Ulrich van Loyen: Strich durch die Rechnung. Eine Anmerkung zur Restitutionsdebatte, die Deutschland drei Jahre in Atem hielt

Abstract: Der Artikel setzt sich, durchaus polemisch, mit einigen Motiven des jüngsten Diskurses über die Rückgabe von Artefakten aus deutschen Museen an staatliche Institutionen auf dem Boden ehemaliger Kolonialgebiete auseinander. Er vertritt die These, dass dadurch gerade keine Entschuldigung stattfindet (ganz im Sinne von Marcel Mauss’ „reçevoir est reçu“), sondern bestehende regionale Konflikte vertieft und neokolonialistische Verhaltensweisen befördert werden. Zudem plädiert er dafür, die Wissenschaft möge sich nicht voreilig von der Politik entmündigen lassen.

Keywords: Restitution, Kolonialismus, Raubkunst, Cultural Property, Nationalstaaten, Source Communities

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Carolin Amlinger: Kartografie der Paranoia. Konspiration, Kritik und Imagination in F. J. Degenhardts Brandstellen

Abstract: In den letzten Jahren vernahm man verstärkt die Diagnose, dass bewährte Formen der Kritik an ihr Ende gekommen seien. Stattdessen scheinen konspirative Narrative in krisenhaften Perioden des sozialen Wandels, in denen politische Zuschreibungen wie epistemische Wirklichkeitskonventionen erodieren, bewährte Argumentationen und Imaginationen der Sozialkritik zu absorbieren: Sie erklären den systemischen Zusammenhang zwischen sozialen Missständen, schaffen einen evidenten Boden für eine neue Politik der Wahrheit und mobilisieren in ihrer alarmierenden Dringlichkeit für die politische Praxis. In der Lektüre von Franz Josef Degenhardts 1975 erschienenen politischen Roman Brandstellen stellt sich der Beitrag die Frage, wie aus Kritik das Gegenteil von Kritik, nämlich ein hermetisches Erklärungsmodell der Paranoia, werden kann. Gleichzeitig entwirft der Roman ein literarisches Programm, das dem der Sozialkritik nicht unähnlich ist. Politische Literatur lässt sich hier in Anlehnung an Fredric Jameson als eine Kartografie des Sozialen lesen, die im Modus des Fiktionalen die Verteilung von sozialer Herrschaft neu justiert.

Keywords: Politische Literatur, sozialistischer Realismus, Gesellschaftskritik, Postkritik, Verschwörungstheorien, Paranoia, politische Imagination, politische Ordnung, Störung, Terrorismus

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Markus Steinmayr: Poetik, Provokation, Lektüre. Björn Höcke und Rolf Peter Sieferle im Kontext

Abstract: Die vorgelegten Überlegungen präsentieren anhand von Sieferles Finis Germania und Höckes Nie zweimal in denselben Fluss Überlegungen zur kulturellen und politischen Diskursstrategie der Neuen Rechten. Die Strategie wird anhand der Auseinandersetzung mit den Figuren des Lesens, des Umgangs mit Büchern und anhand des Umgangs mit Gegenständen und Figuren der Bildung rekonstruiert.

Keywords: Neue Rechte, Bildung, Autodidakt, Autobiographie, Repräsentation, Theatralität der Neurechten

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Julia Prager: Vor-Schriften? Regieanweisungen als (Teil von) Notationen in Elfriede Jelineks Theatertexten

Abstract: Der Beitrag folgt dem Vorhaben, „Regieanweisungen“ in Elfriede Jelineks Theatertexten als „szenische Stellen“ zu verhandeln. Diese nehmen Vermittlungs- oder Übersetzungsfunktionen zwischen der als „Autorin“ inszenierten persona und der Institution Theater einerseits sowie zwischen Text und Aufführung andererseits ein. Um die Verfahren und Funktionsweisen von Jelineks „szenischen Stellen“ herauszuarbeiten, greift der Beitrag auf eine von der „Notation“ aus gerichtete Forschungsperspektive zurück. Eine solche Fokussierung ermöglicht es, so lautet die grundlegende Annahme, Übersetzungsleistungen zwischen Schrift, Stimmen und Klängen sowie damit verkoppelte Problematiken der Begrenzung und Potenz von Aufschreibe- wie auch Aufführungspraktiken in ihren sozio-politischen, medialen und historischen Kontexten vordergründig werden zu lassen. Hierfür kommen zunächst Metaphoriken (Echokammer, Partitur, Poly- und Heterophonie) in den Blick, die vielfach zur Beschreibung von Jelineks Texten dienen. Jelineks Textverfahren werden als Übersetzungspraxis zwischen Notation und Klangphänomenen ausgewiesen, die Brüche in der medialen und kulturellen Übertragung mitverhandelt. Der Beitrag spricht sich in diesem Sinne dafür aus, das Heterophone in der Beschreibungssprache zu bevorzugen, um Jelineks Praxis des Übersetzens begrifflich einzuholen. Im anschließenden Abschnitt werden Modulationen von „szenischen Stellen“ in Jelineks Stücken als „kleine Formen“ untersucht, um eine Ausdifferenzierung der komplexen medialen Operationen ihrer „notierenden“ Textverfahren anzuregen.

The article follows the attempt to negotiate “stage directions” in Elfriede Jelinek’s theater texts as “scenic passages”. These take on mediating or translating functions between the persona staged as “author” and the institution of theater on the one hand, and between text and performance on the other. To elaborate the modes of operation of Jelinek’s “scenic passages,” the article resorts to a research perspective directed from the field of “notation.” The basic assumption is that such a focus makes it possible to foreground translation processes between writing, voices, and sounds, as well as the interconnected problematics of the limitation and potency of notation in their socio-political, medial, and historical contexts. For this purpose, metaphors (echo-chamber, score, poly- and heterophony), which often serve to describe Jelinek’s texts, are first brought into view. Jelinek’s textual procedures are shown to be a practice of translation between notation and sound phenomena, which negotiates ruptures in medial and cultural transmission. In this sense, the paper argues for privileging the heterophonic in descriptive language in order to conceptually catch up with Jelinek’s practice of translation. In the subsequent section, modulations of “scenic passages” in Jelinek’s plays are examined as “small forms” in order to stimulate a differentiation of the complex medial operations of her “notating” textual procedures.

Keywords: Elfriede Jelinek, Theatertexte, Notation, Heterophonie, kleine Formen, szenische Stellen

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Maltzahn, Katrin von/Schieren, Mona (Hg.) (2019): Re:Bunker. Erinnerungskulturen, Analogien, Technoide Mentalitäten. Berlin: Argobooks,  253 S., ISBN 978-3-942700-94-8, 28,00 €. Eine Rezension von Simon Graf.

Die Möglichkeiten und Grenzen von Kunst zu, in und mit Bunkern ist der Ausgangspunkt des von der Künstlerin Katrin von Maltzahn und der Kunsthistorikerin Mona Schieren herausgegebenen Sammelbandes Re:Bunker. Ihm geht eine Kooperation zwischen der Hochschule für Künste Bremen (HfK) und der École Européenne Supérieure d‘Art de Bretagne (EESAB) in Brest voraus. In ihren Lehrveranstaltungen setzten die Kunststudierenden sich jeweils vor Ort mit den Bunkern des Atlantikwalls aus der Zeit des Nationalsozialismus auseinander.1 In Bremen fand die Beschäftigung mit der Gedenkstätte ‚Denkort Bunker Valentin‘ statt. Es handelt sich dabei um einen ehemaligen Bunker, gebaut für die Produktion von U-Booten, der dank der Niederlage Deutschlands nie in Betrieb genommen werden konnte. In den Lehrveranstaltungen entwickelten die Studierenden ihre eigenen künstlerischen Werke, die am Schluss gemeinsam in der Galerie Les Abords in Brest sowie in der Gedenkstätte in Bremen ausgestellt wurden.

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Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus/Etzemüller, Thomas (Hg.) (2019): Gegenwartsdiagnosen. Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. Bielefeld: transcript, 626 S., ISBN 978-3-8376-4134-9, 34,99 €. Eine Rezension von Heinz-Elmar Tenorth.

Dieses Buch ist ein herausforderndes Werk – schon wegen der mehr als 600 Seiten und der sehr disparaten 30 Beiträge. Es ist aber auch herausfordernd, weil zwar angekündigt wird, primär „Versuchsanordnungen des Programms“, aber nicht „weitere Gegenwartsdiagnosen zu präsentieren“, obwohl es sie dann doch in großer Fülle gibt. Der Band analysiert auch nicht, wie versprochen, primär „das ‚Making‘ der Diagnosen“. Das kommt natürlich vor, aber man bekommt in sieben Kapiteln sehr viel mehr, eine erschöpfende Fülle an Denkanstößen und Material, Zeitphilosophie und Reflexionen über „Gegenwart“ (Augustinus bis Husserl, natürlich), Grundsatzüberlegungen zu den Formen und Möglichkeiten von Diagnose und Therapie, höchst diverse, aber immer unterhaltsam-belehrende Exempel diagnostischer Aktivitäten, Praxeologisches und Soziologisches, Historisches und Aktuelles, bis hin zur Analyse „sozialer Aushandlungen auditiver Emissionen“ – und da geht es schlicht um „Lärm“. Auch angesichts des hier und da nicht gemiedenen Jargons sehnt sich der Leser nach einem Leitfaden, um das Empirische und das Theoretische verbinden zu können und zu lernen, was Gegenwartsdiagnosen im Unterschied zu Gesellschafts- und Sozialtheorien sind, und wie sie, besser oder schlechter, gemacht werden, welchen Status dabei „Therapie“ und „Interventionen“ haben oder wie sich „Selbstproblematisierung“, Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung präzise unterscheiden. Register gibt es leider auch nicht, um die disparate Argumentation systematisch oder personenbezogen nachzuverfolgen. Philosophie könnte hilfreich sein. Hier und da wird, erwartbar, Hegel mit seinem Diktum aus der Rechtsphilosophie bemüht, das Philosophie als „ihre Zeit in Gedanken erfasst“ bestimmt. Aber schon die Lesart dieses Satzes ist kontrovers, ein neuer Hegel wird auch nicht präsentiert, allenfalls viel disparate Sozialphilosophie und -theorie, keineswegs konsensual rezipiert.

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Grenzen und Ordnungen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive: Tagungsbericht zur 6. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft e. V. „B/ORDERING CULTURES: Alltag, Politik, Ästhetik“ vom 8.10.–10.10.2020 an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) von Maria Klessmann, Florian Grundmüller, Konstanze Jungbluth, Natalia Linke, Andrea Meissner und Anne Pilhofer

Inmitten der COVID-19-Pandemie und ihrer politischen Folgen erleben wir, wie sehr soziale, sozio-politische und kulturelle Grenzen herausgefordert werden und umkämpft sind. Die 6. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft e. V. (KWG) mit dem Titel B/ORDERING CULTURES: ALLTAG, POLITIK, ÄSTHETIK fand in einer Zeit statt, in der COVID-19 soziale und politische Handlungsräume transformiert. Die Politik auf der ganzen Welt reagiert auf das Coronavirus mit einer restriktiven Reise- und Migrationspolitik und mit der Verstärkung und Neuimplementierung nationaler Grenzen. Auch sind wir ständig mit einer Neuordnung des sozialen und kulturellen Alltagslebens konfrontiert. Soziale Ungleichgewichte werden nun sichtbarer denn je, weil bereits lange geführte soziale Kämpfe für Gleichberechtigung und Partizipation und gegen totalitäre Bestrebungen in den Vordergrund treten.

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van Loyen: Strich durch die Rechnung
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Artikel 1
Amlinger: Kartografie der Paranoia
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Artikel 2
Steinmayr: Poetik, Provokation, Lektüre
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Prager: Vor-Schriften?
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Maltzahn & Schieren: Re:Bunker
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Alkemeyer, Buschmann & Etzemüller: Gegenwartsdiagnosen
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Klessmann et al: Grenzen und Ordnungen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
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