgt Witte durchgängig zwei Spuren. Sie nennt sie das „Spiel” und die mit ihm verbundene Erzählfigur des „Mehr als nur, aber nicht Zuviel” sowie das „Unheimliche” und die Figur des „Quasi”.

Die erste von Witte behandelte Debatte ist diejenige um die „Filmologie”: Ist das Kinoerlebnis ein folgenloses Spiel, ein symbolisches „Als Ob”, klar geschieden von der Realität? Oder verwischen hier die Unterschiede, und der Realitätseindruck des Kinos kann eine politische Aktivierung der Zuschauer*innen bewirken? Oder formt er dadurch das Publikum zu einer distanzlos-manipulierbaren Masse? Witte folgt den Bewegungen im Zwischen der dualistisch angeordneten Positionen. Die sich selbst mäßigende Erzählfigur „mehr als nur [ein Spiel], aber nicht zu viel [Realitätseindruck]”, die Witte in filmtheoretischen Texten des Psychoanalytikers Cesare Musatti findet, zeugt sowohl von Lust als auch von Unbehagen an den Grenzziehungen und -überschreitungen. Dieselbe Problemstellung wie in der Filmologie-Debatte zeigt Witte auch in Aldous Huxley Dystopie der totalen Integration in der Brave New World und in der Kunst Santiago Sierras, der mit seiner Konzeptkunst auf scheinbar zynische Art den angeblichen Charakter von Kunst als Spiel destruiert. Doch moralgesättigte Anklagen des Spiels (‚Das ist nicht nur ein Spiel, das ist die Realität!’) gewähren ebenso wie das verantwortungsbefreite Spielen „einen Lustgewinn aus der ‚Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit’” (Freud, zit. S. 191). Das Nichtspiel entpuppt sich selbst als (unbewusstes) Spiel. Witte arbeitet als hier verhandelten Konflikt eine grundlegende Ambivalenz von spielerischer Lust und dem Ernst des Lebens im Kapitalismus heraus: Anknüpfend an Adornos Freizeit-Aufsatz beschreibt sie das Spiel als Abgrenzung und Fortsetzung des Ernstes und umgekehrt. Unbewusst bleiben in diesem Dualismus die „Möglichkeiten glücklicher Übergänge zwischen spielerischen und nicht-spielerischen Bereichen” (S. 353):

„Ist in Mussatis Konzepten das Fundament des Lustgewinns das Festhalten an der Grenze und zwar letztlich auch der zwischen Arbeit und Freizeit, so inszeniert Sierra eine Überschreitung, welche in nur einer von zwei möglichen Richtungen die Grenze überquert: Spiel ist hier Arbeit, nicht umgekehrt Arbeit auch Spiel.” (S. 195).

In der dialektischen Beweglichkeit, dem Ineinanderumschlagen wider Willen scheint davon etwas auf.

Die zweite von Witte analysierte Debatte ist die „Apparatusdebatte”, die sich um die Frage drehte, ob zwischen Film und Publikum eine bruchlose Einheit oder aber – in aktuellen Begriffen – eine Relation von Aneignung und Agency bestehe. An dieser Debatte, insbesondere den psychoanalytisch-filmtheoretischen Beiträgen Jean-Louis Baudrys, arbeitet Witte das Motiv des „Quasi” heraus. Das Wörtchen „Quasi” schränkt bei Baudry die zuvor herausgestellte Geschlossenheit immer wieder ein. Der Apparat ist nur quasi bruchlos.

Unter anderem anhand von Arbeiten der Gruppe Die tödliche Doris, die weggeworfene Serien von Automatenphotos zu abgehackten und tonlosen Filmen montierte, und der merkwürdigen Wiederkehr dieses Motivs in dem zuckersüßen Film Die fabelhafte Welt der Amelie, in dem die Bilder nachts anfangen zu sprechen, illustriert Witte dann das Wesen des Unheimlichen von „Quasidingen” (S. 325), wie den quasi lebendigen Phantomen der Automatenphotos, aber auch der Filmbilder selbst, die mit dem Aufkommen des Tonfilms zu sprechen beginnen – weder lebend noch tot, weder real noch Einbildung und doch beides zugleich. Die Geister des Kinos, die sich der Realität bemächtigen, überschreiten die Grenze von Spiel und Realität. Unheimliches tritt in Erscheinung, wenn die Grenzziehungen (wie die zwischen Spiel und Nichtspiel) erodieren und der „intermediäre Raum zwischen Sowohl-als-Auch und Weder-Noch” (Lilli Gast, zit. S. 302) in einer Welt des binären Entweder-Oder aufscheint. Das „Quasi” deutet auf das Nichtsymbolisierbare, namenlose Angst und Faszination Ausübende, das Begehren und den Ekel Antreibende, das Rätselhafte.

Witte betrachtet auch die psychoanalytischen (Film-)Theorien von Mussati und Baudry selbst psychoanalytisch, nämlich als Symptome hinsichtlich ihrer unbewussten Gehalte. Dies macht sie nicht tiefenhermeneutisch (vgl. zu der von Alfred Lorenzer begründeten tiefenhermeneutischen Kulturanalyse König et al. 2019), wie etwa Christa Rohde-Dachser, die Geschlechterentwürfe in Sigmunds Freuds Theorien analysiert hat (1991), sondern indem sie grundlegende dialektische Bewegungen (innerhalb nicht dialektischer Theorien) und das in deren Rissen und Umschlagsdynamiken Aufscheinende aufspürt. Sie findet dabei dieselben Motive wie auch in den Kunstwerken selbst: Zwei Gegenpositionen, die unbeabsichtigt ineinander umschlagen, sich in ihrem Gegensatz unterschwellig seltsam anähneln. Darin liegt Unheimliches und Subversives.

Mit dieser Perspektive grenzt Witte sich ab von Ansätzen, wie der kulturpessimistischen Lesart des ‚Kulturindustrie’-Konzepts, die das Subversive ‚jenseits’ der Kulturindustrie suchen, etwa in ‚authentischer Kunst’. Dies ließe sich auch – was Wittes Verzicht auf die tiefenhermeneutische Analyse untermauert – an Lorenzers Annahme eines authentischen leiblichen Wesens der Interaktionsformen und deren teilweise gelungener (wie in der traditionellen katholischen Liturgie), teilweise auch bis zur Unkenntlichkeit verzerrter (wie in der amerikanischen Kulturindustrie) Erscheinung in den symbolischen Formen kritisieren (vgl. Lorenzer 1981). Es bleibt kein Rest übrig, sondern dieser wird stets neu produziert. Er „entspringt” (S. 345) den Übersetzungsprozessen selbst, die ihre binären Spannungen an das unheimliche Material anlegen. Wittes Ziel ist nicht nur die Erforschung des Unbewussten der Kulturindustrie, sondern auch dessen Lokalisierung: nicht in einem Jenseits, in dunkler Tiefe, sondern mittendrin, auf der Oberfläche. Das „Nicht-Integrierbare” der Kulturindustrie ist „deren Antriebsmoment und zugleich deren Widerpart” (S. 354). Es ist letztlich der nicht dualistisch zu befriedende Widerspruch zwischen Integration und Nichtintegration selbst. Die pointierteste Formulierung dieser These hat Witte in einer Fußnote versteckt:

„Ist von einer bruchlosen Ordnung auszugehen oder sind in der gegenwärtigen Kultur Brüche aufzuweisen, die ein subversives Potential haben […]? Diese Frage verpasst m. E. einen wesentlichen Clou: Dass der ver-meintliche Gegensatz von bruchloser Geschlossenheit und widerständigem Aufbruch selbst ein wesentliches Prinzip der unbewussten Verwicklung und Anhänglichkeit der Subjekte an die Kulturwaren ist, welches in dieser Auslegung in symptomatischer Weise wiederkehrt.” (S. 204)

Wittes Buch ist ein ebenso verwirrendes wie die Verwirrung aufdröselndes dialektisches Werk.

Die Anregungen, die Wittes Rekonstruktionen und Deutungen der älteren filmtheoretischen Debatten geben, auch auf ganz aktuelle Phänomene zu beziehen, bleibt Aufgabe der Leser*innen. Das große Potenzial, das sich hier ergibt, soll abschließend kurz an zwei Themenfeldern angedeutet werden:

Die Ideologie des „work while you work, play while you play” (Adorno, zit. S. 193) ist mittlerweile abgelöst worden durch die des Work Hard, Play Hard (Carmen Losmann, D, 2011) und Büros, die aussehen wie Kinderzimmer. Die Verheißung, die Arbeit zum Spiel zu machen, geht einher mit einer Tendenz zur Vermenschlichung der Maschinen. Passend hierzu im Bereich der Kulturindustrie ist das Aufkommen von Computern und Robotern produzierter Kunst.

Zum zweiten vermag Wittes Perspektive auch ein neues Licht auf die teilweise irritierenden Formen der aktuellen „show” (Adorno 1946, S. 402) rechtsextremer und völkischer Identitätsverheißungen zu werfen. Ein Spiel, das mal scheinironisch (‚Das ist doch alles nicht so ernst gemeint. Sei mal locker!’), mal pathetisch-geschwollen daherkommt und absolute Echtheit für sich beansprucht. Sonja Wittes Betrachtungsweise kann einen Schlüssel bieten, um die rechte Feindschaft gegen ‚Hollywood’, aber auch die Bezugnahmen etwa der Identitären Bewegung auf die Comicverfilmung 300 besser zu verstehen. Ihre Überlegungen sind angesichts des zunehmenden Einflusses rechter Kulturpolitiken und Ideologien mit ihrem weithin Anklang findenden Authentizitäts- und Identitätsfetisch sowie ihren kulturpessimistischen Heilsversprechen nicht zuletzt auch politisch von großer Relevanz und Dringlichkeit.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1946): Anti-Semitism and Fascist Propaganda. GS 8, S. 397–407.
König, Julia/Burgermeister, Nicole/Brunner, Markus/Berg, Philipp/König, Hans-Dieter (Hrsg.) (2019): Dichte Interpretation. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Forschung. Wiesbaden: VS
Lorenzer, Alfred (1981): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt a. M.: Fischer 1984.
Rohde-Dachser, Christa (1991): Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Gießen 2003: Psychosozial.