Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus/Etzemüller, Thomas (Hg.) (2019): Gegenwartsdiagnosen. Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. Bielefeld: transcript, 626 S., ISBN 978-3-8376-4134-9, 34,99 €. Eine Rezension von Heinz-Elmar Tenorth.

Dieses Buch ist ein herausforderndes Werk – schon wegen der mehr als 600 Seiten und der sehr disparaten 30 Beiträge. Es ist aber auch herausfordernd, weil zwar angekündigt wird, primär „Versuchsanordnungen des Programms“, aber nicht „weitere Gegenwartsdiagnosen zu präsentieren“, obwohl es sie dann doch in großer Fülle gibt. Der Band analysiert auch nicht, wie versprochen, primär „das ‚Making‘ der Diagnosen“. Das kommt natürlich vor, aber man bekommt in sieben Kapiteln sehr viel mehr, eine erschöpfende Fülle an Denkanstößen und Material, Zeitphilosophie und Reflexionen über „Gegenwart“ (Augustinus bis Husserl, natürlich), Grundsatzüberlegungen zu den Formen und Möglichkeiten von Diagnose und Therapie, höchst diverse, aber immer unterhaltsam-belehrende Exempel diagnostischer Aktivitäten, Praxeologisches und Soziologisches, Historisches und Aktuelles, bis hin zur Analyse „sozialer Aushandlungen auditiver Emissionen“ – und da geht es schlicht um „Lärm“. Auch angesichts des hier und da nicht gemiedenen Jargons sehnt sich der Leser nach einem Leitfaden, um das Empirische und das Theoretische verbinden zu können und zu lernen, was Gegenwartsdiagnosen im Unterschied zu Gesellschafts- und Sozialtheorien sind, und wie sie, besser oder schlechter, gemacht werden, welchen Status dabei „Therapie“ und „Interventionen“ haben oder wie sich „Selbstproblematisierung“, Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung präzise unterscheiden. Register gibt es leider auch nicht, um die disparate Argumentation systematisch oder personenbezogen nachzuverfolgen. Philosophie könnte hilfreich sein. Hier und da wird, erwartbar, Hegel mit seinem Diktum aus der Rechtsphilosophie bemüht, das Philosophie als „ihre Zeit in Gedanken erfasst“ bestimmt. Aber schon die Lesart dieses Satzes ist kontrovers, ein neuer Hegel wird auch nicht präsentiert, allenfalls viel disparate Sozialphilosophie und -theorie, keineswegs konsensual rezipiert.

Ein alter weißhaariger männlicher Geisteswissenschaftler wie der Rezensent (um die Diagnose meiner Bemerkungen zu erleichtern), wird bei der Lektüre an die (im Band nicht präsenten) Vorlesungen Fichtes über „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ von 1805/06 erinnert. Irritiert und inspiriert durch Fichte sucht man dann bei seinen Nachfolgern (nicht Adepten!) nach neuen Perspektiven in der Diagnose der Gegenwart: Fichte versprach z. B., methodisch, „ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen Zeitalters“.1 Die primär metaphorische Qualifizierung der Methode gilt offenbar bis heute, denn Alkemeyer et al. schließen keine Praxis und Quelle der Diagnose aus, schon gar nicht visuelle oder künstlerische. Aber sie haben dann nicht selten Mühe, die jeweilige analytische Qualität der Quellen und Referenzen auszuzeichnen oder die dazu passende Therapie zu zeigen, die doch mit Diagnose immer verbunden sein soll, wie sie systematisch unterstellen. Seit Fichte vertraut ist auch die Basisoperation, dass eine Gegenwartsdiagnose „vorliegendes Mannigfaltiges der Erfahrung auf die Einheit des Einen gemeinschaftlichen Princips zurückführt und wiederum aus dieser Einheit jedes Mannigfaltige erschöpfend erklärt“, und sich damit vom „blosse[n] Empiriker“ unterscheidet. Theorie muss auch heute sein, jetzt sind Soziologen – statt der Philosophie – prominent präsent, als Beobachter erster wie zweiter Ordnung, aber Alternativen zu dieser Referenz werden erneut nicht systematisch diskutiert. Zeitbezogen geht es natürlich um „unsere Gegenwart“ (Fichte), diese Referenz wird 1806 primär sozial qualifiziert und, heute, als „janusköpfige Mittelstellung“ bezeichnet (Einleitung Alkemeyer et al.). Diese Verortung der Gegenwart eröffnet die „Selbstproblematisierung“ (2019) des Zeitalters, kühn und eigenständig, paradoxierend und Widersprüche vereinend, früher wie aktuell. Heute kann man z. B. vom „Zeitalter des Idioten“2 lesen, das ist so scharf und eindeutig wie bei Fichte, der sein „Zeitalter“ als das dritte von fünf in der Gattungsgeschichte platziert, in der Spannung der überwundenen und der zu erwartenden Zeitalter, deshalb im „Stand der vollendeten Sündhaftigkeit“. Es stelle zwar die „Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmässigkeit des Vernunftinstincts und der Vernunft überhaupt“ dar, aber doch auch „das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden“ (und das muss man ja nicht als Diagnose avant la lettre über die Geltung humanwissenschaftlicher Argumentation lesen). Natürlich kennt er auch Therapie, gut alteuropäisch in „Verstand“ und „wahrer Religion“, zuversichtlich, dass die Menschheit „ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft“ einrichten wird. Aber das gab zugleich den Anstoß, dass sich andere Diagnosen an ihm reiben und die Sequenz der Diagnosen fortspinnen, die bis heute andauert.

Liefern Alkemeyer et al. mehr als die Iteration einer Argumentationsfigur und eine hoch interessante Zäsur in diesem kontinuierenden Prozess der „Diagnostizierung“? Was lernt man Neues? Zumal viel zitierte Beobachter der Gegenwartsoder Zeitdiagnose, wie Fran Osrecki oder Walter Reese-Schäfer, mit eigenen Beiträgen beteiligt sind und der Band mit einem Text (von Frieder Vogelmann) endet, in dem gegen die gängige Kritik, in der die „Gegenwartsdiagnose“, die man als „unwissenschaftlich, unphilosophisch, unkritisch“ destruiert, jetzt über ihre genuinen Praktiken neu gerechtfertigt wird. „Isolieren, Generalisieren, Signifizieren“, wie die apologetische Triade lautet, seien eine unentbehrliche Form der „Behandlung des Neuen“, in Wissenschaften und Philosophie sonst nicht verfügbar. Wird die Frage nach der Leistung, die Gegenwartsdiagnosen gesellschaftlich, kulturell, lebensweltlich und wissenschaftlich haben, seit sie „in der Moderne“ versucht werden, quasi von Fichte bis Alkemeyer et al., jetzt positiv beantwortet?

In der „Einleitung“ der Herausgeber werden die wesentlichen Merkmale resümiert, die solchen Argumentationsformen zukommen, ihre diagnostische Funktion, die eine Problematisierung der jeweiligen Gegenwart ebenso einschließt wie Therapie- und Interventionsangebote zur Abhilfe der Probleme. Der Band selbst thematisiert in den ersten drei Abteilungen in 13 Beiträgen zuerst die systematischen Fragen: „Gegenwart als Objekt der Diagnose“, das Zeitproblem (I), dann (II) „Sehen und zu-Sehen-geben“, die methodischen Ambitionen, und (III) „Soziologische Gegenwartsdiagnostik“, den Bezug zu und die Abgrenzung von vergleichbaren wissenschaftlichen Aktivitäten. Dann folgen drei Abteilungen und 17 Beiträge mit Exempla, für die (IV) „Historischen Formen“, für (V) „Felder des Diagnostischen“ und (VI) über „Medienwandel und Formenwandel des Diagnostischen“. Und es ist signifikant, dass hier vom „Diagnostischen“, nicht von der „Gegenwartsdiagnose“ die Rede ist; denn der Rückbezug auf die eingangs eingeführten Merkmale ist weder immer gesucht noch durchgängig gegeben – ohne dass die Lesefreude darunter leidet. Am Ende stehen metatheoretische Bemerkungen, rhetorisch in einer Permutation eingeführt, „Diagnose als Kritik – Kritik der Diagnose“, um höchst heterogene Referenzen zu bündeln. Neben der bereits erwähnten Apologie, die Gegenwartsdiagnosen als „zeitdiagnostisches Wissen“ qualifiziert (Vogelmann) – aber nicht (wie vorne bei Knoblauch) in präziser Unterscheidung von „Zeit-” und „Gegenwartsdiagnose“ – stehen Reflexionen, in denen auch künstlerische Praktiken, u. a. der Popmusik, als Form von „Gegenwartskritik“ oder „Gesellschaftskritik“ gelten, mit eher paradoxen Befunden, wenn sie als „(nicht-)diagnostische … Gegenwartskritik“ (583) bezeichnet werden oder als „Kreativitätsdispositiv“, das zeige, wie Gesellschaften durch Kritik und Protest lernen. Aber erneut ist nicht nur offen, was sie lernen, sondern auch, wer denn hier wie lernt.

Aber offene Forschungsfragen, wie sie hier entstehen, sind im Grunde, bilanziert man das Gesamtangebot, der erste Ertrag, den die Beiträge bieten. Der Forschungsbedarf wird auch sowohl in den systematischen Texten als in den Exempla sichtbar, und das ist ja nicht das Schlechteste, was man von einem solchen Reader erwarten darf. Die zeittheoretischen Fragen, auch die eindeutige Bestimmung von „Gegenwart“, bleiben dabei in der multiplen Referenz, in der sie auch ansonsten zwischen den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften unversöhnt aufgeworfen werden. Augustinus ist dafür klassisch, aber nur eine Stimme in diesem Konzert, von Soziologen gut unterscheidbar; nicht zufällig kommt Luhmann immer wieder vor, weniger schon die Historiker,3 gar nicht Einstein oder Hawking. Das ist aber kein Makel,4 sondern unvermeidbar, wenn man sozial-kulturelle Praktiken untersucht, die sich in Diagnosen üben und verfestigen, dabei auch an Zukunft denken, „zur Schaffung sozialer Wirklichkeiten“ (16) beitragen und deshalb auch eigenständig „Chronoreferenzen“ (Kreuzer) konstruieren. Wie sie das tun, das ist das interessante Problem, und das ist ohne Methodenüberlegungen nicht zu klären. Exemplarisch dafür ist Kap. (II) und vor allem der einleitende Text von Etzemüller. Er bestimmt die Praxis von Gegenwartsdiagnosen über die – höchst allgemeine, erkenntnistheoretisch so vertraute wie triviale, weil notwendige, aber nicht hinreichende – Praxis des „etwas als etwas sichtbar machen“. Er konkretisiert sie aber primär psychologisch, über „Gestalten“ und ihre „Wahrnehmung, Visualisierung und Intervention“, ohne die bekannten epistemologischen Probleme der Gestaltpsychologie seit Wertheimer und Koffka wirklich auflösen zu können und ohne zu zeigen, ob und wie z. B. die für ihn exemplarische „Gestalt“, der „Arbeiter“ (von Ernst Jünger), lebensweltlich oder gar gesamtgesellschaftlich wirksam war. Betrachtet man die „Gestalt“, wie er es vorschlägt, als „Latentes in einer spezifischen Form“, handelt man sich alle Probleme der Messung von latenten Variablen ein und überzeugt meist doch nur literarisch-rhetorisch, wie sein Verweis auf Barthes‘ „Mythen des Alltags“ auch schon zeigt. Auch die Abgrenzung zur „Sozialfigur“ und zu deren „epistemischen und sozialen Funktionsweisen“ im Beitrag von Tobias Schlechtriemen bleibt diskussionsbedürftig, bis zu dessen These, solche Figuren seien „nicht widerlegbar“ – sozial oder epistemisch? Auch Verweise auf andere, z. B. visuelle Quellen – von Atlanten bis zu Fotos – lassen die Wirkungsfrage ungelöst zurück. Alkemeyer untersucht in seiner Abhandlung z. B. gar nicht erst die Realität oder auch nur Bilder der Olympischen Spiele als „Fest der Bürgerreligion“, sondern beschränkt sich auf eine Interpretation der einschlägigen Annahmen in den alten Papieren des Barons de Coubertin. Auch Timo Luks Plädoyer für „intervenierende Soziographie“ lebt primär vom Exempel, der Beobachtung der factory girls, nennt die Wirkung bei Sozialreformern (ohne für sie „soziale Diagnose“ als eigenständige methodische Praxis zu sehen),5 aber hinterlässt zuerst die Frage, was Gegenwartsdiagnose mehr kann als die Sozialforschung.

Kap. III gilt dieser Relation. Hubert Knoblauch liefert dafür primär Unterscheidungen, u. a. von Gesellschaftstheorie und -diagnose, Sozialtheorie und Soziologischer Theorie, Gegenwarts- und Zeitdiagnose, u. a. nach dem Grad der „Evidenz“ (ohne Details), räumt aber selbst – wen wundert es angesichts der Diskussionslage in den Sozialwissenschaften – die „Unschärfe der Unterscheidungen“ ein, schon bei der Referenz auf Soziologie, noch ganz ohne die anderen Geistes- und Humanwissenschaften oder die Philosophie einzubeziehen (was die Komplikationen steigern würde).6 Soziologisch argumentieren auch Uwe Schimank und Ute Volkmann, wenn sie die Differenz von Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnose und die Ambivalenzen ihrer „engen“ oder „losen Koppelung“ explizieren. Sie halten aber, wie Fichte,7 deutlicher als die meisten anderen Texte fest, dass „Gesellschaft als Ganze“ die Referenz darstellt und diagnostisch in „Hypothesen mittlerer Reichweite“ betrachtet wird. Für die anstehende Arbeit liefern sie zudem ein soziologisch inspiriertes „Themenpanorama“. Matthias Leanza zeigt, wissenschaftshistorisch, wie sich im 19. Jahrhundert die Soziologie auch dadurch entwickelt, dass sie die Logik des „ärztlichen Blicks auf zwischenmenschliche Beziehungen“ überträgt, die Pathologiezuschreibung eingeschlossen (aber ohne Virchows Methode und wohl auch ohne die naturwissenschaftliche Prüfungsmöglichkeit der modernen Medizin). Fran Osrecki, Experte in der Beobachtung der Diagnosen, thematisiert die in vielen Zeitdiagnosen unterstellte „Latenz sozialen Wandels“, also die häufig reklamierten „stillen Revolutionen“. Vor allem aber plädiert er für die „Legitimität zeitdiagnostischen Argumentierens“ und gegen ihre „akademische Exkommunikation“, freilich mit Argumenten, die zugleich die Differenz zu Forschung markieren, denn er lobt vor allem die massenmediale Anschlussfähigkeit, die Simulation von Praxisbezug und die Nivellierung von Paradigmenstreitigkeiten von Zeitdiagnosen.

Die drei Kapitel mit Exempeln belegen historisch und bereichsspezifisch, dass es konstant wiederkehrende Anlässe für Diagnosen gab und gibt, aber auch konstante Argumentformen und -probleme. Die revierspezifischen Experten zeigen bisher nämlich vor allem die Grenzen und Idiosynkrasien der je feldbezogenen Diagnosen und dann auch zeittheoretische Probleme. Denn es sind primär Eigenzeiten und je spezifische Gegenwarten sozialer Systeme, die hier thematisch werden, nicht die Zeit der Gesellschaft als Ganzer. Solche Beobachtungen bestätigen sich auch angesichts der hier präsentierten Exempel: die Analyse der theatralischen kulturellen Selbstinszenierungen (A. Landwehr: „Theatrum Europeum“ des M. Merian) oder des Umgangs mit Bedrohungen durch die Natur (N. Hannig für Hydrotechnik und Überschwemmungen), für die Betrachtung der wiederkehrenden und immer neu falsifizierten Untergangsprognosen für die Familie (G. Budde) oder für die Rhetorik im Bildungssystem, wie sie z. B. universitär für die propagandistische Nutzung des deutschen Universitätsmodells in Rektoratsreden untersucht wird (D. Langewiesche), oder für die nur scheinbar stabile, in Wahrheit sehr kontexabhängige Semantik der Pädagogen angesichts der „Unaufmerksamkeit“ der Lernenden (Y. Ehrenspeck-Kolasa). Aktuell werden zudem „Felder des Diagnostischen“ ebenso lehrreich ausgewertet: „Makroökonomische Zeitdiagnosen“ (H. Pahl), der aktuelle Bildungsdiskurs (bei H. Peter sehr eng nur für Globalität und Inklusion als problem-generierende Referenzen), zu dem man auch die spätere, auf Medialität zielende Analyse von Engel und Jörissen nehmen könnte, die sich auf die gängige Thematisierung von Digitalisierung beziehen und jugendliche Medienpraktiken nicht nur pädagogisch besorgt dagegenstellen. Natürlich fehlt „Nachhaltigkeit“ nicht, das als „integratives Konzept“ in „Postkollapsgesellschaften“ analysiert wird (N. Buschmann), und auch nicht die Migrationsgesellschaft als „Arena“, in der Diagnosen von der Differenz von „wir“ vs. die „anderen“ leben (P. Mecheril). Aber Romane, hier von M. Houllebecq und J. Raspail, werden von einem Experten für Diagnosen wie W. Reese-Schäfer schon als „Folgemodell nach dem Bedeutungsverlust soziologischer Zeitdiagnostik“ vorgestellt – getreu der seit Balzac bekannten Diagnose, dass die Welt nichts ist als eine schlechte Kopie unserer großen Romane. Kap. VI. verstärkt diese These, wenn „Wissenschaftsopern“ (A. Langenbruch), künstlerische Inszenierungen (M. Butler) oder die alltägliche Aushandlung von Lärmkonflikten (S. Binas-Preisendörfer) und der schon erwähnte jugendkulturelle Umgang mit Digitalisierung die mediale Basis von Gegenwartsdiagnosen belegen sollen, ohne deren Ambitionen doch so einzulösen, wie es die Systematik der Herausgeber gattungsspezifisch unterstellt.

Das ruft abschließend die „Kritik der Diagnose“ auf den Plan, schon, weil der Ort der Kritik unklar wird. Er wird jetzt z. B. künstlerisch, in „Mitteln des Affekts“, – aber vergeblich – gesucht oder nur als „Lust der Unentschiedenheit“ identifiziert (E. Bippus), auch nicht in der Pop-Musik gefunden, die allenfalls die große Frage neu aufwirft, was denn Kritik sei (F. Hillenbrand). Der Versuch einer Ehrenrettung steht nicht zufällig am Ende des Bandes (Vogelmann). Der Autor lobt, dass „Isolieren, Generalisieren, Signifizieren“ Praktiken von Diagnose darstellen, die in unterschiedlichen Kontexten genutzt werden und sich deshalb aber auch vor ganz unterschiedlichen Gütekriterien bewähren. Aber gerade weil die Referenzen wissenschaftlich oder popkulturell, lebensweltlich oder pädagogisch, im Alltag oder in künstlerischer Praxis gesucht werden, müssten diese Praktiken auch in ihrer Differenz deutlicher unterschieden werden. Deshalb ist es vielleicht doch eine Übergeneralisierung, diese Vielfalt unter dem Titel der „Gegenwartsdiagnose“ noch bündeln zu wollen und im Blick auf den Umgang mit dem Neuen als genuine Leistung aufzuweisen. Ein Blick auf andere, aber für die Moderne nicht ganz untypische Praktiken der Selbstproblematisierung z. B. in Kulturkritik oder kritischer Theorie, die aber ausgeblendet werden (weil sie nur noch vergangene Gegenwarten, nicht mehr gegenwärtige Vergangenheit darstellen?), hätte genügt, eher Skepsis zu entwickeln, als den Blick so auszuweiten. Wie auch immer, es ist ein work in progress, das man hier bekommt, das starke Annahmen einführt, exemplarisch diskutiert und problematisiert, immer lehrreich und unterhaltsam. Deshalb stellt es insgesamt wohl doch ein künftig unentbehrliches Kompendium von Problemen und exemplarischen Lösungen dar, denn es bietet produktive Exempel und wichtige Referenzen, zeigt methodische Möglichkeiten und theoretische Probleme, die weitere Diskussionen und Forschungen provozieren. Wahrscheinlich wäre es für Fichte zu wenig philosophisch, aber niemand verbietet ja den Philosophen, auch jenseits der üblichen Verdächtigen, die man jetzt in den Fußnoten schon findet, sich ebenfalls zu beteiligen.

Literaturverzeichnis

Fichte, Johann Gottlieb (1845/1846): Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. In: J. G. Fichtes sämmtliche Werke. Band 7. Berlin, S. 238-254.
Jürgen Habermas (2020): Moralischer Universalismus in Zeiten politischer Regression. Jürgen Habermas im Gespräch über die Gegenwart und sein Lebenswerk. In: Leviathan, 2020/Nr. 48, 1, S. 7-28.
Luhmann, Niklas (1975): Weltzeit und Systemgeschichte. In: Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 2. Opladen, S. 103-133.
Salomon, Alice (1926): Soziale Diagnose. Berlin.
Terzić, Zoran (2020): Idiocracy. Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten. Zürich.

Fußnoten

1 Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. In: Johann Gottlieb Fichtes sämtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 238–254, hier Zitate aus der ersten Vorlesung. (Ich zitiere Fichte nach dem handlichen Zugang in http://www.zeno.org/nid/20009168826). 2 Zoran Terzić: Idiocracy. Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten. Zürich 2020. Terzić erläutert im Übrigen seine Diagnose als Analyse einer „Figur“, als die man den Idioten sehen könnte („Sozialfiguren“ werden bei Alkemeyer et al. im Beitrag Schlechtriemen diskutiert, unterschieden von den „Gestalten“ der Moderne, diskutiert bei Etzemüller). Bei Terzić heißt es systematisch: „Diese Figur des besinnungslosen Wissens zieht sich durch die gesamte Kulturgeschichte.“, und aktuell: „Ich würde sagen, Trump ist das Paradebeispiel eines ‚neuen Idioten‘. Das ist ein Begriff von Gilles Deleuze, der diesen ‚neuen Idioten‘ von dem ‚alten Idioten‘, von dem ich gerade eben sprach, unterscheidet. Es ist ein neuer Typus, der das Absurde will, jemand, der wörtlich handelt, der eine Mauer will, der Bedeutung will, der das Beste will. Und wenn er es nicht kriegt, böse wird.“ (so Terzić in einem Rundfunkinterview, dokumentiert unter Bayrischer Rundfunk: Der gute und der böse Idiot - ein Gespräch mit Zoran Terzić. 30.1.2020. https://www.br.de/nachrichten/kultur/der-gute-und-der-boese-idiot-ein-gespraech-mit-zoran-terzi,Rp3QNyh). 3 Luhmann selbst hat im Kontext der historiographischen Debatte u. a. die Überlegungen zu „Weltzeit und System-geschichte“ publiziert, um zu zeigen, mit welcher Vielfalt an Zeiten historisch-gesellschaftlich zu rechnen ist und welche Koordinations- und Analyseprobleme damit aufgeworfen werden, wenn man „die Konstitution temporaler Modalität und die Selektion dessen, was in ihnen relevant wird“ (Luhmann, zit. S. 103) untersucht und sieht, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft „mit Hilfe einer Strukturierungstechnik“ unterschieden werden, die er als „Mehrfachmodalisierung oder reflexive Modalisierung“ bezeichnet (ebd., 112), vgl. Niklas Luhmann.: Weltzeit und Systemgeschichte. (zuerst: 1973, in: P. C. Ludz, Hgrs.: Soziologie und Sozialgeschichte Opladen, S. 81–115, SH 16 der Kölner Zeitschrift) In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 2. Opladen 1975, S. 103–133. 4 Ich teile deshalb auch die Kritik nicht, die Christian Geulen in seiner Rezension an der fehlenden systematischen Bestimmung von „Gegenwart“ als zentrales Defizit hervorgehoben hat, vgl. seine Kritik von Alkemeyer et al. in: HSoz-Kult 14.02.2020, vermisse aber wie er eine distinkte Relationierung zur Zeitgeschichte. 5 Bekanntlich hat schon Alice Salomon dazu eine eigene, sozialpädagogisch höchst relevant gewordene Kunstlehre der Beobachtung und Intervention entwickelt, vgl. A. Salomon: Soziale Diagnose. Berlin 1926. 6 Man lese nur die scharfe Kritik von Jürgen Habermas an den zeitdiagnostischen Argumenten von Andreas Reckwitz, um erneut die disziplinären und theoretischen Differenzen zu finden (in Leviathan 48, 2020, 1, S. 7–28). 7 Schon in der ersten Vorlesung Fichtes findet man: „Das gegenwärtige Zeitalter im Ganzen meine ich …“.