Solvejg Nitzke & Lars Koch: Prekäre Heimat. Programmatik und Scheitern eines Entstörungsversuchs
Abstract: ‚Heimat‘ hat nicht nur Konjunktur, sondern erlebt geradezu eine Renaissance. Bemerkenswert ist an ihr jedoch nicht allein die Vielzahl und Lautstärke der Forderungen nach „Umdeutung“ oder „Neuausrichtung“ des Konzepts, sondern auch der Gestus der Aufklärung und Rehabilitation, der das programmatisch Nicht-Neue des Ausdrucks zur Kernforderung einer konservativen Rekalibrierung nicht nur gesellschaftlicher, sondern auch gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Verhältnisse macht. Die damit versuchte Reartikulation von ‚Heimat‘ besteht in der Bekräftigung und Akzeptanz ‚natürlicher‘ Zugehörigkeit, mag sie lokal, regional oder global skaliert sein. Angesichts eines weltweit geführten Diskurses über Prekaritätserfahrungen und Zukunftsunsicherheit mag die Rückbesinnung auf einbettende Naturalisierungsstrategien dieser Art nicht überraschen, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive aber muss sie beunruhigen. Es handelt sich nämlich nicht um die harmlose Rückbesinnung auf Tradition(en), sondern legt einen Naturalisierungswillen offen, dessen normative Macht nicht unterschätzt werden darf. ‚Heimat‘ mit den Mitteln und Methoden der Kulturwissenschaften zu beobachten und in seinen normativen Implikationen zu beschreiben ist im gegenwärtigen politischen Klima unbedingt geboten. Allerdings kann diese Auseinandersetzung nur dann Wirkung zeigen, wenn sie ihre Bedingungen und Strategien offenlegt. Das Sonderheft „Prekäre Heimat“ versammelt Störfälle ‚natürlicher‘ Zugehörigkeit und fragt nach den Verfahren, den Orten, den Diskursen und Akteuren dieser Produktion von Naturverhältnis und Wirklichkeit. Im einleitenden Beitrag diskutieren Solvejg Nitzke und Lars Koch die Programmatik und das Scheitern von „Heimat“ als Entstörungsversuch und eröffnen so eine Sammlung von Untersuchungen von ‚prekärer Heimat‘, die von Dinosauriern und Urmenschen bis zu Außerirdischen, von Deutschland und Österreich über Frankreich, Ghana, Zimbabwe, Senegal, die Vereinigten Staaten bis zum Blick auf den Planeten Erde reicht.
‘Heimat’ is booming to a degree that can rightly be called a renaissance. Noticeable is not only the variety of claims to “readjust” and “reframe” the concept, but its role within a conservative attempt to recalibrate societal conditions as well as the circumstances of the humanities and cultural studies. The ‘not-newness’ of the expression, thus, forms the core of an attitude of enlightenment and rehabilitation which attempts to rearticulate ‘Heimat’ in order to affirm a sense of ‘natural’ belonging, whether on a local, regional or global scale. In view of a global debate about experiences of precarity and insecurity towards the future, the return to strategies of naturalization and embeddedness may not be all too surprising, but from a cultural studies perspective it is no less unsettling. It is by no means a harmless reactivation of tradition(s), but unveils a will to naturalization whose normative force must not be underestimated. The current political climate calls for the cultural studies to observe and describe ‘Heimat’ using methods and media to analyze and account for its normative implications. However, this examination can only show the desired effects if it makes transparent its own conditions and strategies. This special issue on “precarious Heimat” assembles disruptions of ‘natural’ belonging and inquires after the techniques, the places, the discourses and actors of this particular way of producing human-nature-relationships and reality. In their opening essay, Solvejg Nitzke and Lars Koch discuss the objectives and failures of ‘Heimat’ as a device of renormalization and disruption management, thus opening the floor for a collection of ‘Heimat’-analyses, which spans dinosaurs, primordial humans and extraterrestrial beings; covers Germany, Austria, France, Ghana, Zimbabwe, Senegal and the United States of America and even a view of the whole Earth.
Keywords: Heimat, Störung, Natur, Naturalisierung, Kulturkritik, Kulturwissenschaft, Herkunft