Maltzahn, Katrin von/Schieren, Mona (Hg.) (2019): Re:Bunker. Erinnerungskulturen, Analogien, Technoide Mentalitäten. Berlin: Argobooks,  253 S., ISBN 978-3-942700-94-8, 28,00 €. Eine Rezension von Simon Graf.

Die Möglichkeiten und Grenzen von Kunst zu, in und mit Bunkern ist der Ausgangspunkt des von der Künstlerin Katrin von Maltzahn und der Kunsthistorikerin Mona Schieren herausgegebenen Sammelbandes Re:Bunker. Ihm geht eine Kooperation zwischen der Hochschule für Künste Bremen (HfK) und der École Européenne Supérieure d‘Art de Bretagne (EESAB) in Brest voraus. In ihren Lehrveranstaltungen setzten die Kunststudierenden sich jeweils vor Ort mit den Bunkern des Atlantikwalls aus der Zeit des Nationalsozialismus auseinander.1 In Bremen fand die Beschäftigung mit der Gedenkstätte ‚Denkort Bunker Valentin‘ statt. Es handelt sich dabei um einen ehemaligen Bunker, gebaut für die Produktion von U-Booten, der dank der Niederlage Deutschlands nie in Betrieb genommen werden konnte. In den Lehrveranstaltungen entwickelten die Studierenden ihre eigenen künstlerischen Werke, die am Schluss gemeinsam in der Galerie Les Abords in Brest sowie in der Gedenkstätte in Bremen ausgestellt wurden.

Ausgehend von dieser Beschäftigung in den Lehrveranstaltungen und den daraus entstandenen Ausstellungen konzipierten die Herausgeberinnen einen multiperspektivischen Sammelband zum Gegenstand. Sie ergänzten die studentischen Arbeiten mit Beiträgen aus disziplinär unterschiedlichen Feldern wie den Kultur- und Kunstwissenschaften, der Geschichte, Philosophie, Kunst, Architektur und Biologie. Wie in den meisten jüngeren kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Bunkern bildet Paul Virilios Bunkerarchäologie (2011/1975) und dessen erkenntnisleitende Frage nach dem Hybriden und Ambivalenten von Bunkern eine zentrale Referenz. Und daher changiert der Band genauso wie einzelne seiner künstlerischen und wissenschaftlich-essayistischen Beiträge zwischen einer Faszination am und Schrecken vor dem Monumentalen von Bunkern.

In diesem Balanceakt verbinden die Herausgeberinnen künstlerische und wissenschaftliche Recherchen zur Lokalgeschichte von Bunkern mit einem Zugang, der den Bunker eher als Metapher und Assoziationsraum nimmt, um sich mit einer Bandbreite der sich damit eröffnenden Phänomene wie z.B. Grenzziehungen, Überwachungs- und Kontrolltechnologien, das Verhältnis von Natur – Kultur oder die Ablagerung und Speicherung von Erinnerung zu beschäftigen. Damit setzen sie einen produktiven Dialog in Gang zwischen verschiedenen Disziplinen, Perspektiven und Repräsentationsformen. Dieser Ansatz wird auch in der Titelgebung Re:Bunker (Regarding: Bunker) betont: So erläutern die Herausgeberinnen, dass das ‚Re:‘ einerseits auf den ‚Betreff‘ in der brieflichen Amtssprache des bürokratischen Apparats der Nationalsozialisten und National-sozialistinnen referenziere. Eine bürokratische Formalie, auf welche die Kunststudierenden während ihren Archivrecherchen in der Gedenkstätte gestoßen seien. Andererseits verweise das ‚Re:‘ als automatisierter Betreff in einer E-Mail-Korrespondenz auch auf den Produktionsprozess des Buches und die Pluralität der involvierten Stimmen. Dieses Spiel der Bezüge und Referenzen wird gemäß den Herausgeberinnen zudem auch in der Typografie und im Layout visuell aufgegriffen. Das Erscheinungsbild des Buches stelle dadurch einen eigenen – wenn auch impliziten – Buchteil dar: Die Kapitelnummerierungen nehmen die Gebäudebezeichnungen der Bunker auf, die sie bei ihren Recherchen vor Ort vorgefunden hätten. Und die Bilder und Fußnoten wurden blockartig in die Textspalte eingebunden und angeordnet, sodass das ein visuelles Spannungsverhältnis zwischen Text, Bildern und Fußnoten entstehe. Das gelungene Layout ergibt sich m.E. genau in diesem Zusammenspiel: Während der Blocksatz den Lesefluss des Haupttextes reguliert und eine gewisse Statik evoziert, sind die Bilder und Fußnoten so gesetzt, dass sie den Haupttext manchmal illustrieren und dann wiederum unterlaufen. So setzen sich bspw. die Bilder über die Seiten hinweg zu eigenständigen Bildreihen zusammen und erzählen quer zum Text verlaufend ihre eigene(n) Geschichte(n). Damit stören sie eine rein funktionelle Leselogik und regen zum Innehalten wie Weiterblättern an. Oder anders gesagt: Das Medium Buch, das oft selbst wie ein monolithischer Block erscheint, wird wie der ‚Monolith Bunker‘ als Gegenstand während der Lektüre destabilisiert: So stellen sich beim Lesen quer zur chronologischen Ordnung der zwischen den Buchdeckel gebunkerten Beiträgen immer wieder Verbindungen und Assoziationen her. Der mit jedem Publikationsende kanalisierte textliche Fluss bekommt dadurch seinen wilden Verlauf während des Produktionsprozesses ein Stück weit zurück, auf den der Titel ‚Re:‘ u.a. verweisen möchte.

Inhaltlich gliedert sich der Sammelband in vier Teile, denen die einzelnen Beiträge zugeordnet wurden: Erinnerungskulturen, Analogien, künstlerische Positionen und Technoide Mentalitäten. Im Mittelpunkt des ersten Teils Erinnerungskulturen stehen die künstlerischen Werke der Studierenden und die Dokumentationen der beiden Ausstellungen. Diese Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Bunker‘ knüpft an die erwähnte ambivalente Erfahrung an: Auf der einen Seite die Faszination an seiner Monumentalität, seiner rohen Architektur, dem Brutalismus (béton brut), dem Bunker als unterirdischen Raum für Imaginationen und auf der anderen Seite die Repräsentation des Bunkers als Symbol des ‚totalen Krieges‘, der deutschen Besatzung an der Atlantikküste, der Zwangsarbeit und Haft in Konzentrationslagern. Gerahmt werden diese künstlerischen Arbeiten durch einen einführenden Text zum Denkort Bunker Valentin von der wissenschaftlichen Leiterin der Gedenkstätte Christel Trouvé und einer abschließenden Reflexion der Lehrveranstaltung und der Ausstellungen durch die beiden Künstlerinnen und Dozentinnen der EESAB Magali Lefebvre und Sylvie Ungauer.

Lefebvre und Ungauer betonen eine doppelte Herausforderung, der sie in der Lehrveranstaltung begegnet seien. Einmal spiele sich, so schreiben sie, die künstlerische Forschung auf einem Grat zwischen exaktem Forschen, einer Erinnerungspflicht und freier Interpretation und Aneignung der Bauten, Orte und der Geschichte durch die Künstler_innen ab. Zum anderen mussten die künstlerischen Arbeiten der Studierenden wie auch die Ausstellungen je für den White Cube in Brest und die Gedenkstätte in Bremen neu konzipiert und erstellt werden. Dadurch sei ein polyphoner Dialog zwischen den rund zwanzig Arbeiten der Studierenden entstanden. Die geführten Diskussionen, Konflikte und entstandenen Synergien zwischen den Kunststudierenden, Kunstklassen, Kuratorinnen und Dozentinnen rund um die Wirkung und Bedeutung der beiden Ausstellungsorte für die Neukonzeption der Werke erfahren die Leser_innen leider nur wenig. Indem die beiden Ausstellungen im Sammelband jedoch genau dokumentiert wurden, lassen sich die geführten Auseinandersetzungen zumindestens teilweise erahnen.

Die vier Beiträge im zweiten Teil Analogien problematisieren die Vorstellung des Bunkers als monolithischen Block, indem sie ihn in unterschiedliche Beziehungen zu bspw. Landschaft, Kirchen- oder Bunkerarchitektur setzen. Die Kunsthistorikerin Viola Vahrson diskutiert den gemeinsamen architektonischen Entwurf der Kirche Sainte Bernadette du Banlay des Architekten Claude Parent und Philosophen Paul Virilio. Vahrson interessiert sich in ihrem Beitrag dafür, wie sich das Verhältnis vom profanem zum sakralen Raum verändert, wenn die Kriegsarchitektur des Bunkers auf eine Kirche übertragen wird. Parent und Virilio hegten eine gewisse Faszination für die Form der Bunker an der Atlantikküste, die sie in ihren Entwurf einfließen ließen. So beschreibt Virilio (2008: 19) wie ihm beim Anblick der (profanen) Bunker eine Reihe von kulturellen Reminiszenzen in den Sinn kamen, die ihn an die Organisation des sakralen Raumes erinnerten: So als wären die Bunker „Tempel ohne Religion“ bzw. „Betonaltare, errichtet im Angesicht der Leere des Meereshorizonts“ (ebd.: 20). Vahrson zeigt nun, wie im Entwurf der Kirche von Parent und Virilio nicht nur formalästhetische sondern auch funktionale Eigenschaften der Bunkerarchitektur auf die Kirchenarchitektur übertragen werden. Im 1966 realisierten Bau der Kirche habe sich das herkömmliche Verhältnis von sakralem und profanem Raum in der Kirchenarchitektur verändert. Im Christentum sei das Kircheninnere als sakraler Raum konzipiert, der sich vom Alltag und dem Profanen klar unterscheide. Herkömmlich richte sich das Kircheninnere auf die Überwindung der stets drohenden irdischen Katastrophe außerhalb. Im Bunker hingegen sei die Krise und das drohende Unheil innerhalb wie außerhalb des Raums stets präsent. Indem Parent und Virilio ihren Kirchenbau an die Bunker anlehnten, sei auch die Kirche als Schutzraum nicht mehr auf die Erlösung gerichtet. Vielmehr wurde dadurch die irdische Krise in das Innere der Kirche gebracht. Auf diese Weise hätten sie die Trennung von sakralem und profanem Raum aufgehoben, so Vahrson. Die Präsenz der Krise im Kirchenraum Sainte Bernadette du Banlay werde zusätzlich mittels einer Schräge des Bodens und einer vorherrschenden Dunkelheit architektonisch verstärkt. Diese wirke sich auch auf die Raumerfahrung der Gläubigen aus, die die Kirche besuchen und so selbst in der Krise gehalten würden. Vahrson lässt hier eine leiblich-sinnliche Raumerfahrung anklingen, welche auch die Kunsthistorikerin Christina Threuter in ihrem Beitrag Bunkerwohnen interessiert. Unter dem Begriff ‚Bunkerwohnen‘ untersucht sie unterschiedliche räumlich-architektonische Schutzkonzeptionen vom faschistischen Bunker bis hin zum bürgerlichen, ‚trauten Heim‘. Der architektonische Schutz erweise sich jedoch letztlich in Bezug auf die leiblich-sinnliche Erfahrung des oder der Einzelnen als ‚Phantasma des Schutzes‘.

Im dritten Teil Künstlerische Positionen. (In) Transparenz und Materie stellt die Kunsthistorikerin Franciska Zólyom verschiedene zeitgenössische künstlerische Arbeiten vor. Die von Zólyom zusammengestellten Werke verhandeln eine Reihe von Widersprüchen und Konflikten, die im Zusammenhang mit Kunst zu, mit und in Bunkern bereits besprochen worden sind. Und so stehen die verschiedenen vorgestellten Positionen nicht nur für sich, vielmehr stellten sich bei meiner Lektüre immer wieder Bezüge zu den wissenschaftlich-essayistischen Beiträge des Bandes her, die in den anderen drei Buchteilen versammelt sind. So reflektiert bspw. Taus Makhacheva in Tightrope (2015) die fragilen Bedingungen des kulturellen Gedächtnisses bei den Awaren einer Bevölkerungsgruppe aus dem Kaukasus mit Fragen institutionalisierter ‚Erinnerungsorte‘ und der Bedeutung der Landschaft vor Ort. Und Cyprien Gaillards Arbeit Dunepark (2009) verkompliziert in seiner künstlerischen Intervention als temporäre Ausgrabung eines Bunkers am Strand von Duindorp (NL) Fragen der Aneignung und der historischen Authentizität. Die Arbeit von Dorit Margreiter Failed Model for an Enclosed System (2008) setzt sich mit dem wissenschaftlichen Experiment Biosphere 2 aus den 1990er Jahren auseinander. In Biosphere 2 lebten vier Frauen und vier Männer ohne materielle Hilfsmittel in einem geschlossenen künstlichen Ökosystem für zwei Jahre zusammen. Die Erfahrungen der Probanden, ihre körperlichen und psychischen Nöte lassen erahnen, dass sich die zivilisationskritische Utopie eines vermeintlich ‚natürlichen Gleichgewichts‘ ebenso als ‚Phantasma des Schutzes‘ erweisen würde wie das Bunkerwohnen bei Threuter. Und die Arbeiten von Natascha Sadr Haghighian oder Sean Snyder leiten indirekt in den vierten Teil des Bandes Technoide Mentalitäten über. Während Sadr Haghighian in ihrer Audiountersuchung pssst Leopard 2A7+ (2013) Logiken urbaner Aufstandsbekämpfungen mittels des Kampfpanzers zerlegt, verweist Sean Snyder in Cloud Sediment (2016) auf die Konzeption des Schweizer Reduits, wo der Granit und Mythos der einstigen Alpenfestung heute sensible immaterielle Daten bunkert.

Im letzten Teil Technoide Mentalitäten werden ausgehend vom Bunker in vier weiteren Artikeln technologische Logiken und politische wie zivile mentale Dispositionen untersucht. Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Hanna Loreck schaut sich an, wie in der Kriegskunst Tarnung und Camouflage als Täuschungstechniken eingesetzt wurden und in welchem Verhältnis sie zum Bunkerbau im Zweiten Weltkrieg stehen. Während der baulich-materielle Schutz manchmal die Täuschungstechniken abgelöst hätte, so schreibt sie, würden die beiden Schutzstrategien teilweise auch kombiniert.2 Dieser Wandel im Umgang mit Un-/Sichtbarkeiten innerhalb der Kriegskunst zeitigte auch personelle Wirkung: Während bis zum Ersten Weltkrieg im militärischen Apparat das optische Wissen des Künstlers und Fotografen für eine gute Tarnung gefragt gewesen sei, spielten im Zweiten Weltkrieg das technische Wissen des Ingenieurs und des Physikers eine immer essenziellere Rolle.

Der letzte Artikel des Buches ist von Mona Schieren verfasst und kann auch als eine Art Fazit der Herausgeberin gelesen werden. Sie entsubstantiviert den Bunker und untersucht das Bunkern als Tätigkeit, also das Einlagern, Lagern, Speichern und Horten von Dingen, Wissen und Erinnerungen. Ausgehend vom eigenen Familiengedächtnis fragt sie sich, wo und wie sich Erinnerungen und Geschichte in Körper und Landschaften einlagern und welche Effekte diese gebunkerten Erinnerungen zeitigen. In einem zweiten Teil wagt sie ausgehend von diesen Überlegungen einen Ausflug zu aktuellen Bunkerpraktiken. So schneidet sie erst die extensiven Sammeltätigkeiten von Menschen mit Messie-Syndrom an, welche auf die Vergangenheit gerichtet seien, mit dem Ziel Erinnerungen, Objekte und Wissen (auf) zu bewahren. Danach widmet sich Schieren im letzten Teil länger dem Phänomen der Prepper. Deren Bunkern folge einer anderen, zukunftsgerichteten Zeitlogik und diene als private Vorsorge auf eine imaginierte Apokalypse. Zudem sei Preppen eine Distinktionspraxis in Abgrenzung von allen, die für den kommenden Ernstfall nicht vorbereitet sind. Indem Schieren sich zu Beginn des Artikels mit der eigenen, biografischen Geschichte auseinandersetzt, stilisiert sie die pathologische Form des Sammelns beim Messie-Syndrom und auch die Fantasien der Prepper nicht zum gänzlich Anderen, sondern zu Repräsentanten einer gesellschaftlichen Verfasstheit.3 Denn das Bunkern, ob auf die Zukunft oder die Vergangenheit gerichtet, zeigt sich auch hier als ein ‚Phantasma des Schutzes‘. Es sei letztlich ein Symptom der Weigerung, sich mit den Erinnerungen auseinanderzusetzen, die sich im eigenen Körper wie den uns umgebenden Landschaften abgelagert hätten, so die Autorin. Die Mentalität des Bunkerns erweist sich bei ihr als Disposition einer Gesellschaft, die nicht erinnern will.

Der Sammelband selbst bietet keine einheitliche Antwort auf die gestellten Ausgangsfragen, sondern setzt verschiedene inhaltliche Perspektiven und diskursive wie nicht-diskursive Formate zueinander in Beziehung. In diesem Sinne werde ich das ‚Re:‘ als Grundgedanken des Sammelbandes selbst aufnehmen und mich im zweiten Teil der Rezension nun in die mit der Publikation abgebrochene Korrespondenz der Autor_innen und Herausgeberinnen einhacken, um vier Beiträge anhand der Frage einer aktualisierten Gedächtnispolitik und das Verhältnis von lokalen, nationalen und transnationalen Räumen zu besprechen.

So diskutieren Gennaro Postiglione und Francesco Lenzini anhand des virtuellen Atlantic Wall Linear Museum die Möglichkeiten einer europäischen Erinnerungskultur, die nationalstaatliche Logiken und Konkurrenzen aufhebt. Als museo diffuso (bzw. museo lineare) – Museum außerhalb des Museums – positioniere sich das Museum unmittelbar in der Landschaft, am Ort des Geschehens und schaffe so eine Beziehung zwischen der Küstenlandschaft des Atlantiks, deren Bewohner_innen, der schmerzhaften Erinnerung an Zwangsarbeit, Besatzung, Deportation und Krieg sowie den militärischen Anlagen vor Ort. Die Atlantikküste und ihre Geschichte verbinde so Regionen wie die Fjorde in Norwegen mit dem niederländischen Wattenmeer und der Côte de Granit Rose in der Bretagne und stelle dadurch eine gemeinsame transnationale Erfahrung her.

Dies ist ein vielversprechender Ansatz, der digitale Medien nutzt, um Lokalitäten zu verknüpfen und nationale Erinnerungskultur zu unterminieren. Doch letztlich stellen die Autoren das Projekt in den Dienst zum Wohl eines Europas. Die gemeinsame Erfahrung der Einwohner_innen an der Atlantikküste soll zum identitätspolitischen Hoffnungsanker einer europäischen Gemeinschaft werden. Explizit grenzen sie ihr museo lineare vom Denkort Bunker Valentin ab – den sie zwar als notwendiges Projekt anerkennen, der ihnen aber wie ein Relikt aus der Nachkriegszeit erscheint – ohne auf dessen Geschichte einzugehen. Dabei verkennen sie die Geschichte des Gedenkorts selbst, welche Christel Trouvé in ihrem Artikel in Erinnerung ruft: Lokale KZ-Gedenkstätten sind in Deutschland selten ein Produkt der Nachkriegszeit. Vielmehr wurden sie erst von ehemaligen Häftlingen und später von lokalen gedächtnispolitischen Initiativen erkämpft – so auch der Denkort Bunker Valentin in Bremen. Bis Ende 2010 sei der Bunker als Materialdepot der Bundeswehr genutzt worden, so Trouvé, davor wurde seine Geschichte durch ein 1983 von ehemaligen Zwangsarbeitern errichtetes Mahnmal sowie journalistische Recherchen und künstlerischen Interventionen erinnert. Schließlich habe ihn der Bund 2008 als Gedenkstätte von nationaler Bedeutung anerkannt, die erst 2015 eröffnet wurde.

Das Beispiel des Atlantic Wall Linear Museums und des Denkortes Bunker Valentins verdeutlichen, dass die Frage des ‚Wie sich Erinnerns‘, sich mit der Aneignung und Interpretation von Geschichte auseinandersetzen muss und daher immanent politisch ist. Die Historikerin Cornelia Siebeck (2015) plädiert dafür, nicht neue Identitätsangebote zu schaffen, wie es das museo lineare m.E. tut, sondern historisierende und identitätsschließende Erinnerungskulturen zu stören und sich stattdessen auf die Antagonismen unterschiedlicher Akteur_innen zu konzentrieren, um nach einem ermöglichenden Blick in eine ‚bessere Zukunft‘ zu fragen. Dass hierbei der Kunst eine zentrale Rolle zukommen kann, verdeutlichen die beiden Beiträge der Kunststudierenden Jens Genehr und Sabine Peter auf unterschiedliche, für mich überzeugende Weise.

Beide Künstler_innen zeigen m.E. geschickt, wie ein transnationaler Blick mit lokaler Geschichte verknüpft wird und historisierende Tendenzen der Erinnerungskultur vorgebeugt werden können. So verbindet Jens Genehr in seiner künstlerischen Arbeit Farge – Katar die Geschichte der Baustelle des Bunkers Valentin während des Zweiten Weltkrieg mit einem Blick auf die Baustellen in Katar für die FIFA-Fußball-Weltmeisterschaften. Die erste Zeichnung auf dem rohen Beton der Außenwand des Bunkers bildet Zwangsarbeiter aus dem Konzentrationslager Bremen-Farge ab, für welche ihm Fotografien des NSDAP-Mitglieds Johann Seubert als Vorlagen dienten. Er war damals dafür verantwortlich, den Bunkerbau für die Nationalsozialisten fotografisch zu dokumentieren.4 Die andere Zeichnung auf einem grünen metallenen Container mit Garagentor vor dem Bunker, stellt Arbeitsmigranten auf einer WM-Baustelle in Katar dar. Indem Genehr für die Zeichnungen u.a. je einen unterschiedlichen Hintergrund wählt, schafft er es, auf die Kontinuität von Zwangsarbeit zu verweisen und Lokalitäten über den Globus zu vernetzen, ohne die historische Genauigkeit zu beeinträchtigen oder das nationalsozialistische Verbrechen in einer Universalgeschichte der Zwangsarbeit zu nivellieren.

Die Videoarbeit von Sabine Peter Örtlich Regen referenziert dagegen auf den von Virilio beschriebenen observierenden Blick vom Bunker aufs Meer an der Atlantikküste. In ihrer Videoinstallation projiziert Peter diesen Blick von öffentlich zugänglichen Webcams entlang der Küste von Norwegen bis Spanien auf einen kleinen Monitor vor die meterhohen Betonwände in einer Ecke der Gedenkstätte in Bremen. Damit imaginiert sie nicht nur eine zusammengehörige Landschaft über nationalstaatliche Grenzen hinaus, sondern verortet auch den Bunker in Bremen als Teil derselben. Der Monitor bietet den Blick aufs offene Meer, die nationalsozialistischen Siegesfantasien eines U-Boot-Krieges beginnen zu verschwimmen; das kleine Fenster auf den Atlantik mit seinen schnellen Wetterwechseln und Stürmen scheint die Faszination am Größenwahnsinn der Bauten ins Wanken zu bringen. Am Ort des Gedenkens lässt sich heute erahnen, was Virilio 1975 meinte, wenn er schreibt, „die Bunker der europäischen Küste sind von Anfang an Grabsteine des deutschen Traums“ (Virilio 2011: 51).5

Insgesamt zieht der Sammelband seine Attraktivität auch aus seiner mutigen Konzeption: Während die einzelnen inhaltlichen Schwerpunkte auf den ersten Blick teilweise als willkürliche Zusammenstellung erscheinen, erweisen sie sich beim sorgfältigen Lesen als ausgewählt und treten mit der Lektüre in einen eigenen, manchmal widersprüchlichen, aber produktiven Dialog miteinander. Wie beim Kinderspiel Flüsterpost (auch Stille Post) verzerrt sich während der Korrespondenz der Gegenstand des Bunkers in den einzelnen Beiträgen mal mehr und mal weniger. Und inhaltlich zieht sich wie ein Roter Faden durch die meisten Beiträge die Frage, inwiefern die Vergangenheit in die Materialität der Bunker eingeschrieben ist oder ob sie durch aktuelle Nutzungs- und Aneignungsformen überschrieben wird. Während die Arbeiten im ersten Teil Erinnerungskulturen sehr nahe am Objekt bleiben, verschwimmt bspw. beim sehr informativen Aufsatz von Mi You Zwei oder drei chinesischen Mauern über die ‚Große Mauer‘ und den ‚großen Firewall‘ in China der ihr ins Ohr geflüsterte Bunker gegen den Schluss immer mehr. Und doch steht auch dieser Text nicht abseits, denn der ‚große Firewall‘ kommt beim Lesen fast unweigerlich ins Gespräch mit der Arbeit Cloud Sediment von Snyder über den Datenbunker in den Schweizer Alpen: Welche politische Implikationen kommen dem Bunkern immaterieller personenbezogener Daten in demokratischen Gesellschaften zu? Wer reguliert wo und wie den Zugang zum weltweiten Netz und seinen gebunkerten Daten? Und welche Bedeutung haben dabei (inter)nationale Sicherheitspolitiken mit ihren Überwachungs- und Kontrollmechanismen in China wie der Schweiz? Welche Rolle spielen materielle Bunker immaterieller Daten im Verteidigungsdispositiv eines realen oder imaginierten Cyberwars? Und wie transformieren und reaktualisieren diese digitalen Politiken hier wie dort historische Mythen über die Chinesische Mauer oder das Schweizer Reduit? Etc.

In den einzelnen künstlerischen und wissenschaftlich-essayistischen Beiträgen gestaltet sich die Gratwanderung zwischen subjektiver Aneignung und historischer Genauigkeit, Erinnerung und Umnutzung bzw. Assoziationen und Rekonstruktion zwar unterschiedlich, doch überzeugt der polyphone Zugang des Bandes insgesamt. Diese produktive Herangehensweise an den Gegenstand ist auch Ergebnis seiner Entstehungsgeschichte. Die Arbeit mit gut zwanzig Studierenden und zwei Ausstellungen an unterschiedlichen Orten resultiert fast zwangsläufig in einer Vielstimmigkeit und unterminiert lineare Erzählungen und autoritative Argumentationen. Re:Bunker kann daher als positives Beispiel dafür gesehen werden, wie Lehre als Ausgangspunkt zum Publizieren genutzt werden kann und ein polyphoner Dialog hergestellt wird, der sich transversal zu den Disziplinen und akademischen Hierarchien verhält. Re:Bunker versammelt so nicht nur unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand, vielmehr bringt der Sammelband sie miteinander ins Gespräch. Die Titelgebung ‚Re:‘, das Layout und auch die expliziten Querverweise unterstützen sorgfältig das inhaltliche Begehren der Herausgeberinnen, feste Vorstellungen über den Bunker zu destabilisieren und neue Assoziationsräume zu eröffnen. An diesen Impetus des Sammelbandes gilt es in aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussionen über Bunker, Architektur, Landschaften und Erinnerungs- und Gedächtnispolitiken anzuknüpfen und sie fortzuführen.

Literaturverzeichnis

Genehr, Jens (2019): Valentin. Bremen: Golden Press.
Schwager, Christian (2004): Falsche Chalets. Zürich: Edition Patrick Frey.
Siebeck, Cornelia (2015): Ein ‚postmodernes’ Gedächtnis für die bessere Zukunft? Nachdenken über Möglichkeiten emanzipatorischer Gedächtnispolitik. In: AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch. Münster: Edition Assemblage, S. 358–378.
Theweleit, Klaus (2002): Männerphantasien 1 + 2. München: Piper.
Virilio, Paul (2011): Bunkerarchäologie. Wien: Passagen Verlag.

Fußnoten

1 Mona Schieren und Katrin von Maltzahn lehrten gemeinsam in der Lehrveranstaltung an der HfK in Bremen. In Brest wurde die Veranstaltung von Magali Lefebvre und Sylvie Ungauer geleitet. 2 Die Kombination der beiden Schutztechniken wurde in der Schweiz mit viel Liebe zum Detail bis zum Ende des Kalten Krieges gepflegt. Die Bunker wurden als ‚falsche Chalets‘ getarnt und – wohl auch aus touristischen Gründen – ins Bild einer ‚idyllischen Berglandschaft‘ integriert (dazu: Schwager 2004). 3 Dieses Argument erhielt während des Lockdowns in der Corona-Krise eine unfreiwillige Aktualität. Unterstützt von der medialen Berichterstattung erfassten die von Mona Schieren beschriebenen dystopischen Prepper-Fantasien manch eine_n schneller als bis anhin vorstellbar. Preppen ist zumindest kurzzeitig im berühmten wie bemühten Mythos der gesellschaftlichen Mitte angekommen. 4 Im Comic Valentin knüpft Jens Genehr (2019) an seine Recherche an, wobei er die fotografische Dokumentation und die Geschichte von Johann Seubert mit der autobiografischen Erzählung und dem Zeitzeugenbericht von Raymond Portefaix verbindet. Portefaix wurde als jugendlicher KZ-Häftling in Farge zur Arbeit auf der Baustelle gezwungen. Die beiden Perspektiven verwebt er in seinem Comic zu einer gemeinsamen Geschichte zweier gegenläufigen Biografien. Während Seubert im Auftrag der nationalsozialistischen Bauleitung das gigantische Bauprojekt fotografisch dokumentierte, steht Portefaix Erinnerungen unter dem Zeichen ‚gegen das Vergessen‘. 5 Die Besetzung der europäischen Westküste durch Deutschland führte dazu, dass Hitler nach dem Blitzkrieg militärisch in eine defensive Strategie übergehen musste, so Virilio (2011: 50ff.). Dieser militärstrategische Wechsel impliziere bereits die Niederlage des Faschismus, argumentiert Virilio, da dieser sich aus seiner politischen und militärischen Offensive nähre. Zudem sei in der Blut-und-Boden-Doktrin der Nazis die Lithosphäre der zentrale Orientierungspunkt, Luft und Wasser seien ihr trotz Luft- und U-Boot-Krieg letztlich fremd geblieben. Virilio (2011: 53) spricht dabei von der Angst Nazideutschlands (bzw. bei Virilio personifiziert durch Hitler) sich auf das offene Wasser vorzuwagen, „dem Ort des Wahnsinns, der Anarchie, Ungeheuer und auch der Frau…“. Eine Angst, die sich auch bei Theweleits soldatischem Mann wiederfindet, der gegen das Fließen, die Durchmischung, das Vermischen, den Schlamm und Brei seine Dämme und Mauern, seinen Bunker bzw. Körperpanzer errichtet (Theweleit 2002).