Grenzen und Ordnungen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive: Tagungsbericht zur 6. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft e. V. „B/ORDERING CULTURES: Alltag, Politik, Ästhetik“ vom 8.10.–10.10.2020 an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) von Maria Klessmann, Florian Grundmüller, Konstanze Jungbluth, Natalia Linke, Andrea Meissner und Anne Pilhofer

Inmitten der COVID-19-Pandemie und ihrer politischen Folgen erleben wir, wie sehr soziale, sozio-politische und kulturelle Grenzen herausgefordert werden und umkämpft sind. Die 6. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft e. V. (KWG) mit dem Titel B/ORDERING CULTURES: ALLTAG, POLITIK, ÄSTHETIK fand in einer Zeit statt, in der COVID-19 soziale und politische Handlungsräume transformiert. Die Politik auf der ganzen Welt reagiert auf das Coronavirus mit einer restriktiven Reise- und Migrationspolitik und mit der Verstärkung und Neuimplementierung nationaler Grenzen. Auch sind wir ständig mit einer Neuordnung des sozialen und kulturellen Alltagslebens konfrontiert. Soziale Ungleichgewichte werden nun sichtbarer denn je, weil bereits lange geführte soziale Kämpfe für Gleichberechtigung und Partizipation und gegen totalitäre Bestrebungen in den Vordergrund treten.

Mit einem starken Fokus auf die Themen „Migration“ und „Grenzregime“ während der sogenannten Flüchtlingskrise in Europa thematisierte das dreitägige Konferenzprogramm aktuelle globale, politische und soziale Dimensionen von Grenzziehungen und Grenzübergängen. Die Konferenz B/ORDERING CULTURES fand auf Einladung des Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION der Europa-Universität Viadrina und der Sektion „Kulturwissenschaftliche Border Studies“ der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG) vom 8.10. bis 10.10.2020 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und im virtuellen Raum statt. Fragen nach möglichen Wechselbeziehungen zwischen sozio-symbolischen, ästhetisch-materiellen und politisch-territorialen Vorstellungen von Grenzen und Ordnungen sowie Mikro- und Makroperspektiven auf diese Phänomene prägten die Überlegungen zum Konferenzthema.

Das breite thematische Spektrum deckte diverse Grenzziehungen und Forschungen zu Grenzen ab, wie z. B. sprachlichen Grenzziehungen, die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit kultureller Grenzen, Schnittstellen zwischen menschlichen Körpern und Maschinen sowie Materialität von Grenzen selbst. Verschiedene theoretische Ansätze suchten, die Komplexität und Intersektionalität von Grenzen und Ordnungen aus kulturwissenschaftlicher Sicht zu erfassen – und damit binäre Vorstellungen von »Innen« und »Außen«, Ein- und Ausschluss, um Perspektiven auf Grenzen und verschiedene Ebenen von Grenzen zu erweitern.

In 35 Panels, drei Keynote Lectures, einer Podiumsdiskussion, einer studentischen Poster-Ausstellung und einem reichhaltigen künstlerisch-ästhetischen Rahmenprogramm bildeten Wissensordnungen, Fragen von Performativität und Körperlichkeit (Grenzkörper) sowie (affektive) Grenzverhandlungen und gelebte Grenzen Querschnittsthemen der Konferenz. Im hybriden Format verband die Konferenz knapp 100 Teilnehmer:innen vor Ort mit mehr als 70 Teilnehmer:innen online in gemeinsamen Diskussionen zu einem breiten Themenspektrum. Die Teilnehmer:innen aus 18 verschiedenen Nationen trugen darüber hinaus zum internationalen Austausch während der Tagung sowie innerhalb der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft insgesamt bei.

1 Drei Tage an der Oder

Am Vorabend der Konferenz wurde mit der Eröffnung der Ausstellung „Hostile Terrain 94“ der Blick auf die US-amerikanisch-mexikanische Grenze geworfen. Die vom Undocumented Migration Project (UMP) konzipierte Ausstellung dokumentiert und kartografiert die über 3000 Todesopfer, die der Versuch der Durchquerung der Sonora-Wüste in Arizona seit den 1990er-Jahren forderte. Die Pop-Up-Ausstellung wird weltweit an über 100 Standorten gleichzeitig gezeigt, worauf Kurator Jason de León (Los Angeles) noch einmal hinwies, als er und sein Team sich mit einer Videobotschaft während der Vernissage an das Konferenzpublikum und die städtische Öffentlichkeit wandte.1

Am Folgetag wurde das Konferenzprogramm mit der Keynote des Philosophietheoretikers Thomas Nail (Denver) eröffnet. Er unterstrich in seinem Eröffnungsvortrag die Mobilität und Dynamik von Grenzen weltweit. Unter dem Titel „Moving Borders“ stellte Thomas Nail heraus, dass Grenzen nicht statisch seien, sondern er betonte vielmehr ihre sozial konstruierte und historisch wandelbare Beschaffenheit. Mit einem dichten Überblick über aktuelle Diskurse der Grenztheorie bis hin zu empirischen Forschungsfeldern schuf der Vortrag eine inhaltliche Klammer der Tagung und bereitete die thematisch vielfältigen Panelsessions und Vorträge der folgenden Tage vor.

Die Kulturanthropologin Silvy Chakkalakal (Berlin) erörterte in der zweiten Keynote der Konferenz vor allem transgressive Momente im Bereich von Trance und Körperlichkeit. Anhand von reichhaltigem ethnografischen Filmmaterial befasste sich ihr Vortrag mit der frühen US-amerikanischen Kulturanthropologie und den in diesem Material verhandelten Grenzziehungen in ethnografischer Forschung und transzendentalen Praktiken.

Abgerundet wurde die Konferenz am dritten Tag mit dem Vortrag des Linguisten Salikoko Mufwene (Chicago) zu Kreolisierungsprozessen und Fragen nach den Grenzen zwischen Sprachen bzw. in der Entstehung neuer ‚Sprachen’. Eine Podiumsdiskussion zur „Relevanz der Kulturwissenschaften – nicht nur angesichts der Krise“ bildete den Abschluss der Konferenztage an der Oder und rahmte diese mit einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung über das Fach allgemein. Auf dem Podium diskutierten Stefan Willer (Berlin), Friedrich Lenz (Hildesheim) und Daniela Wawra (Passau), die online zugeschaltet wurde, mit der Vorstandsvorsitzenden der KWG, Hildegard Kernmayer (Graz), über Fragen der Deutungshoheit und Sichtbarkeit der Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum. Zum Ausklang der drei Konferenztage nahmen die drei Künstler Michael Disqué, Roman Ehrlich und Matthias Krieg in ihrer multimedialen Performance die Konferenzgäste mit auf eine „Überfahrt“ von Hamburg nach Qingdao, China, und hoben das Konferenzthema damit noch einmal aus dem wissenschaftlichen in einen performativ-ästhetischen Raum, ein Prozess, bei dem zugleich wichtige gesellschaftspolitische Fragen aufgeworfen wurden.2

Auch die Sektionen der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft trafen sich während der Konferenz in Panels oder den Sektionentreffen. Neben Einblicken in ihre Arbeit als Sektion der KWG wurden inhaltliche Bezüge zum Konferenzthema diskutiert und in Workshops präsentiert. So organisierte beispielsweise die Sektion „Transkulturelle Lebenswelten“ einen Workshop zum Thema „Diversity in Cultural Studies and Kulturwissenschaft(en): (B)orders we still need to bridge“ (organisiert von Giulia Pelillo-Hestermeyer, Heidelberg, und Lisa Gaupp, Lüneburg). Internationale Wissenschaftler:innen warfen hier Fragen nach disziplinären und institutionellen Begrenzungen in der Forschung und Lehre zum Thema „Diversity“ auf, um auch weitergehende Möglichkeiten der Kooperation und damit Überwindung akademischer Grenzen zu erörtern.

2 Tagungsorganisation und Lehre

Begleitet wurde die Tagung von einem zweisemestrigen Praxisseminar an der Viadrina (angeleitet von Franziska Boll und Maria Klessmann), in dem sich die Studierenden sowohl mit der inhaltlichen Konzeption einer kulturwissenschaftlichen Tagung als auch der Tagungsorganisation als Form des Eventmanagements auseinandersetzten. Die aus diesem Seminar hervorgegangenen Arbeitsgruppen organisierten eine studentische Poster-Ausstellung und betreuten in Zusammenarbeit mit der Pressestelle der Viadrina die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Tagung. Sie konzipierten und erstellten dabei u. a. eine eigene Konferenz-App, eine Online-Evaluation der Tagung, verfassten Pressemitteilungen und Social Media Beiträge und unterstützten mit großem Engagement den Ablauf der Tagung. Die Poster-Ausstellung zum Thema „Alles in Ordnung?“ stellte Fragen nach dem Verhältnis zwischen Ordnung und Unordnung ins Zentrum und schloss damit sowohl Prozesse auf alltags- und gesellschaftspolitischer als auch auf wissenschaftstheoretischer Ebene mit ein. Dabei ging es z. B. um eine kritische Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung sowie mit ordnenden Prinzipien und deren (oft auch gegenteiligen) Effekten, wie sie angesichts der weltweiten Corona-Krise immer wieder deutlich hervortreten. Die vielfältigen Beiträge von Ina Tanita Burda (Koblenz-Landau), Moritz Filter (Frankfurt/Oder), Janosch Leugner (Berlin), Isis Luxenburger (Saarland), Oliwia Olesijuk (Poznan) und Lena Schraml (Halle/Saale) beschäftigten sich u. a. mit grenzüberschreitender Mobilität, sprachlichen Grenzziehungspraktiken in Minderheitenkontexten, Grenzen der Feldforschung in Zeiten der Corona-Pandemie oder auch der „Entgrenzung“ kollektiver Gedächtnisse in fiktionalen Texten.

3 Herausforderung hybrides Format

Als große Herausforderung erlebten wir als Veranstaltungsmacher:innen das hybride Format der Tagung. Hybride Tagungen setzen sowohl auf die persönliche Anwesenheit der Teilnehmer:innen, sie ermöglichen aber parallel eine virtuelle Teilnahme an der Veranstaltung. Aufgrund der Corona-Pandemie und der vielen Unsicherheiten, die diese mit sich brachte, blieb es lange unklar, in welcher Form die Konferenz durchzuführen sein würde. Die interaktiven Möglichkeiten der hybriden Veranstaltung führten jedoch zu einer erhöhten Reichweite und ermöglichten es einer großen Zahl an Teilnehmer:innen, trotz der herrschenden Reisebeschränkungen, an der Konferenz teilnehmen zu können. Um die Möglichkeiten der Mitgestaltung der Veranstaltung durch das Publikum vor Ort und online so groß wie möglich zu gestalten, wurden größere Plenarevents, wie die drei Keynotes und die Podiumsdiskussion, zusätzlich live ins Internet übertragen. Im Rahmen der einzelnen Panels war die Verteilung von virtuell und face-to-face-Interaktion sehr unterschiedlich, welches ein hohes Maß an Flexibilität und Improvisationsfähigkeit aller voraussetzte: Mal waren viele Teilnehmer:innen im Tagungsraum anwesend und nur bestimmte Expert:innen von außerhalb für ihren Vortrag oder eine Diskussionsrunde dazu geschaltet. In anderen Fällen konnte die Mehrheit der Panelteilnehmer:innen nicht vor Ort sein und im Publikum vor Ort waren nur wenige Gäste anwesend, sodass das Panel vor allem im virtuellen Raum stattfand. Über Chats und Videokonferenzen wurde hier jeweils die Kommunikation zwischen den in Frankfurt (Oder) Anwesenden und den online Zugeschalteten ermöglicht. Insgesamt eröffnete das hybride Format der Tagung trotz des organisatorischen Mehraufwands gerade ausländischen Teilnehmer:innen die Möglichkeit, direkt an der Tagung und den Diskussionen in den Panels teilzunehmen. Die Online-Formate entlasteten zudem die Raumkapazitäten vor Ort und ermöglichten das erforderliche Abstand-Halten, sodass alle Teilnehmer:innen ihr Tagungsprogramm nach Wunsch und sicher verfolgen konnten.

4 Ausblick

In Bezug auf eine kulturwissenschaftliche Grenzund Ordnungsforschung konnte die Tagung unterschiedlichen Perspektiven auf Grenzen und Ordnungen ein abwechslungsreiches Forum bieten. Transversale Themen und Ansätze, wie sie in den Keynotes formuliert wurden, konnten nicht nur ein interdisziplinäres Feld der Grenzforschung abstecken, sondern die Wichtigkeit multiperspektivischer Ansätze in der Erforschung von Grenzen und Ordnungen zur Geltung bringen. Unter dem Dach der Kulturwissenschaften wurden sowohl die disziplinäre Bandbreite, die methodologische Vielfalt als auch eine große Diversität an Grenzbegriffen und Ordnungsverständnissen zusammengeführt. So zeigte sich gerade an der Vielfalt der Panels, dass die Erforschung von Grenzen auch über die Kulturwissenschaften hinaus in den Sozial-, Geistes- und Rechtswissenschaften von Interesse ist. Einzelne Beiträge innerhalb der Panels aus den Rechtswissenschaften, der Politikwissenschaft, Anthropologie, Soziologie, Architektur, aber auch Zugänge aus aktivistischer Sicht konnten gerade durch die thematische Heterogenität in den Keynotes und der abschließenden Podiumsdiskussion aufgegriffen werden. In diesen Multiperspektiven auf Grenzen als politische, künstlerische, kulturelle, soziale, disziplinäre Phänomene zeigt sich trotz der Bandbreite an methodischen und theoretischen Zugängen ein gemeinsames Interesse an der Erforschung von Grenzen, welches letztlich auch im Austausch und disziplinenübergreifender Forschung fruchtbar gemacht werden kann.

Das Programm der Konferenz „B/Ordering Cultures: Alltag, Politik, Ästhetik“ und weitere Informationen finden sich auf der offiziellen Konferenzseite https://www.borderingcultures.org.

Die 7. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft findet vom 23.–25. September 2021 an der Universität Graz unter dem Thema „Post-humanismus“ statt.


Fußnoten

1 Für weiterführende Informationen zum Undocumented Migration Project siehe auch: https://www.undocumented-migrationproject.org/ 2 Weitere Informationen über das Buchprojekt „Überfahrt“, welches 2020 im Spector-Books-Verlag erschienen ist, finden sich auch unter: https://spectorbooks.com/uberfahrt.