Kai Bremer: Invektive Anliegen. Wirkungs- und rhetorikgeschichtliche Überlegungen zur Streitschriften-Literatur des 16. Jahrhunderts

Abstract: The paper examines invective text types of the 16th century by means of rhetoric-historical considerations. The central question is which invective concern is claimed on the title page and how it relates to the rest of the text. The guiding idea is that the reconstruction of the rhetorical concern is possible by means of the genera doctrine of rhetoric and that it allows to describe potential patterns of reception in order to plausibilise potential effects. The following considerations are intended to be understood as a methodological contribution to the interpretation of the potential reception of invective writings of the 16th century against the background of the argumentation strategies articulated on the title page.

Keywords: Rezeption, invektive Textsorten, Rhetorik, rhetorische Generalehre – reception, invective text types, rhetoric, genera doctrine of rhetoric

 

Die vorliegenden Ausführungen versuchen, das Spektrum der invektiven Textsorten des 16. Jahrhunderts rhetorikgeschichtlich zu strukturieren, um methodologische Vorschläge für deren Analyse vorzulegen. ‚Invektive Textsorten‘ bezeichnet dabei im Folgenden ausschließlich die Schriften, die eine primär invektive Funktion verfolgen. Nicht berücksichtigt werden hingegen Schriften, in denen Text und Bild gemeinsam invektiv agieren. Dieser Ausschluss betrifft insbesondere die Flugblattliteratur, in der die Invektivität vom Bild ausgeht und ergänzend etwa durch Unterschriften kommentiert oder erläutert wird. Von dieser Festlegung nicht betroffen sind allerdings graphische Darstellungen in Paratexten oder Graphiken im Text, die der Argumentation erkennbar dienen. Behandelt werden also primär die Textsorten, die mittels vermeintlicher Darstellung eines Sachverhalts oder eines Geschehens invektiv agieren. Die Festlegung schließt außerdem Textsorten aus, deren primäre Funktion nicht invektiv ist. Mit diesem Hinweis sind zum einen beispielsweise literarische Textsorten angesprochen, deren primäre Funktion etwa Unterhaltung ist oder die kunstvolle imitatio bzw. aemulatio. Abzugrenzen sind solche Texte wiederum von jenen, die ihrerseits invektiv gegen etablierte Textsorten oder bestehende religiöse Diskurse zielen.1 Dieser Hinweis betrifft zum anderen etablierte kirchliche Textsorten, die eine erkennbare rituelle oder didaktische Funktion haben – Gebete etwa oder Katechismen.2

Diese Einschränkungen erfolgen aus pragmatischen Gründen und werden faktisch der Diversität des invektiven Schrifttums im 16. Jahrhundert nicht gerecht. Vielmehr wird so verfahren, um eine ungefähre Systematisierung zu ermöglichen. Dass dieser Versuch seine Grenzen hat, zeigen die gegen Ende beispielhaft erwähnten ‚Streitpredigten‘, die einerseits klar eine invektive Funktion verfolgen und andererseits ebenso eindeutig innerhalb des kirchlichen Schrifttums eine didaktische Funktion haben.3 Ziel ist es gleichwohl, durch die Einschränkungen eine Art Kernbestand des invektiven Schrifttums des 16. Jahrhunderts zu skizzieren. Vorteil dieses Verfahrens ist es zunächst, dass die Einschränkungen es erlauben, die verschiedenen invektiven Textsorten des 16. Jahrhunderts unter dem Begriff ‚Streitschrift‘ zusammenzufassen. Das soll geschehen, um ‚Streitschriften‘ einerseits kommunikationstheoretisch (1.) und andererseits rhetorikgeschichtlich (2.) beschreiben zu können.

Die Einschränkungen führen zugleich vor, dass die Absicht, systematisch eine Vielzahl rhetorischer Zweckformen auszugrenzen, ein frommer Wunsch, wenn nicht gar naiv ist: Schon in der frühen Reformation setzen sich Verfahren durch, die das polemische Anliegen einer Schrift zu verschleiern versuchten und/oder ihren Verfasser als neutralen Beobachter oder als legitimen Richter auszuweisen, um eigene Parteilichkeit zu verbergen und Deutungshoheit zu gewinnen.4 Die Entscheidung, eine einzelne Schrift als primär invektiv zu begreifen, bleibt also notwendig Ergebnis einer interpretierenden Rekonstruktion der Einzelschrift und ihrer historischen Kontexte. Konkret soll mittels rhetorikgeschichtlicher Überlegungen erörtert werden, welches Anliegen auf dem Titelblatt behauptet wird und wie sich dieses im Verhältnis zum weiteren Text deuten lässt. Leitende Idee ist dabei, dass die Rekonstruktion des rhetorischen Anliegens des Titelblatts es erlaubt, potentielle Rezeptionsmuster zu beschreiben, um so potenzielle Wirkungen zu plausibilisieren. Die folgenden Überlegungen begreifen sich also als methodischer Beitrag zur Interpretation der potentiellen Rezeption invektiver Schriften des 16. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der auf dem Titelblatt artikulierten Argumentationsstrategien. Die Überlegungen sind damit in erster Linie wirkungsgeschichtlich: Nach Überzeugung des Verfassers spricht zwar viel dafür, dass insbesondere bei theologischen Schriften die Autoren bei der Findung des Titels beteiligt waren. Es geht aber gleichwohl nicht darum, eine Intention des Titels zu rekonstruieren, sondern vielmehr darum zu skizzieren, wie die Titelblätter angesichts der weit verbreiteten rhetorischen Kenntnisse mutmaßlich rezipiert wurden.

1 Kommunikationstheoretische Überlegungen zum publizistischen Streit im 16. Jahrhundert

Wohl kein anderes Wort ist als Oberbegriff für invektive Textsorten besser geeignet als das Wort ‚Streitschrift‘.5 Das gilt für das 16. Jahrhundert, aber ebenso noch für die Gegenwart. Die Invektivität der Streitschrift ist dabei im Kern durch ein reaktives Moment gekennzeichnet. Invektive Textsorten beziehen sich meist auf Handlungen oder Schriften Dritter, die den Verfasser der Streitschrift veranlassen, sich zu positionieren bzw. sich entschieden zu distanzieren – und zwar nie allein sachlich-argumentierend, sondern immer auch durch potentiell verletzende Äußerungen. Eine Streitschrift ist deswegen vom ‚Initialtext‘ abzugrenzen,6 der an sich nicht notwendig polemisch verfasst sein muss. Zu überlegen wäre freilich, ob sich für ihn etwas beschreiben lässt, was vorläufig als ‚invektives Potential‘ bezeichnet werden kann. Um das invektive Potential einer Schrift zu beschreiben, wird es freilich immer erforderlich sein, neben der Textanalyse auch den historischen Kontext sowie den Verfasser zu berücksichtigen, weil eine Schrift nicht notwendig aufgrund ihres Inhalts, sondern auch allein durch ihren Autor einen Streit initiieren kann. Die Grundannahme wäre also, dass das invektive Potential eines Initialtextes thematisch und/oder personal ist.7 Diese Unterscheidung gilt auch für alle auf den Initialtext folgenden Schriften.

Das reaktive Moment hat auch die linguistische Streitforschung hervorgehoben. Gloning hat Streitschriftenwechsel mit den Methoden der historischen Dialoganalyse untersucht und reaktive Streittechniken wie Antworten, Refutieren oder Negieren dargestellt.8 Streitschriften orientieren sich am Initialtext zudem nicht nur inhaltlich, sondern oft auch – wenn auch nicht notwendig – im Hinblick auf Stilhöhe, Textstruktur, Formen der Anrede und Umfang. Wenn sich formal ein reagierender invektiver Text nicht am Initialtext orientiert, lässt das meist Rückschlüsse auf das Anliegen des Verfassers und die Einschätzung des Streites zu. Solche Änderungen sollten als ‚Streittechnik‘ interpretiert werden, auch wenn sich fast nie belegen lässt, ob sie bewusst eingesetzt wurden. Entscheidend ist also auch hier nicht die Frage nach der Intention, sondern nach der potentiellen Deutung in der „Anschlusskommunikation“.9

Zur historischen Rahmung des invektiven Anliegens sind Rekonstruktionen der angesprochenen (Teil-)Öffentlichkeiten, in denen sich der Streit ereignet, der Streitgegenstand und die Adressaten erforderlich. Dabei sollte mit Stenzel10 zwischen dem Streitgegner (dem ‚polemischen Objekt‘), der nominell im invektiven Text Adressat sein kann, aber nicht muss, und dem eigentlichen Adressaten (der ‚polemischen Instanz‘) unterschieden werden. Dieser soll mittels des invektiven Textes von der Position des Verfassers (des ‚polemischen Subjekts‘) entweder argumentativ überzeugt und/oder emotional vereinnahmt werden. Die zu diesem Zweck verwendeten rhetorischen Streittechniken sind vielfältig. Sie reichen von der persönlichen Verunglimpfung sowie grobianischem Sprechen bis hin zum sachlichen, ausschließlich argumentierenden Traktatstil. In welcher Form die Person des Streitgegners im invektiven Text berücksichtigt wird, lässt Rückschlüsse auf die grundlegende Strategie des Verfassers zu. In manchen Texten wird der Gegner direkt angesprochen, in anderen wird er ignoriert oder gar stigmatisiert.11 Stattdessen wird die polemische Instanz angesprochen, was zur Ausgrenzung des Gegners führen soll oder kann. Ziel ist nicht notwendig die Überzeugung des Gegners, sondern häufig seine Ausgrenzung aus einer sozialen Gruppe, um den Gruppenzusammenhalt von Verfasser und polemischer Instanz zu stärken. Invektive Texte zielen oftmals primär auf gesellschaftliche Stabilisierung gerade durch Ausgrenzung bzw. diskriminierende Kollektivierung. Da aber die intendierten Sozialmechanismen in aller Regel nicht offen formuliert werden, ist es geraten, bei der Analyse mit Barner zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur zu unterscheiden,12 was ohne eine historische und soziologische Fundierung nicht geleistet werden kann. Aus diesen Hinweisen ergibt sich zunächst eine funktionale Zweiteilung der invektiven Textsorten in die Texte, die tendenziell versuchen, der polemischen Instanz eine bewusste Entscheidung aufzunötigen, und die Texte, die tendenziell versuchen, die polemische Instanz emotional für sich einzunehmen. Selbstverständlich ist diese Unterscheidung eine Idealisierung – faktisch wird kaum eine Schrift derart einseitig konzipiert sein.

2Versuch einer Ordnung mittels der rhetorischen 'genera'

Die Rhetorik macht um invektive Schreibweisen gerne einen Bogen, obwohl sie ihr selbstverständlich nicht unbekannt sind. Trotzdem finden sich nur selten Hinweise auf polemische Verfahren in den rhetorischen Lehrbüchern der Frühen Neuzeit.13 Da die Rhetorik andererseits aber wesentlich für weite Teile der Textproduktion der Epoche war, muss überlegt werden, welche Ansatzpunkte sich indirekt für die Analyse von invektiven Schreibweisen ergeben. Deswegen gehen, wie einleitend skizziert, die folgenden Überlegungen von der These aus, dass der invektive Einzeltext mittels des Titels in der Regel einen rhetorischen Anspruch formuliert, der – wie ebenfalls einleitend angedeutet – freilich nicht notwendig dem invektiven Anliegen des Haupttextes entsprechen muss. Um den rhetorischen Anspruch beschreiben zu können, werden zunächst knapp einige rhetorische Grundkategorien genannt, die im 16. Jahrhundert insgesamt präsent gewesen sind. Dabei ist es nicht entscheidend, ob ein Polemiker akademisch sozialisiert war und damit rhetorisch grundlegend geschult, was für die meisten Polemiker gelten dürfte, oder ob ein Polemiker faktisch autodidaktisch gearbeitet hat (wie etwa der radikale Protestant Melchior Hofmann).14 Textsortenmuster wurden nicht nur aktiv durch den Rhetorikunterricht vermittelt, sondern vielfach und vielfältig durch konkrete imitatio von Texten, die als exempla begriffen wurden.15 Ausgegangen wird dafür von der spätestens seit Quintilian geltenden Unterscheidung des Redegegenstandes in ‚sicher‘ und ‚unsicher‘.16 Sichere Redegegenstände werden im genus demonstrativum bzw. laudativum erörtert (1.). Das heißt für invektive Textsorten, dass die negative Lobrede, also die Tadelrede, zentral ist. Unsichere Redegegenstände (2.) werden ihrerseits unterteilt in Redeformen, die ratgebenden Anspruch haben und letztlich den Rezipienten auffordern, den vorgestellten Sachverhalt zu beurteilen. Erfolgt dies in erster Linie auf beratende Art und Weise und sollen sich aus der Erörterung in erster Linie Konsequenzen für die Zukunft ergeben, so ist das genus deliberativum (2.a.) einschlägig. Wird vom Rezipienten hingegen ein Urteil über ein vergangenes Ereignis oder eine bereits artikulierte Äußerung erwartet, ist die Gerichtsrede, das genus iudiciale, zu nutzen (2.b.). Dass diese Unterscheidung eine Idealisierung ist und faktisch die drei Gattungen immer wieder ineinandergreifen, räumt bereits Quintilian ein.17

2.1 Im Sinne der antiken Rhetorik ist die Tadelrede18 die invektive Variante des genus demonstrativum. Formal beschrieben werden Tadelreden in der epideiktischen Beredsamkeit allerdings kaum, auch die Forschungen zu ihr sind im Vergleich zur Lobrede vergleichsweise unterentwickelt. Letztlich ist die Tadelrede eine Negativvariante der Lobrede, die artikuliert wird, wenn der Redegegenstand selbst als tadelnswert betrachtet wird. Ihr Ziel ist dementsprechend die sprachliche Vorführung negativer Eigenschaften primär einer Person bzw. ihrer Handlungen.

Faktisch entstehen zwei Varianten der Tadelrede. Zunächst gibt es bei Quintilian progymnastische Redeübungen, die neben den Erzählübungen am Anfang der rhetorischen Ausbildung stehen. Sie sind eine nicht-argumentierende Redeform, die als leicht zu erlernen gilt. Auch wird ihr attestiert, sich zur sprachlichen Bildung junger Menschen besonders gut zu eignen, weil die Rhetorikschüler mit ihr als Erziehungsrede vertraut sind. Von dieser pädagogischen Variante ist die Tadelrede abzugrenzen, die sich an Adressaten wendet, die gesellschaftlich als gleichberechtigt gelten. Diesen Umstand berücksichtigend, wird im Lateinischen seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. auch nicht mehr nur von vituperatio, sondern auch von oratio invectiva gesprochen.19 Allein von dieser Variante handeln die folgenden Überlegungen.

In der oratio invectiva markiert das Attribut invectiva die Redeabsicht, also das Anliegen, während die Tadelrede selbst die Textsorte/Gattung bezeichnet. Die Tadelrede muss dementsprechend nicht erörternd oder argumentierend verfahren. Das ist deswegen nicht erforderlich, weil das Verhältnis zwischen Redner, Rede und Zuhörer stabil ist und in der Regel durch Gegner-, wenn nicht gar Feindschaft gekennzeichnet ist. Der Tadelnde versucht dabei, als Autorität zu operieren, wenn er nicht ohnehin als eine solche akzeptiert ist. Der Tadelnde muss also nicht erst erklären, warum sein Tadel gerechtfertigt ist. Berücksichtigt man das o.g. polemische Kommunikationsmodell von Stenzel, kennt die Tadelrede potentiell zwei Adressaten: den Getadelten selbst sowie die eigentliche polemische Instanz. Die Publizistik des 16. Jahrhunderts, die als Tadelrede begriffen werden kann,20 zielt in erster Linie auf die polemische Instanz. Diese Tadelreden werden primär geschrieben, um Zustimmung und Akzeptanz der polemischen Instanz zu erlangen, wobei gerade die Polarisierung zwischen Publikum und dem Getadelten das Ziel der Tadelrede sein dürfte. Wie bereits angedeutet, fehlen aber in der antiken Rhetorik die konkreten exempla für die Tadelrede. Deswegen dürften sich in Spätmittelalter und Früher Neuzeit keine konkreten Muster für die publizistische Tadelrede ausgebildet haben. Formale Diversität hat sich also bereits potentiell dadurch ergeben, dass sie allein als Negativfolie der Lobrede betrachtet wurde. Dabei überzeugte die Tadelrede nur unter der Voraussetzung der Autorität des Redners, was jedoch in vielen publizistischen Konstellationen der „reformatorischen Öffentlichkeit“21 nicht gegeben war.

Begriffsgeschichtlich ist von Bedeutung, dass im Deutschen der lateinische Begriff vituperatio im Wortschatz kein konkretes Pendant hat, weil hier ‚Tadel‘ meist nicht die polemische Schärfe wie im Lateinischen eigen ist. Das Deutsche hält stattdessen mehrere Begriffe bereit, mit denen der Gegner unterschiedlich scharf angegangen werden kann: vom Tadel bis zur Schmähung. Deswegen finden sich im 16. Jahrhundert auch keine Schriften, die schon im Titel explizit eine Person oder einen Sachverhalt ‚tadelnd‘ angreifen. Das Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16) kennt zwar einige wenige vituperationes und nennt Gegenschriften, die dem polemischen Objekt vorwerfen, das polemische Subjekt geschmäht zu haben. Angesichts dieses Vorwurfs entwickelt sich zudem ein Diskurs um Schmähungen und die daraus resultierenden rechtlichen Verfahren und Sanktionen. Konkrete Selbstbeschreibungen der eigenen Schrift als Tadel- oder Schmährede finden sich hingegen nicht. Schmähungen verfasst immer nur der Gegner, nie das polemische Subjekt. Ursache dafür dürfte der Umstand sein, dass eine solche Selbstbezeichnung im Widerspruch zum rhetorischen Autorprinzip des vir bonus gestanden hätte.22 Ergänzt sei, dass durch den Aufstieg der epideiktischen Rede in der höfisch-politischen Rede sowie der Geschichtsschreibung des Mittelalters dem genus demonstrativum im Vergleich zur Antike insgesamt mehr Aufmerksamkeit zukam. Da primär das Herrscherlob gepflegt wurde, profitierte die Tadelrede vom Aufstieg der epideiktischen Rede jedoch nur bedingt. Zwar galt sie weiterhin als Pendant zur Lobrede, konkretisiert wurde sie aber selten.

These der vorliegenden Überlegungen ist, dass die Tadelrede zu Beginn der Neuzeit einen Aufschwung erfährt, der der Intensivierung kritischer Sprechweisen seit dem Humanismus geschuldet sein dürfte. Zeigen ließe sich das beispielsweise an Erasmus’ De conscribendis epistolis. Sein konkrete Kommunikationssituationen berücksichtigender Briefsteller kennt zwei Briefformen, die auf Techniken der epideiktischen Rede zurückgreifen: das Empfehlungsschreiben und den Mahnbrief, wobei letzterer mit und ohne Tadel formuliert werden kann. Wesentlich für den Mahnbrief ist, dass er nun wieder stärker das didaktisierende Moment des Tadels aktiviert. De conscribendis epistolis geht nicht mehr von einer strikten Gegenüberstellung von Lob und Tadel aus. Doch auch wenn die Tadelrede in der Praxis zunehmend flexibel eingesetzt werden kann, ihren angestammten Ort in der Rhetoriktheorie büßt sie dadurch in der Frühen Neuzeit nicht ein – und ebenso nicht ihren problematischen Status im höfisch-politischen Kontext. So erklärt noch der Chor in Schillers Braut von Messina Don Manuel: „Verzeih, o Herr, die freie Tadelrede!“ (V. 790).

Diese Hinweise erklären den erwähnten Umstand, dass sich im VD 16 einerseits keine Schriften finden, die sich selbst als ‚Tadelbuch‘, ‚Schmähschrift‘ oder ‚Famos-Libel‘ bezeichnen, andererseits gegnerischen Schriften regelmäßig vorgeworfen wird, sie seien Tadelreden (bzw. ‚Schmäh- oder Famosschriften‘). Durch die Verankerung der Rhetorik in der akademischen Ausbildung sind die meisten Autoren des 16. Jahrhunderts mit der ‚Schattenseite‘ des genus demonstrativum vertraut. Seine didaktischen Vorteile werden wertgeschätzt. Nur entwickelt sich durch die Konfessionalisierung rasch eine kommunikative Situation, in der versucht wird, die polemische Instanz durch Distanzierung, Stigmatisierung oder Diffamierung des polemischen Objekts für die eigene Position einzunehmen.23 Das polemische Subjekt sucht mittels der Tadelrede den Schulterschluss mit der polemischen Instanz. Um sich selbst dabei nicht in Misskredit zu bringen, vermeidet das polemische Subjekt Selbstbezeichnungen, die es als ‚schmähend‘ oder ‚ehrverletzend‘ ausweisen können. Stattdessen werden Gattungsbegriffe bevorzugt, die den Charakter der Tadelrede tendenziell verbergen. So greifen bspw. Texte, die als ‚Abconterfeiung‘ (auch ‚Abcontrafehung‘/‚Abcontrafeiung‘) bezeichnet werden (und also reklamieren, lediglich Sachverhalte wiederzugeben oder Personen sachlich zu charakterisieren), vielfach auf Muster des genus demonstrativum zurück. Im Hinblick auf die einleitend skizzierte Diskrepanz zwischen Titelanspruch und invektivem Anliegen gilt es zunächst festzuhalten, dass viele invektive Schriften des 16. Jahrhunderts zwar angesichts ihrer Argumentationsweisen dem genus demonstrativum zuzuordnen sind, dass sie aber auf dem Titelblatt einen anderen rhetorischen Anspruch formulieren.

Mit diesem Hinweis ist zugleich die Überleitung zu den beiden anderen rhetorischen genera formuliert, denn die Titelblätter invektiver Schriften rufen vielfach Gattungssignale auf, die nahelegen, dass die vorliegende Schrift eher dem genus deliberativum oder dem genus iudiciale zuzuordnen ist.

2.2a Zumindest dem Titel nach dürften die meisten invektiven Textsorten des 16. Jahrhunderts dem genus deliberativum zuzurechnen zu sein. Zwar werden ihm von der Antike bis heute in erster Linie politische Beratungsreden (etwa Parlamentsreden) zugeordnet. Vergegenwärtigt man sich aber, dass unter das genus deliberativum nicht nur Beratungen, sondern auch fragende Erörterungen und insbesondere Warnungen fallen, wird rasch deutlich, welche Dominanz es auf den Titelblättern des 16. Jahrhunderts hat. Letztlich sind alle Texte, die die Notwendigkeit einer Entscheidung skizzieren und diese zumindest vordergründig der polemischen Instanz überantworten, der rhetorischen Theorie gemäß dem genus deliberativum zuzuordnen. So werden ab 1520 regelmäßig ‚Warnungen‘ publiziert, die zwar ein konkretes polemisches Objekt nennen, die Schrift auch oft daran adressieren. Gleichwohl sind sie vor allem darum bemüht, die polemische Instanz von den eigenen Argumenten zu überzeugen und zu versuchen, das polemische Objekt auszugrenzen.24 Argumentativ zeichnet sich in den ‚Warnungen‘ also früh die konfessionelle Spaltung ab, selbst wenn das Gegenteil erklärt wird. ‚Warnungen‘ werden konfessionsübergreifend ausgesprochen, sie können in Versen formuliert, aber auch erkennbar der Disputation verpflichtet sein. Wie wenig sich diese Textsorte auf die Beratung beschränkt, mag ein frühes Beispiel aus der antijesuitischen Publizistik veranschaulichen.25 Der Stuttgarter Hofprediger Lucas Osiander hatte früh ein kritisches Auge auf die Jesuiten geworfen und veröffentlichte 1568 eine erste Warnung gegen den jungen Orden. Einleitend hält er fest:

DIeweil durch Gottes Gnad die Lehr deß H. Euangelij in der Christenheit ettliche Jar widerumb rein vnd vnuerfelscht gepredigt/ […]/ Hat der laidig Sathan wol gesehen/ daß sollichs zu vndergang vnd verstörung seines Reichs gerhaten wölle. […] Zu disem seinem verderblichen fürnemen hat er ein newen Orden vor ettliche jaren gestifftet/ […]/ die sich Jesuiter/ oder auß der gesellschafft Jesu/ fälschlich nennen.26

Dieses Beispiel führt vor, warum derart viele Streitschriften des 16. Jahrhunderts dem Titel nach dem genus deliberativum zugeordnet werden können: Diese Redegattung ist für verschiedene Redeanlässe geeignet, so dass sie deutlich weniger als die Tadelrede formal festgelegt ist und dementsprechend eine große Flexibilität bietet. Vergegenwärtigt man sich hingegen Osianders Argumentationsweise, zeigt sich, dass er einen (aus seiner Sicht) sicheren und unzweifelhaften Redegegenstand (dass der junge Jesuitenorden vom Satan gegründet sei) vorführt. Seine Warnung kennzeichnet also die Diskrepanz zwischen deliberativem Anspruch und demonstrativer Argumentation.

Diese Diskrepanz wird insbesondere deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im 16. Jahrhundert vielfach heute kaum mehr bekannte Textsorten erprobt wurden, die entschieden ihren Beratungsanspruch artikulieren, indem sie das Moment der ‚Entscheidung‘ (decisio)27 betonen und gleichwohl erkennbar ein invektives Anliegen verfolgen. Konkret zu denken ist an Schriften, die Entscheidungsformeln auf dem Titelblatt artikulieren und erkennbar lateinisch-akademische Textsorten zum Vorbild haben – etwa die quaestio, die neben juristischen theologische bzw. philosophische Fragen erörtern kann, aber auch andere rhetorische Textsorten, die die Klärung bestimmter Fragen und Probleme versprechen. In diesen Textsorten müssen nicht notwendig politisch-juristische Fragen berührt werden. Es können ebenso solche sein, die religiöse Entscheidungen betreffen. Textsortengeschichtlich bemerkenswert ist dabei, dass sich weder für decisio noch für quaestio eindeutige deutsche Pendants durchgesetzt haben. Das muss betont werden, weil im 16. Jahrhundert die meisten deutschen Textsorten erkennbar von lateinischen, akademischen Textsorten abhängig sind. Im Unterschied dazu hat sich für Textsorten, die dem Rezipienten einen Ratschlag für eine zukünftige Entscheidung versprechen, kein synonymer Begriff etabliert. Gleichwohl gibt es eine Textsorte, die als ‚Entscheidungstraktat‘ bezeichnet werden kann und die bereits im Titel die Entscheidungssuche artikuliert. Diese Entscheidungstraktate scheinen keine direkten lateinischen Vorbilder zu haben. Sie weisen eine recht stabile Titelstruktur auf, indem ein ‚Bericht‘ angekündigt wird, der eine bestimmte, ebenfalls im Titel genannte Frage abschließend zu erörtern verspricht. Das VD 16 nennt erstmals im Jahr 1525 zwei Bücher, die im Titel einen ‚Bericht, ob‘ versprechen. Diese ‚Berichte, ob‘ sind Ende des Jahrhunderts derart weit entwickelt, dass es im letzten Jahrzehnt allein für die Fügung ‚Bericht, ob‘ 27 Treffer gibt. Mehrheitlich behandeln die Entscheidungstraktate theologische, konkret meist konfessionspolemische Fragen. Sie changieren zwischen beratendem und invektivem Anliegen. Wie sehr das gilt, vergegenwärtigt, dass die beste Rückübersetzung von ‚Bericht‘ ins Lateinische relatio ist. Eben unter diesem Titel verbreitete man ab Anfang des 17. Jahrhunderts immer häufiger Nachrichten und eben nicht begründete Entscheidungen.

Veranschaulichen lässt sich diese Ambivalenz mittels eines Buchs von Julius (von) Pflug. Er war der letzte Bischof von Naumburg und eine anerkannte Kapazität der alten Kirche, Teilnehmer an verschiedenen Religionsgesprächen und dem Trienter Konzil. Er starb 1564 in Zeitz, posthum erschien in Köln seine Schrift Gründtlicher vnd Christlicher Bericht/ Ob einer mit gutem gewissen die alte Catholische Religion verlassen/ vnd sich der Augspurgischen Confeßion anhangen möge. Dieser Titel ist typisch für die Entscheidungstraktate. Wie von Pflug argumentiert, zeigt eine Art Zwischenbilanz, die er nach rund 50 Seiten formuliert:

Auß diesem kurtzen Bericht/ hat mennigklich zu ermessen/ das die Augspurgische Confession/ nicht allein vnnöthig/ sondern auch sorglich vnnd nachtheilig/ weil sie mit so vilen groben irrsaln vnnd Gottes Wort/ vnnd der alten waren Christlichen Religion nicht allein vngemeß/ sondern auch widerwertig.28

Pflug nimmt das Titelwort ‚Bericht‘ auf. Dabei zeigt sich, dass diese Textsortenbezeichnung eine stilistische Dimension hat. Die Polemik gegen die Confessio Augustana ist vergleichsweise moderat formuliert. Dieser Eindruck korrespondiert damit, dass ein ‚Bericht‘ noch in der Frühaufklärung eine Textsorte ist, die sich mit Wertungen zurückhält und Entscheidungen weniger selbst formuliert, als dass sie sie vorbereitet.29 Zugleich veranschaulicht der Hinweis auf die Frühaufklärung den invektiven Kern der Entscheidungsrhetorik Pflugs. Im Unterschied zu juristisch tendenziell neutralen, letztlich zumindest dem Anspruch nach begutachtenden ‚Berichten‘ der Frühaufklärung urteilt in Pflugs Bericht der ‚Berichtende‘, also der Verfasser selbst. Pflug überantwortet dem Rezipienten zwar die Entscheidung für die Handlung, ob dieser seinem Urteil folgt. Die Richtigkeit von Pflugs Entscheidung steht jedoch außer Frage. Dieser Umstand korrespondiert damit, dass sich mit der allmählichen Herausbildung von Schriften, die sich mittels ihres Titels primär dazu verpflichten, die Rezipienten zu informieren – eben als ‚Relationen‘ oder auch ‚Neue Zeytungen‘ –, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln scheint, dass gerade das Versprechen, den Rezipienten die Entscheidungsfindung zu überantworten, besonders viel invektives Potential in sich birgt. Die Zeitgenossen haben das vielfach wahrgenommen, so dass gerade auch ‚Neue Zeytungen‘ trotz ihres im Titel reklamierten informierenden Anspruchs Streitigkeiten zu provozieren vermochten.

So veröffentlichte der Jesuit Georg Scherer 1583 die Gewisse und wahrhaffte Newe Zeytung auß Constantinopel.30 Ihr Hintergrund ist der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in unregelmäßigen Abständen gepflegte Briefwechsel von Tübinger Theologen mit der griechischen Kirche.31 1573 übersandte der Tübinger Kanzler Jacob Andreae dem Patriarchen in Konstantinopel die Confessio Augustana und bat ihn, sie zu beurteilen. Im sich daran anschließenden Briefwechsel traten rasch grundlegende dogmatische Differenzen zutage. 1581 lehnte der Patriarch jeden weiteren Austausch über dogmatische Fragen ab. Der Briefwechsel wurde von katholischer Seite aufmerksam verfolgt. 1582 wurde eine lateinische Übersetzung der Beurteilung der Augsburger Konfession durch den Patriarchen, die Censura Orientalis Ecclesiae, publiziert. Sie bildet die Basis für die Newe Zeytung. Scherers Schrift hat also eindeutig einen informativen Kern. Zugleich aber war die Schrift potentiell invektiv, weil sie Informationen popularisierte, die die Lutheraner dogmatisch angriffen – und zwar von einer Seite, die nicht in die deutschen Religionsstreitigkeiten involviert war und zu denen die Tübinger in der Erwartung Kontakt gesucht hatten, Verbündete gegen die römische Kirche zu finden. Scherers Newe Zeytung bildete den Auftakt für einen Streitschriftenwechsel zwischen Wien und Tübingen. Er war zugleich der Auftakt für eine ganze Reihe von Kontroversen zwischen Scherer und den Theologen in Stuttgart und Tübingen. Im Hinblick auf die von Barner angenommene ‚Tiefenstruktur‘ von Streitigkeiten wäre ergänzend zu überlegen, ob der Streit um Scherers Newe Zeytung nicht zugleich eine Reaktion auf Osianders erwähnte Warnung vor den Jesuiten war. Vor diesem Hintergrund wäre wiederum der deliberative Anspruch der Newen Zeytung eindeutig als Streittechnik zu beurteilen: Nachdem Osiander mit der Warnung eine Schrift vorgelegt hat, die im Titel entschieden einen deliberativen Anspruch artikuliert, dann aber klar erkennbar eine Tadelrede gegen den Jesuitenorden formuliert, legt der Jesuit zu einem anderen Gegenstand seinerseits eine Schrift mit deliberativem Anspruch vor, die sich freilich konkreter Anschuldigungen weitgehend enthält, um nun mittels Selbstinszenierung als vir bonus und zugleich mittels der potentiell invektiven Äußerungen des Patriarchen die württembergischen Theologen (die federführend die Konkordienformel erstellt hatten) anzugreifen. Diese Deutung kann derart begründet werden: Mittels des Titelblatts artikulieren Osiander (in der Warnung) wie Scherer (in der Newen Zeytung) einen deliberativen Anspruch. Osiander legt dann aber eine demonstrative Schrift vor, während Scherer weiterhin in erster Linie Sachargumente liefert und den deliberativen Anspruch im Text aufrechterhält. Das invektive Anliegen Osianders folgt aus der Diskrepanz zwischen Titelanspruch und Textrealisation. Das invektive Anliegen Scherers ergibt sich an diesem Punkt angesichts der Harmonie zwischen Titelanspruch und Textrealisation hingegen nicht, sondern erst bei Berücksichtigung des Streitkontextes und des Umstands, dass die Newe Zeytung Teil eines komplexeren Streitzusammenhangs ist.

2.2b Wie eingangs dargestellt, ist ein wichtiger Unterschied zwischen dem genus deliberativum und dem genus iudiciale die zeitliche Perspektive – konkret die Frage, ob der Rezipient mittels der Schrift im Hinblick auf seine zukünftigen Handlungen beeinflusst werden oder sich rückblickend über einen abgeschlossenen Sachverhalt ein Urteil bilden soll. Auch dem genus iudicale sind zahlreiche Streitschriften des 16. Jahrhunderts dem Titelblatt nach verpflichtet. Dieses dritte genus ist gut zu greifen, weil auf seinen Titelblättern besonders häufig klare Schlagworte zu finden sind, die den Text als juristische Textsorte ausweisen. Konkret zu denken ist etwa an die Verteidigung/defensio bzw. die apologia, an die Rettung/vindicatio oder auch an Schriften, die Urteile versprechen (selbstverständlich vermeintlich ‚unpartheyischer‘ Natur).32

Das Beispiel, an dem das veranschaulicht werden soll, ist die 1573 veröffentlichte Schrift PRODROMVS oder Vortrab/ Der rettung deß büchleins von rechter/ ordentlicher wahl/ vnd beruff/ der Catholischen/ vnd Euangelischen Priester vnd Prediger.33 Verfasser ist einer der ersten Konvertiten zur römischen Kirche, Caspar Franck, der später Hofprediger in München wurde. Im Untertitel wird der judikale Anspruch der Schrift weiter ausgeführt: Darinnen durch vnpartheysche Richter/ erkleret/ vnd gründlich dargethan wirdt/ wie felschlich/ vnd betrieglich Georg Nigrinus Lutherischer Predicant/ vnnd andere seine Aidgenossen/ sich der lehr/ glauben vnd Confession der vralten Apostolischen lehrer rhümen vnd gebrauchen/ jedermann gantz lustig zu lesen/ vnd zubedencken. Erschienen ist die Streitschrift 1573 in Ingolstadt. Es ist, wie der Titel anzeigt, die Erwiderung auf ein Buch des Gießener Lutheraners Georg Nigrinus, der im selben Jahr eine Reaktion auf eine andere Schrift Francks aus dem Jahr 1571 vorgelegt hatte. Franck ‚rettet‘ also seinen eigenen Text vor den aus seiner Sicht ‚falschen‘ Anschuldigungen von Nigrinus. Schon der Titel führt einen Umstand vor, der für das Schrifttum des 16. Jahrhunderts begrifflich typisch ist: Das rückblickende Urteil wird nicht zwingend den Rezipienten überantwortet, richtende Instanzen können Dritte sein, die vom polemischen Subjekt angeführt werden (also juristisch gesprochen: Zeugen, rhetorisch formuliert: Argumente). Die an sich in der juristischen Rede substanzielle Unterscheidung zwischen Argumentation und Urteilsbildung wird also unterlaufen, indem einer Instanz, die an sich lediglich die Urteilsbildung unterstützen soll, ‚Unparteilichkeit‘ und ‚Urteilsvermögen‘ vom polemischen Subjekt attestiert wird. Gleichzeitig wahrt Franck die Zeitperspektive des genus iudicale, indem er mit seiner Schrift ein abschließendes Urteil über eine andere Schrift beansprucht.

Wie wenig aber letztlich diese Selbstbeschreibung durch das Titelblatt eine Selbstverpflichtung ist, führt ergänzend der Blick auf die beiden primären Titel-Begriffe Prodromus und Vortrab vor. Ein solcher lateinisch-deutscher Doppeltitel ist bei Streitschriften des 16. Jahrhunderts häufig anzutreffen. Er ist in diesem Beispiel allerdings bemerkenswert, weil die beiden Wörter nicht im engeren Sinne synonym sind. Geht man vom ansonsten im Titel artikulierten judikalen Anspruch aus, irritieren beide Begriffe zusätzlich. Ein prodromus ist im klassischen Latein meist ein Vorbote, also eine Instanz, die sich tendenziell deliberativ äußern wird. Ein Vortrab kann zwar auch diesen berichtenden Charakter haben. In erster Linie meint der Begriff aber eine militärische Vorhut, eine Art Stoßtrupp. Durch diesen Begriff wird also schon im Titel das invektive Anliegen angedeutet (und tendenziell das genus demonstrativum aufgerufen).

Berücksichtigt man bei dieser Analyse des Titelblatts zudem, dass Francks Buch eines der ersten ist, das sich selbst explizit als „streitschrifft“34 bezeichnet, wird deutlich, welche Funktion der explizite oder auch implizite Rekurs auf die rhetorischen Genera in den invektiven Texten des 16. Jahrhunderts haben: Sie formulieren einen Rederahmen, der Bezugsgröße ist. Doch ist dieser nicht normativ. Vielmehr ermöglicht er ähnlich wie dann in der Poetik des 17. Jahrhunderts das, was Barner in Anlehnung an die rhetorische licentia „Spielraum“ genannt hat.35 Dieser Spielraum ist der ‚Raum‘, der zunächst aufgerufen wird, um einen Anspruch zu formulieren, der je nach invektivem Anliegen ausgestaltet wird. Zwei Faktoren sind dabei besonders zu berücksichtigen: der Verfasser (soweit bekannt) und neben dem konkreten Redeanlass der Redekontext (soweit bekannt). Wie bereits angedeutet, verfolgen die meisten Polemiker nicht nur konkrete Streitstrategien, um den Gegner anzugreifen. Meist ebenso wichtig sind Strategien, die der polemischen Instanz einen möglichst umfangreichen guten Eindruck vom Polemiker selbst, also vom polemischen Subjekt vermitteln. Ciceros vir bonus gibt hier – freilich entschieden christianisiert – das Muster ab. Ergänzend sind zahlreiche Streitschriften Resultat einer konkreten Redesituation, deren kommunikative Bedingungen die Streitschrift zudem prägen können. Das deutet sich schon in dem Umstand an, dass sich eben in den Jahren des 16. Jahrhunderts, in denen sich das Wort ‚Streitschrift‘ immer weiter durchsetzt, auch die ersten ‚Streitpredigten‘ publiziert wurden.36

Die vorliegenden Überlegungen führen damit zudem vor, dass eine systematische Typologie invektiver Textsorten für das 16. Jahrhundert kaum entwickelt werden kann. Das ist dem Umstand geschuldet, dass Streitschriften nicht nur Ausdruck eines Streits mit einer Oberflächen- und einer Tiefenstruktur sind (wie Barner bereits für Literaturstreite erklärt hat), sondern dass ihnen zudem eine mehrfache, durchaus widersprüchliche Aussagestruktur eigen ist. Dabei gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass die durch den Titel artikulierte Aussage keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Intention des Verfassers oder die Funktion des Textes erlaubt, sondern in erster Linie dazu genutzt werden kann, um die potentielle Rezeption zu beschreiben. Die im Titel auf der Grundlage der rhetorischen genera-Lehre vielfach zum Ausdruck gebrachte Wirkungsabsicht konnte durch den Haupttext erfüllt werden oder in einem Spannungsverhältnis zu ihm stehen. Die Analyse dieses Verhältnisses erlaubt damit die Darstellung des invektiven Anliegens einer Streitschrift.

Literaturverzeichnis

Quellen

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Fußnoten

1 Vgl. dazu zuletzt u.a. Sablotny (2019) Metalegende; Münkler (2015) Legende/Lügende; Bremer (2011) Grenzen der aemulatio. 2 Vgl. dazu exemplarisch Bremer (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 225–284. 3 Vgl. Frymire (2010) Primacy of the Postils; Werz (2020) Predigtmodi. 4 Vgl. Bremer (2020) Emsers und Luthers Streit. 5 Allenfalls ähnlich weit verbreitet scheint das Wort ‚Polemik‘. Da es bekanntlich aber ein Doppelbegriff ist, der sowohl die Textsorte als auch den in ihr dominierenden Stil bezeichnen kann, wird ‚Polemik‘ in den folgenden Überlegungen nicht berücksichtigt. Die Ausführungen in diesem Kapitel 1 wiederholen zum Teil Überlegungen, die der Verf. bereits an anderer Stelle formuliert hat; vgl. Bremer (2009) Streitschrift. 6 Vgl. Barner (2000) Was sind Literaturstreite. 7 Die Frage, wann ein Initialtext invektiv wirkt und wann nicht, kann nicht vorab mit Sicherheit beantwortet werden, weil „Effekte des Invektiven als kontingent angesehen werden müssen und sich der Planbarkeit entziehen“: Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. 2017, S. 15. 8 Gloning (1999) Pragmatic Form of Religious Controversies. Darauf aufbauend: Glüer (2001) Moves and Strategies. 9 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. 2017, bes. 3.2. 10 Stenzel (1986) Rhetorischer Manichäismus. 11 Vgl. Goffman (1967) Stigma. 12 Vgl. Barner (2000) Was sind Literaturstreite. 13 Vgl. Braungart (1992) Zur Rhetorik der Polemik. 14 Vgl. Lundström (2015) Polemik in den Schriften Melchior Hoffmanns. 15 Vgl. Barner (1970) Barockrhetorik. 16 Vgl. Steinbrink/Ueding (1994) Grundriß der Rhetorik, S. 256f. 17 Vgl. Steinbrink/Ueding (1994) Grundriß der Rhetorik, S. 256. 18 Die Ausführungen in diesem Kapitel 2.1. wiederholen z.T. Überlegungen, die der Verf. an anderer Stelle formuliert hat; vgl. Bremer (2009) Tadelrede. 19 Vgl. grundlegend Neumann (1998) Invektive. 20 Nicht zu vergessen ist, dass den theologischen Autoren des 16. Jahrhunderts und auch anderen gelehrten Schriftstellern neben den antiken Hinweisen zur Tadelrede ein zweiter, regelrechter exempla-Schatz für die Tadelrede in Gestalt der Bibel zur Verfügung stand. 21 Wohlfeil (1984) Reformatorische Öffentlichkeit. 22 Vgl. Robling (2009) Vir bonus. 23 Vgl. Bremer (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 213–221. 24 Vgl. Bremer (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 134–140. 25 Vgl. Paintner (2011) Des Papsts neue Creatur.; vgl. ergänzend auch Niemetz (2008) Antijesuitische Bildpublizistik. 26 Osiander (1568) Warnung, S. 1f. 27 Die folgenden Ausführungen in diesem Kapitel wiederholen z.T. Überlegungen, die der Verf. an anderer Stelle publiziert; vgl. Bremer (2021) Entscheidungstraktate. Vgl. außerdem Schicker (1994) Entscheidung. 28 Pflug (1571) Gründtlicher vnd Christlicher Bericht. 29 So versteht Zedler rund 150 Jahre später unter einem ‚Bericht‘ Nachrichten, die „die wahre Beschaffenheit einer Sache an den Landes=Herrn oder das höhere Gericht berichten.“ Zedler (1733) Bericht, S. 671. 30 Scherer (1583) Newe Zeytung; die folgenden Hinweise zu diesem Text bauen auf den Überlegungen des Verfassers in (2005) Religionsstreitigkeiten, S. 45–48 auf. 31 Grundlegend Wendebourg (1986) Reformation und Orthodoxie. 32 Vgl. dazu exemplarisch Bremer (2004) Umorientierung in der Kirchengeschichtsschreibung; Stader/Traninger (2016) Unparteilichkeit. 33 Frank (1573) PRODROMVS oder Vortrab. 34 Frank (1573) PRODROMVS oder Vortrab, fol. 56r. 35 Barner (2000) Spielräume. 36 Vgl. etwa Eisengrein (1575) Streittpredig.