Frauke Annegret Kurbacher: Zwischen „Verwurzelung“ und „Bodenlosigkeit“. Gedanken zu einer Philosophie der Migration
Abstract: In reflecting and discussing philosophical approaches on migration (almost Flusser, but also Weil, Arendt, Kant and Waldenfels) – migration could be understood (not as an extraordinary case, but) as a ‘conditio humana’ and touches the limits and possibilities of human beings. As existential experience it is in between ‘rootedness’ and ‘groundlessness’ and has therefore also a critical potential for our views of the world and our standpoints and could enlighten them as a new form of cosmopolitanism.
Keywords: migrant, Europe, cosmopolitanism, groundlessness, rootedness, freedom
Die Verbindung von ‚Migration und Europa‘ ist sowohl aktuell als auch historisch gegeben. Und doch greift das Thema weit über den europäischen Rahmen hinaus – und zwar nicht nur in weltpolitischer Hinsicht, sondern in philosophischer. Im Dispositiv von Migration werden Zusammenhänge anders wahrnehmbar. Die Frage nach Migration schlägt eine andere Perspektive auf die philosophische Tradition frei und stellt sich als Anfrage an Philosophie selbst: Ihre Bedingungen der Möglichkeit sind davon berührt. Dies wird mit dem grundsätzlichen Zugriff auf die Thematik von Simone Weil, Hannah Arendt und insbesondere Vilém Flusser klar, die hier mit Seitenblicken auf Immanuel Kant und Bernhard Waldenfels betrachtet sein sollen.
Die Heftigkeit, Leichtigkeit und Schwere des Bodenlosen als existentieller Erfahrung haftet der Philosophie tatsächlich in vielfacher und konstitutiver Weise an, denn: Frei und eigen zu denken, kostete bereits in der Vergangenheit, wenn nicht gleich den Kopf, so doch nicht selten – und mehr als bildlich gesprochen – den ‚Boden‘. Wie viel von unserer abendländischen Philosophie, kann gefragt werden, ist nicht auch Exilphilosophie und -literatur?2 Dies gilt für einige, die zum Kernbestand abendländischen Denkens zählen: René Descartes, Jean-Jacques Rousseau, Hannah Arendt und viele andere. – Doch das Bodenlose bezieht sich nicht nur auf das Faktische der jeweiligen Migrationsbiographie, sondern ist Bestandteil eines Denkens, das als solches keinen festen Boden, kein fundamentum inconcussum hat, noch je haben wird.
Die Betrachtung entfaltet sich vor dem Hintergrund von dreien, die selbst die Erfahrung von Flucht und Migration gemacht haben: der politischen Philosophin Hannah Arendt, der spirituell inspirierten und politisch aktiven Denkerin Simone Weil und dem Kommunikations- und Medienphilosophen Vilém Flusser. Sie bilden die Denkfolie für unterschiedliche Zugriffe, in denen die Thematik erschlossen wird. Philosophische Überlegungen von Kant und Waldenfels werden dabei zur theoretischen Grundlegung herangezogen und darauf in diskursiver Weise erneut zur Disposition gestellt.
Der Text gliedert sich hierfür in zwei Teile. Im Versuch einer Ausbuchstabierung des Titels seien zunächst in drei Schritten erst einmal die Begriffe ‚Migration‘ – auch im Kontrast zur ‚Flucht‘ – betrachtet und einige grundsätzliche Überlegungen angestellt, bevor in einem zweiten Zugang „Verwurzelung“, „Entwurzelung“ und vor allem das „Bodenlose“ bedacht werden. Sie alle gilt es, vor einem ambivalenten Phänomen zu reflektieren, das dem Zusammenhang immer inhärent ist: ‚dem Fremden‘ oder auch ‚der Fremde‘. Über eine weitere Etappe wird der Blick im zweiten Teil vom Migrantischen auf das Weltbürgerliche geweitet und ihrer beider Verschränkung mit dem Urteilen reflektiert. Im Ausblick sei dann auf eine potentielle Migrationsphilosophie oder ‚Philosophie der Migration‘ geschaut. Und damit komme ich zum ersten Zugriff:
1 Denkhorizonte und fragile Freiheiten: Flucht und Migration
Die wortgeschichtliche Bedeutung von ‚Migration‘ ist der freie Vogelflug bzw. die Vogelwanderung. Bezieht sich der Begriff auf den ‚Vogelzug‘ als eine wiederkehrende – nahezu, ‚natürliche‘ Bewegung, ließe sich jedoch mit Blick auf die Flüchtlingssituation vermutlich eine solche Lesart schlichtweg nur verweigern oder sie wäre mindestens vehement in Frage zu stellen, da die Fluchtbewegung des Flüchtlings eben in der Regel präzise Ursachen und spezifisch benennbare Gründe hat und keineswegs einfach einer zyklischen Bewegung folgt, wie wir sie in den Definitionen des Nomadentums wiederfinden. Dies lenkt den Blick einerseits auf eine notwendige mögliche Unterscheidung zwischen Migrant und Flüchtling, – der eine wird zumeist als freiwillig, der andere als unfreiwillig in seine Situation gestoßen vorgestellt. Doch handelt es sich dabei um eine Differenzierung, die letztlich kaum haltbar ist, denn wer wollte in concreto noch unterscheiden, ob etwas freiwillig entschieden oder durch Umstände veranlasst wurde. Und andererseits öffnet es den Blick für die Differenzierung verschiedener kultureller Formen des nietzscheanisch gesprochen „nicht festgestellten Tieres“, des ‚bewegten Menschen‘ – wie etwa den Kosmopoliten und Weltbürger oder eben den ‚Nomaden‘ in seinen verschiedenen Variationen, – aber auch andere. Die Reihe ist lang: Wissenschafts-, Arbeits- und Halbnomaden, Exilierte, Emigrierte, Immigrierte – Aus- und Einwanderer, Vertriebene, Verfolgte, Geflüchtete, Dazu- und Fortgezogene … . Zu denken ist aber ebenso an all jene, die als literarische Motive Eingang in das kulturelle Selbstverständnis gefunden haben: der ‚Wanderer‘ – auch Wandervogel, der ‚Vagabund‘ oder der – politisch unkorrekt, aber bis heute von trauriger Wirksamkeit – ‚Zigeuner‘.
Dies deutet auf eine besondere Problematik der ‚Umherziehenden‘, die sie an die Thematik des Fremden als „Außer-ordentliches“, wie es Waldenfels formuliert3, anknüpft. Außerhalb der Ordnung stehend, befinden sich die Umherziehenden oft im rechtsfreien Raum, der sie nicht selten zu ‚Vogelfreien‘ macht – mit jener Brisanz, dass gerade da, wo ein Mensch besonderer Menschlichkeit bedürfte, sie ihm aufgrund seines fehlenden Rechtsstatus´ gar nicht zugemessen wird. Es handelt sich um einen Umstand, den die selbst lange Jahre staatenlose Hannah Arendt in den „Aporien der Menschenrechte“ bedenkt4, mit denen wir es – wie gegenwärtig – aber letztlich immer wieder zu tun haben, da dem Anspruch auf Humanität grundsätzlich alleine staatlicherseits gar nicht nachzukommen ist, was jedoch konkrete politische Kritik keineswegs aussetzt.5 Vor allem aber „mögen wir es nicht, wenn man uns ‚Flüchtlinge‘ nennt“, bekundet die emigrierte Philosophin Arendt gleich zu Beginn ihres Textes Wir Flüchtlinge.6
Flucht und Migration lassen uns in unserer menschlichen Verletzlichkeit bewusst werden. So ist etwa gerade jener Denker, dem wir philosophisch als epochemachende Scharnierstelle den vielbedachten, diskutierten und bestrittenen Gedanken des „ich denke, also bin ich“ (zumindest solange ich denke) als vermeintlich unumstößliche Gewissheit verdanken, zugleich jener, der selbst Philosophieren als „Herumtappen im Dunkeln“ beschrieben hat und dessen „Cogito“, eingemeindet in die Schar der philosophischen Migranten, als fragiles sichtbar wird.
Im Gegensatz zur Migration lässt sich die Bewegung der Flucht eher existentiell verstehen. Es ist die Reaktion auf eine Krise – ja ein Moment der Krise selbst. Metaphorisch taucht das Bild aber auch als Bewegung des kritischen Denkens auf. Diese Lesart verfolgt der Historiker Reinhart Koselleck in Beschäftigung mit Pierre Bayle, jenem großen Universalgelehrten des 17. Jahrhunderts, der in seiner Auseinandersetzung mit den anhaltenden Religionskriegen des Abendlandes zum vehementen Verfechter einer „allgemeinen Toleranz“, einer „tolérance universelle“ wurde7, auf der unsere Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten als einem wichtigen Baustein für unser laizistisches Verhältnis von Staat und Religion aufruhen. Für die Freiheit des Denkens einzutreten, war, philosophie-historisch betrachtet, lange an den Gedanken der Religionsfreiheit geknüpft und wird doch darüber hinausgreifend als eine Bewegung des Denkens selbst sichtbar. Das Bild der ‚Denkfluchten‘, wie ich sie benennen möchte, das Koselleck bei Bayle auffindet, bezeichnet keine Flucht aus dem Denken und eigenen Standpunkten, sondern die kritische Bewegung eines Denkens, das angesichts von steten Differenzen, aber auch aufgrund der Fragilität jedes Denkenden nicht stillsteht, sondern in permanenter Bewegung und Lebendigkeit begriffen ist.8
Bewegte Migrationsbiographien mit selbstgewählten und öffentlich auferlegten Umschwüngen finden so ein Pendant in einem Denken von Verschiedenheit und Pluralität, das letztlich dem nicht stillstehenden, freien, kritischen Denken selbst angehört. Die ‚Denkfluchten‘ werden zu Öffnungen auf neue Perspektiven. In diesem Sinne sei im Weiteren auf den Zusammenhang von Verwurzelung und Bodenlosigkeit als Parameter einer Philosophie geschaut, die Migration als ihr Konstituens begreift und das Fremde als ihre Öffnung.
2 Erfahrenes Widerfahrnis: das Fremde
Beide Bewegungen, die der Flucht wie die der Migration, berühren die Thematik der Fremde und des Fremden, die sich seit dem 20. Jahrhundert verstärkt zum philosophischen Thema des Anderen und der Anderen gesellt hat.9 Bernhard Waldenfels hat hier Entscheidendes zum signifikanten Unterschied zwischen Alterität und Alienität reflektiert.10 Das Fremde hat für uns als ordnungsbildendes „Grenzwesen“ das Potential11, jedwede Ordnung zu sprengen, zu übersteigen, mindestens zu irritieren. Es ist ein relationales Phänomen, das er in eine relative, und damit überwindbare Fremdheit und eine radikale, nicht überwindbare Fremdheit unterteilt. Letztere verliert den „Stachel des Fremden“ nicht. Die Provokation seines Ansatzes aber liegt darin, dass er genau diese radikale Fremdheit in den Erfahrungsbegriff selbst überführt und dort angesiedelt sieht. Jede Erfahrung birgt insofern ein unvorhersehbares Moment, etwas Ereignishaftes, das uns als Widerfahrnis, also passiv, ereilt und auf das wir zugleich aktiv, vielfältig antworten. Beide Aspekte sind ineinander verschränkt und bilden zusammen die Erfahrung, die stets eine solche in sich verschobene, diastatische Brechung aus „Pathos und Response“ bedeutet. Das Fremde fängt damit in der Tat schon im „eigenen Haus“ an – und vermag zu irritieren. Es geht ihm jedoch nicht nur um die Erfahrung des Fremden, gleichsam wie von außen, sondern um das „Fremdwerden der Erfahrung“ selbst.12 „Fremde sind wir uns selbst – étrangers à nous-mêmes“, gab bereits Julia Kristeva früh zu bedenken.13
In Bearbeitung dieser Begriffs- und Deutungsdifferenzen drängt sich jedoch eine grundsätzliche Frage auf, fällt wie ein fremder, ungebetener Gast mit der Tür ins Haus: Können wir angesichts ganz konkreter und praktischer Situationen überhaupt so abstrakt mit der Thematik von Flucht und Migration umgehen? Handelt es sich dabei angesichts gegenwärtiger Lagen nicht um einen unerträglichen Zynismus? – Gerade vor der Dringlichkeit gegebener Situationen wird deutlich, dass sie nicht nur nach momentaner Abhilfe, sondern nach Grundlegendem verlangen, denn es stellen sich ja nicht nur die flüchtigen, temporären Fragen, sondern auch die, wie moderne Migrationsgesellschaften, die wir jetzt schon sind, und Einwanderungsländer, wie Deutschland, dauerhaft und nachhaltig mitsamt Zukunftsperspektiven für die in ihr befindlichen Personen mit der Situation umgehen wollen. Vor allem fragt sich, welches Verhältnis wir zum Migranten, zum Flüchtling und zur Migration pflegen. Welches Verhältnis stellen wir uns im besten Fall für einander vor? Hierbei kann vielleicht mehr denn je bewusst werden, dass – gut aristotelisch gedacht – unser Umgang mit etwas und jemandem nicht unabhängig von den Konzepten ist, die wir uns davon machen. Es liegt viel Verantwortung darin, wie wir etwas denken und gerade deswegen braucht es auch für die akute Situation Reflexion auf die Begriffe, Phänomene und verschiedenen Ansätze, die sich mit ihr verbinden. Und damit komme ich zum zweiten Zugriff und mit ihm auf Flusser und das Bodenlose.
3 ‚Verwurzelt‘, ‚entwurzelt‘ – ‚bodenlos‘
Mit den Themen Flucht und Migration ist bereits der schmale Grat betreten, den Vilém Flusser als solchen mit seinen Gedanken zum „Bodenlosen“ genau an den neuralgischen Punkten berührt. Dem assimilierten wohlsituierten jüdischen Prager Bürgertum entstammend, überlebt er durch seine Emigration über England nach Brasilien als einziger seiner alten Familie den Holocaust und bleibt über Jahrzehnte in São Paulo, bevor er nach Europa zurückkehrt. In seiner als „philosophische Autobiographie“ untertitelten Schrift Bodenlos beschäftigt er sich mit der den Migranten prägenden Erfahrung der Bodenlosigkeit, d.h. mit der Unmöglichkeit, die das Bodenlose bedeutet, und greift es eben in diesem Begriff und der Erfahrung des Bodenlosen auf, die er als „Stimmung“ beschreibt, die sein Buch „bezeugen“ will.14 Dies gibt in der mehrfachen Brechung zu denken. Das Anliegen des ‚Bezeugens‘ ruft den mit der Shoah einsetzenden Zeugenschaftsdiskurs auf, die Vorstellung, dass nur die eigene, besondere Narration des Einzelnen und insofern nur die Person selbst Zeugnis vom Geschehenen und Erlebten zu geben vermag. Doch ist Flussers Bodenlos eben eine „philosophische Autobiographie“15 und was er bezeugen will, tituliert er als „Stimmung“ – einem vielsagenden philosophischen Terminus nach Martin Heidegger – und zum Zeugen erklärt er nicht sich selbst, sondern das Medium, das Buch. Als Stimmung handelt es sich um etwas zutiefst Subjektives und doch zugleich Überindividuelles. Stimmung kann auch einen Raum erfüllen, als Zeitgeist ganze Generationen, sogar Jahrhunderte. Die Erfahrung der Bodenlosigkeit, die Stimmung derselben, stellt er einerseits als etwas vor, was jeder kenne, wiewohl die Tendenz zur Verdrängung enorm sei, und andererseits behalten doch viele der beschriebenen Situationen jene Exklusivität, von der wir vermeinen, sie zu kennen, uns gar nicht anmaßen zu dürfen, in Anerkennung der exorbitanten Situation, des Erlittenen aller Holocaust-Überlebenden.
Genau mit dieser Ambivalenz trifft Flusser das „Bodenlose“. Es ist ein Appell an die allgemeine Verbindlichkeit dieser Erfahrung und Stimmung und zugleich die Verweigerung jeglicher Allgemeingültigkeit in Anbetracht der individuellen, monströsen Abnormität, Abstrusität dieser Erfahrung, die jeden für immer in ein schwarzes Loch, zumindest in eine andere Welt, zu katapultieren scheint. Die Tragweite der Migrationserfahrung greift bis in die eigenen Gedanken und ihre Ordnung, die Denkstrukturen selbst:
‚Bodenlosigkeit‘ bedeutete, so erkannte man jetzt, nicht etwa nur den Verlust aller Modelle für Erleben, Erkennen und Werten, sondern auch den Verlust der Struktur, welche diese Modelle ordnet. Man hatte demnach nicht nur alle [...] übertragenen Modelle verloren und sah sie nun als leere Formen, sondern man hatte auch das Gerüst verloren (nämlich die okzidentale Tradition), welches diese Modelle trägt, und sah in ihm nun Regeln eines bedeutungslosen Spiels.16
Die Stimmung des Bodenlosen wird aber nicht nur mit negativen Vorzeichen versehen, sondern auch ein „Projekt“, der vorausschauende Blick auf Künftiges. Und dies, weil in der vorgestellten Ambivalenz der Migrationserfahrung als ‚bodenlos‘, die uns alle existentiell verbindet – spätestens, wenn Flusser die einzelne Existenz zum „Laboratorium“ für Andere erklärt – 17, der Blick gleichsam von der einzelnen Existenz auf Welt geweitet und geöffnet wird. In Flussers Beschreibung tritt die Wirkmächtigkeit der Migrationserfahrung deutlich zutage. Es wird spürbar, dass besonders der Zweite Weltkrieg nicht nur die jüdische Bevölkerung zum Exodus genötigt, sondern das ganze Weltgefüge aus den Fugen und in Bewegung gebracht hat – und zwar in einem Ausmaß, von dem er den Anbruch eines neuen Menschenzeitalters vermeint, ein Anthropozän, in dem der Migrant keinen Sonderstatus hat, weder ein Einzelphänomen ist, noch einen Notfall darstellt, sondern zum Modell der Zukunft avanciert.18 Diese futuristisch, zukunftsgewandt-positive Lesart Flussers und schöpferische Auffassung des Migranten ist eng mit seiner kritischen Analyse des Heimatgedankens verknüpft. Hierfür ist eine Vorlage relevant, die wohl ihm wie Arendt bekannt war: Die Schrift L’Enracinement (Die Verwurzelung) von Simone Weil.19
In der Verwurzelung behandelt die französische Philosophin jedoch vor allem die „Entwurzelung“, als deren Hauptursachen sie Geld – als zum einzigen Wert in modernen Gesellschaften verkommen – und schlechte Bildung ansieht sowie verbrecherische Staaten, die ihren Bürgern weder Raum für die „Bedürfnisse der Seele“ lassen noch ihren Pflichten nachkommen und die Bevölkerung Konflikten aussetzen. Verwurzelung sieht Weil letztlich als etwas Soziales an. Von vielen Wurzeln sprechend, geht sie auf das Beziehungsgefüge zwischen Menschen ein:
Die Verwurzelung ist wohl das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele. Es zählt zu denen, die sich nur schwer definieren lassen. Der Mensch hat eine Wurzel durch seinen wirklichen, aktiven und natürlichen Anteil am Dasein eines Gemeinwesens, in dem gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Vorahnungen der Zukunft am Leben erhalten werden. Natürlicher Anteil heißt: automatisch gegeben durch den Ort, die Geburt, den Beruf, die Umgebung. Jeder Mensch braucht vielfache Wurzeln. Fast sein gesamtes moralisches, intellektuelles und spirituelles Leben muss er durch jene Lebensräume vermittelt bekommen, zu denen er von Natur aus gehört. Der Austausch von Einflüssen zwischen sehr verschiedenen Lebensräumen ist nicht weniger unentbehrlich als die Verwurzelung in der natürlichen Umgebung.20
Die Multiplizität der Wurzeln wird signifikant für Flusser, der aber zugleich die Vorstellung der Verwurzelung und vor allem die der Heimat damit aufbricht. Er bezeichnet sich selbst als „heimatlos“, weil zu viele Heimaten in ihm lagern.21 Bereits mehrsprachig aufgewachsen und potenziert durch die Migration ist er in vier Sprachen beheimatet, die ihn stets zur Übersetzung und Rückübersetzung veranlassen.
Der emigrierte Philosoph entlarvt den Zusammenhang von Heimat und Identität als „Banalität“ und weist auf etwas Entscheidendes.22 Zunächst beschreibt er in dem Kapitel „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“23 die Exklusivität des deutschen Heimatbegriffs, den es so in anderen Sprachen nicht gibt. Das Tschechische sei da etwas ausgenommen, vermutlich, wie er ironisch anmerkt, „wohl dank des Drucks, den das Deutsche auf das Tschechische jahrhundertelang ausgeübt hat“, denn „domov“ kommt dem deutschen ‚Heimat‘ nah.24 Dieser Begriff wird als eine bereits im Frühkindlichen angesiedelte Ebene des Vertrauten analysiert, ganz gleich, ob es sich dabei um etwas objektiv Gutes oder Schönes handelt. Heimat bezeichnet etwas, mit dem wir uns nahezu physisch, wie mit „Fasern“,25 verbunden fühlen. Unauflösbar, wie immer wir uns auch später als Erwachsene dazu stellen mögen, – und er bringt das „prosaische[…]“ Beispiel des ‚tschechischen Lendenbratens‘: „svickova“. Dieses tschechische Gericht erweckt in ihm „schwer zu analysierende Gefühle“, denen das deutsche Wort ‚Heimweh‘ einigermaßen gerecht wird.26 Der
Heimatverlust lüftet dieses Geheimnis, bringt frische Luft in diesen gemütlichen Dunst und erweist ihn als das, was er ist: der Sitz der meisten (vielleicht sogar aller) Vorurteile – jener Urteile, die vor allen bewußten Urteilen getroffen werden.27
Das Problem ist nun, dass diese allen gegebene Verbundenheit an ganz Konkretes, hochgradig Subjektives aus frühestens Zeiten eigener Erinnerung metaphysisch übersteigert wird. Stattdessen aber handelt es sich nur um eine „Banalität“. Die Verwendung des aus Arendts umstrittenen Diktum der „Banalität des Bösen“ bekannten Begriffs soll nicht die Gefühle der so Verbundenen in Abrede stellen. Heimat ist für Flusser zwar kein ewiger Wert, aber wer sie verliert, der leidet.28 Die Kritik der Banalität zielt vielmehr auf die unzulässige theoretische Überhöhung. Dies verdeutlicht Flusser am Unterschied zwischen „Wohnen“ und „Heimat“. Niemand bedürfe der Heimat, jeder komme – wie schmerzlich es auch sei – ohne aus, aber alle müssten wohnen, bemerkt er provokativ und scheinbar lapidar.29
Heimat als diese „geheimnisvollen Fesseln“ – „zerren am Emigranten, weil sie seine unter Leid errungene Freiheit in Frage stellen.“30 Dies ist also die aufklärerisch positive Kehrseite des Heimatverlusts: ein Neugewinn an Freiheit, eine Befreiung aus alten nicht selbstgewählten Bindungen mit der Aussicht, dass der „Verlust des ursprünglichen, dumpf empfundenen Geheimnisses der Heimat […] ihn für ein anders geartetes Geheimnis öffnet: für das Geheimnis des Mitseins mit anderen.“31 Und Flusser fragt weiter:
Wie kann ich die Vorurteile überwinden, die in [...] mir [...] schlummern, und wie kann ich dann durch die Vorurteile meiner [...] Mitmenschen brechen, um gemeinsam mit ihnen aus dem Häßlichen Schönes herstellen zu können? In diesem Sinne ist jeder Heimatlose, zumindest potentiell, das wache Bewußtsein aller Beheimateten und ein Vorbote der Zukunft. Und so meine ich, wir Migranten haben diese Funktion als Beruf und Berufung auf uns zu nehmen.32
Mit diesem Ausblick Flussers möchte ich selbst – allerdings weiter fragend – nach vorne schauen:
4 Migration als ‚conditio humana‘ – oder die Welt neu denken
Weil, Arendt und Flusser – als drei Stimmen zu ‚Migration und Europa‘, die alle selbst notgedrungen die Erfahrung der Emigration gemacht haben – versuchen, diesen existentiellen Einschnitt für ein Neudenken sowohl der Gesellschaft als auch der Philosophie fruchtbar zu machen. Alle drei akzentuieren das soziale Gefüge, das besonders Arendt als „Bezugsgewebe“ zwischen den Menschen zentral werden lässt, wofür Weil entscheidende Vorüberlegungen geliefert hat.33 Flusser entdeckt ein emanzipatorisches Potential im Erlebnis und Widerfahrnis von Migration und hat mit seinem zwar ambivalent erörterten, aber letztlich sogar trotzig positiven Begriff davon jedenfalls bislang einen relativen Seltenheitswert in der theoretischen Reflexion34, von Arendts – allerdings eher kritisch gemeinten – Äußerungen am Ende ihres Textes Wir Flüchtlinge einmal abgesehen, wo sie die „von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge“ als Repräsentanten einer „Avantgarde ihrer Völker“ bezeichnet.35 Gebraucht Arendt hier jedoch diese Wendung ironisch im pejorativ konnotierten Verständnis des Flüchtlings als Außenseiter und Teil der paria, wendet Flusser mit und gegen Arendt den Gedanken tatsächlich ins Positive in Anerkenntnis der weltumfassenden Realität des Migrantenseins und der Existenzialität des Migrantischen in anthropologischer Perspektive. Vor dem Hintergrund einer „Phänomenologie des Fremden“ bleiben Fragen nach der möglichen Verbundenheit mit spezifischen Kulturen, Zeiten, Gesellschaften ebenso virulent wie die Freiheiten von ihr – mit denen sich die Frage nach der ethischen Verbindlichkeit in Migrationsgesellschaften stellt.
Eine mögliche ‚Philosophie der Migration‘ nach Flusser umfasst Sehnsucht, Heimatgefühle und Heimweh, aber auch Perspektivwechsel und mit ihnen ganz aufklärerisch eine Vorurteilskritik, die uns interpersonal als Menschen im Miteinander zeigt und die Migration als unsere menschliche Bedingtheit, unsere conditio humana, wie auch als je existentiell unreduzierbare Besonderheit veranschlagt. Zu der flusserschen Idee des Migranten als Modell der Zukunft gehört offenbar die Utopie einer zusammen besser gestaltbaren Welt. Sie bezieht sich auf einen freien Migranten, der sich überall bewegen kann, auf der Welt wie in Gedanken.36 Ist dieses Migranten-Modell nun eine moderne Variante des Kosmopoliten und taugt als Basis für unsere aktuellen Situationen oder ist dieser futuristische Migrant nur die sympathische Utopie eines Flaneurs in verschiedenen Welten des noch 20. Jahrhunderts?
Vor dem Hintergrund dieser Fragen sei noch einmal auf eine etwas andere Trias geschaut: Flusser, Kant und Arendt und das mögliche Verhältnis von Migration und Kosmopolitismus mit Blick auf die darin implizierte Verbindlichkeit von Personen. Mit der Dekonstruktion des Heimatbegriffs hatte Flusser bereits eine Verbindung zur Urteilsthematik, geradezu im Sinne einer aufklärerischen Vorurteilskritik, vollzogen, indem er den Heimatbegriff in seiner Vorurteilspotentialität decouvrierte und Migration dagegen als einen Stand der Freiheit, auch der Befreiung aus alten Vorurteilsfesseln, in Aussicht stellte. Im Gedanken des Urteilens und der Urteilskraft laufen aber in der Tat zuvor schon bei Kant und Arendt Gedanken von Freiheit als Autonomie im Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft zusammen, die sich auch als Direktiven oder Aussichten auf einen gemeinsam bewohnten und geteilten Erdball lesen lassen. Dafür schaue ich nun im zweiten Teil noch einmal genauer auf diese drei: Kant, Arendt und Flusser und den Zusammenhang von Migration und Kosmopolitismus in ihrer Verknüpfung mit dem Urteilen.
5 Migration und Kosmopolitismus – im Dispositiv des Ästhetischen
Bemerkenswerterweise bedenkt Flusser nicht nur die Folgen für das Denken und seine Inhalte, sondern das ganze Denkgebäude und Gerüst gerät ob der Erfahrung von Migration in Bewegung – ja, bricht letztlich zusammen, doch – wie Flusser freimütig bekennt: Die ästhetische Prägung bleibt und öffnet sich für den Spiel- und Medientheoretiker nicht von ungefähr in Weisen freier Kombinatorik. In seiner schließlichen Rückwendung zum westlichen Denken beschreibt er, dass ihm andere, östliche Philosophien, die er ebenfalls ausprobiert, letztlich nicht gefallen und er dem Westen, wie er es ausdrückt, aus „ästhetischen Gründen“ verhaftet bleibt.37 – Tatsächlich kann der Zusammenhang von Migration und Weltbürgertum als Bodenlosigkeit und geistige freie Beweglichkeit auf Kants Ästhetik zurückgeführt und über ein spezielles und letztlich doch prototypisches Urteilsverständnis erhellt werden, wie es sich auch unter Hinzunahme der arendtschen Lesarten von Kant erschließt.
Die Stelle aus Kants dritter Kritik, dem Paragraphen 40 zum sensus communis, die für den Kosmopoliten sprechend wird und auf die sich Arendt ebenso bekanntermaßen bezieht, lautet: dass es
einen Mann von erweiterter Denkungsart [anzeigt], wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzen, und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert.38
Dies beschreibt nun eine Art empathischen Kopfkinos – bei Kant wie bei Arendt –, mit dem das eigene Denken und Urteilen sowohl geprüft als auch erweitert wird, und beschreibt ein inhärent transgressives und kritisch-selbstreflexives Moment, das ebenfalls als Bindeglied zwischen den Urteilenden denkbar wird. An deren Urteil appelliert jedenfalls der ästhetisch-Reflektierende, indem er auch Anderen Zustimmung zu seinem Urteil ‚ansinnt‘39 und damit vom eigenen, kritisch-geprüften Standpunkt aus eine potentielle Urteilsgemeinschaft vorstellbar wird, der man selbst angehört. Dieses übersteigende Moment wird von Arendt vor allem als intersubjektives, interpersonales, auf Pluralität zielendes interpretiert. In den anthropologischen Schriften Kants taucht es vor allem als Fortschrittsgedanke auf, der hier als eine Hoffnung auf Fortschritt im Sinne einer zunehmenden Zivilisierung und Humanität aufscheint.40 Im Kontext der Kritik der Urteilskraft wird der stete Zug der sich erweiternden Urteilskraft als potentiell grenzenloser und damit auf Welt ausgerichteter und als eine Denkfigur lesbar, die schon seit dem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ Vorläufer in Kants Überlegungen hat. Das Selbstdenken wie die stete kritische Arbeit einer Vorurteilskritik, die bei den eigenen Urteilen beginnt, sind ihre Konstituenten.
6 Die Urteilsgemeinschaft als potentielle Weltgemeinschaft?
Diese zweite Maxime nun des gesunden Menschenverstandes, die hier für das Verhältnis von Standpunkt des Einzelnen und Gemeinschaft wichtig wird, weist daher nicht von ungefähr deutliche Ähnlichkeiten mit Kants in den anthropologischen Schriften ausgearbeiteten Vorstellungen vom Weltbürgertum auf, was Arendt mit Nachdruck mitbedenkt. Dort, im anthropologischen Kontext, ist es allerdings zunächst nur die sich kritisch erweiternde Vernunft, die ein Bestreben hat, sich potentiell unbegrenzt, weltweit zu tummeln und in kritischem Austausch zu erweitern. Die Vernunft sei nämlich „nicht dazu gemacht, daß sie sich isoliere, sondern in Gemeinschaft setze“, gibt Kant in seinen anthropologischen Reflexionen zu bedenken.41
Die Urteilsgemeinschaft ist zumindest potentiell eine Weltgemeinschaft. Denn Urteile halten sich latent nicht an kontingente, von Menschen gesetzte Grenzen. Sie werden von Welt bewegt, bewegen Welt und sich selbst.
Flusser wehrt sich zunächst einmal sogar, seinen Entwurf zum Migranten mit dem Gedanken des Weltbürgers und Kosmopoliten kurzzuschließen, weil es ihm im Gedanken der Freiheit um konkrete, tatsächlich übernommene Verantwortung gegenüber wirklichen Personen, „Nächsten“, Freunden geht:
Daher ist die in der Heimatlosigkeit gewonnene Freiheit gerade nicht Philanthropie, Kosmopolitismus oder Humanismus. Ich bin nicht verantwortlich für die ganze Menschheit, etwa für eine Milliarde Chinesen. Sondern es ist die Freiheit der Verantwortung für den ‚Nächsten‘. Es ist jene Freiheit, die vom Judenchristentum gemeint ist, wenn es die Nächstenliebe fordert und vom Menschen sagt, er sei ein Vertriebener in der Welt und seine Heimat sei anderswo zu suchen. 42
Gerade in der anthropologischen, aus dem Religiösen bekannten Vorstellung des Menschen als bloß temporärem Bewohner dieser Welt, der daher – wie oben beschrieben – eher ein ‚Vertriebener‘, ‚Wanderer‘ oder ‚Pilger‘ ist, findet sich aber ein Moment, das insbesondere Kant als grundlegende Reflexion zum Weltbürgerlichen nachklingen lässt, denn als Bewohner dieser Erde, die „gemeinschaftliche[r] Besitz“ ist, können wir uns dank ihrer Kugelfläche – bis auf die unbewohnbaren Teile der Welt – prinzipiell überall auf ihr bewegen und durch die Kontingenz unserer Geburt, modern wäre von „Geworfenheit“ zu sprechen, hätte auch niemand mehr Vorrecht als ein Anderer, irgendwo auf der Welt zu sein.43 Das Weltbürgerliche ist daher in diesem Sinne bei Kant ein Appell an die Vorstellung, Welt miteinander zu teilen, und ein vernünftiger Anspruch an sich selbst und Andere darauf, es in einer friedfertigen und für Andere verträglichen Weise zu tun. Das Weltbürgerliche sieht insofern jeden als potentiell ‚Nächsten‘ an und bedarf wegen der Begrenztheit menschlicher Existenz aber auch ein belastbares Verständnis individuierter, persönlicher Verantwortung und Autonomie. En passant wird damit aber von Kant – geradezu antizipatorisch im Sinne der flusserschen „Einsprüche gegen den Nationalismus“ – auch jener problematische und unhaltbare Kurzschluss zwischen Territorium und Identität gebrochen und aufgehoben44, der für den Weltphilosophen, der Königsberg nie verließ, in den zeitgenössischen Kolonialisierungspraktiken gegenwärtig ist, die er scharf kritisiert und die darüber hinaus für ihn gegen jeden gesunden, weltbürgerlichen Menschenverstand verstoßen.
7 Der ‚feine Unterschied‘: Das ästhetischreflektierende Urteil als Konstitutivum des Weltbürgerlichen
Nun ist freilich auch im § 40 zum sogenannten „Gemeinsinn“ der enge Bezug der zum „gemeinen Menschenverstand“, zum bon sens und vor allem sensus communis gegeben, der größere Rahmen dieser Bestimmung ist jedoch der der Urteilskraft, der wiederum nur als ästhetisch-reflektierender jene Autonomie, ja, letztlich sogar Heautonomie, zugesprochen werden kann, nach der Kant in seinen kritischen Schriften sucht. Mit dieser zugeschriebenen Autonomie ist natürlich, wie schon zuvor, auf die Autonomie des Subjekts verwiesen. Und hier macht es einen signifikanten Unterschied, dass es nun in dieser späten dritten Kritik nur das subjektiv-allgemeingültige, ästhetisch-reflektierende Urteil ist und nicht das bloß reflektierende oder das bloß bestimmende Urteil.45 Es handelt sich um einen feinen, aber sowohl in der Kant- als auch Arendt-Forschung gern unterminierten Unterschied, auf dem aber die gesamte Urteilsakzentuierung in Arendts Denken beruht und auch das gesamte selbstkritische Potential der dritten Kritik gegenüber den vorherigen kritischen Schriften Kants. Denn allein dieser dritten Urteilsform ist ein subjektives Gefühl (der Lust und Unlust) konstitutiv und nur deswegen ist hier ersichtlich, dass die Person des Urteilenden in den Urteilsprozess involviert ist, was die vorherige Vorstellung des allein formalen Subjekts revidiert und zugleich auch als ‚Rehabilitierung des Gefühls‘ bei Kant gelten kann.
Dies gilt aber damit auch für den Autonomie-Gedanken selbst. Sich im Wortsinn selbst das Gesetz zu geben – im wortgeschichtlichen Sinn des griechischen auto für ‚selbst‘ und nomos für ‚Gesetz‘ – ist die Vorstellung von Autonomie und zugleich Umschreibung höchster menschlicher Dignität, die Kant bereits in seinen praktischen Schriften gibt und an die er in der Kritik der Urteilskraft anschließt. Diese Selbstgesetzgebung läuft in der praktischen Vernunft wie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten durch den kategorischen Imperativ über einen Abgleich mit den Anderen als einer geschickten Verschränkung von eigener Bestimmung, mit Blick auf die Anderen in Allgemeinheit als eine Art doppelter Bindung und Verbindlichkeit. Die Selbstgesetzgebung des ästhetisch-reflektierenden Urteils gewinnt demgegenüber einmal durch die Inanspruchnahmen von subjektivem Gefühl, ästhetischem Erleben und Lebensgefühl sowie dem Blick auf konkret andere Urteilende deutlich eigenständigere Züge, in denen sich vor allem potentielle Widerständigkeit und Autonomie im starken Sinne des Wortes abzeichnen – bei allem Ansinnen auf potentielle Zustimmung ist es Kant doch, wie er in einer Fußnote preisgibt, so, dass selbst, wenn viele Kritiker gegen sein Urteil über ein bestimmtes Gedicht stünden, er doch nicht vom Gegenteil überzeugt werden könnte, wenn sein eigenes ästhetisch-reflektierendes Urteil dagegenhält.46
Und gleichzeitig wird der Anspruch auf Allgemeinheit – jedoch nicht im Sinne der Abstraktion, sondern der potentiellen Gemeinsamkeit verstanden – nicht aufgehoben. Es ist ein ‚nicht-subjektives‘ Moment im Sinne einer Überindividualität, wie es auch Arendt bemerkt.47 Der „feine Mensch“ ist bei Kant erst derjenige, „den ein Objekt nicht befriedigt, wenn er das Wohlgefallen an demselben nicht in Gemeinschaft mit anderen fühlen kann“48, und auch im weltbürgerlichen Zusammenhang taucht ein ähnlicher Gedanke in Hoffnung auf die menschliche Gemeinschaft auf, „daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“.49 Nicht zuletzt ist ja auch der sensus communis, mit dem die kantische Urteilskraft versehen ist, das Beurteilungsvermögen, „welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten.“50 Der „allgemeine Punkt der Betrachtung oder Standpunkt“ ist für Arendt insbesondere auch daher durch den Zuschauer verkörpert, der „ein ‚Weltbürger‘ ist oder besser, ein ‚Welt-Zuschauer‘“ – im theatrum mundi.51
8 Ausblick: ‚Fragile Autonomie‘ und Freiheit
Kant bringt den Gedanken einer kritischen Erweiterung der Denkungsart gleichsam noch in aufklärerischer Munterkeit hervor, Arendt scheint schon mit stärkerem Blick auf die Abgründigkeit des modernen Menschen daran interessiert.
Auch wenn Arendt betont, dass man, wenn man urteilt, „als Mitglied einer Gemeinschaft“ urteilt, erhebt doch das ästhetisch-reflektierende Urteil Kants wie Arendts dagegen einen Anspruch auf eine dezidierte Eigenständigkeit und Autonomie, die gleichwohl nicht willkürlich, sondern auf eine potentielle Urteilsgemeinschaft gerichtet ist – im Zweifelsfall aber auch die Kraft und die Widerständigkeit ihr gegenüber besitzt, derer es aus Sicht des eigenen Standpunkts, eben des eigenen Urteils im kritischen Fall bedarf – und dies nicht zuletzt als Kosmopolit oder „Welt-Zuschauer“, wie Arendt sagt. Denn, wenn man auch immer als Mitglied einer Gemeinschaft urteilt, ist man dabei von seinem gemeinschaftlichen Sinn, dem sensus communis, geleitet52, doch in dem zuvor exponierten kritischen Sinn. Das ästhetisch-reflektierende Urteil weist sich so als potentieller ‚Hort der Widerständigkeit‘ aus. Bei Kant erst einmal in der Weise, dass man sich kein X für ein U vormachen lässt53, und in Arendts politisch interessierter Lesart auch als Möglichkeit zivilen Ungehorsams.
Gerade weil der Ästhetisch-Reflektierende auch jemand ist, der selbstkritisch über das eigene Urteil nachdenkt und bewusst Stellung bezieht, kann und wird dieser eigene Standpunkt nicht voreilig aufgegeben. Der Urteilende trachtet gleichzeitig danach, sich über mögliche andere Urteile und Gegenmeinungen aber ebenso stets zu bilden, um damit nicht nur den eigenen Horizont zu erweitern – ohne frühzeitig nach der Anerkennung durch Andere zu schielen. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft beruht hier also vielmehr auf der Dignität jedes einzelnen Urteilenden und nicht auf der Anerkennung durch Andere, wiewohl darauf gehofft und auch daran appelliert wird.
Wenn das Gefühl dem Urteilen konstitutiv ist, stehen wir allerdings durchaus vor der Problematik, dass hier auch – als Kehrseite – ein ‚Hort der Vorurteile‘ stecken mag, wie es Flusser am Heimatbegriff, den er als Heimatgefühl und in deutlicher Anspielung auf Arendt als „Banalität“ entlarvt – und zwar, weil hier etwas ganz Spezielles, aber allen subjektiv Gegebenes, theoretisch unzulässig hypostasiert und sakralisiert wird. Auch deswegen aber, weil die Urteile Bezug zum Gefühl, zur Erfahrung und dem Konkreten haben, ist kritische Reflexion dauerhaft vonnöten. Diese Konkretion, die schon bei Kant im Ästhetischen – und u.U. darüber hinaus – Konstituens des Urteilens wird, mit dem er letztlich die Autonomie des Subjekts erweist, bedeutet aber auch, dass sie mit Autonomie zusammengedacht werden muss, als etwas, was ich als „fragile Autonomie“ bezeichne, deren affektive Anteile sie als etwas Aktives wie Passives lesbar werden lassen und damit ebenfalls Übergänge zu den modernen Phänomenologien aufzeigen.
Von dieser dritten Kritik muss nun Autonomie gedacht werden – und bleibt dauerhaft kritikabel und bedarf daher der kritischen Erweiterung, doch ist es nunmehr eine sich in Urteilsentwürfen erweiternde Urteilskraft und nicht allein Vernunft. Trotzdem bleibt der Rückverweis, die Herkunft des Gedankens bei Kant aus dem Weltbürgertum sprechend, denn auch die sich über den kritischen Abgleich vollziehende eigene Urteils- und Standpunktgewinnung bei Kant und Arendt ist potentiell – räumlich-zeitlich betrachtet – ‚grenzenlos‘ und mit Vilém Flusser, als einem kreativen Rezipienten beider, gesprochen, auch „bodenlos“ im Sinne des Philosophischen als eines urteilskräftigen Denkens, das sich ohne festes Fundament stets bewegt. Der Verweis Arendts mit Kant auf das Erdenrund als „Kugelfäche“ mitsamt dem kosmopolitischen „Besuchsrecht“ und „Gesetz der Hospitalität“, weil wir nun einmal diese Welt miteinander teilen, legt auch den Blick auf die Rundung des Kopfes und dessen Beweglichkeit im kritischen Denken nahe, das gleichsam keinen festen Halt respektive „Boden“ kennt. Flusser stellt seine Überlegungen zum Bodenlosen im Rahmen seiner Schriften zum Migranten an, die sich als mögliche ‚Philosophie einer Migration‘ lesen lassen. Mit dem Verweis auf das Bodenlose ließe sich durchaus die ganze Philosophie als eine der Migration – retrospektiv wie prospektiv – neu lesen und entwerfen.
Ist der Kosmopolitismus, das Weltbürgertum, nun ein um das Moment der Migration erweitertes, alternatives Identitätsangebot – ein Angebot, das von Identität kaum mehr, aber von ihrer potentiellen Beweglichkeit viel Gebrauch machen möchte?
Literaturverzeichnis
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Fußnoten
1 Dem Artikel geht ein Vortrag im Rahmen des 2. Kongresses der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft vom 6.–8.10.2016 zum Thema „Migration und Europa“ an der Universität Vechta voraus, aber es liegen ihm auch eine 2014/15 begonnene Reihe von gleichnamigen oder ähnlich lautenden Forschungsseminaren an verschiedenen Universitäten (FU Berlin, BU Wuppertal, WWU Münster, FU Berlin, Collège international de philosophie in Paris) und weitere Vorträge zugrunde, die ich zu dieser Thematik an verschiedenen Orten gehalten habe: an der Bergischen Universität Wuppertal im dortigen Forschungskolloquium, an der Freien Universität Berlin im Rahmen der „Langen Nacht der Wissenschaften“ im Juni 2017 und zwei Vorträge zusammen mit Moritz Riemann, einmal als Auftakt der Sommervorlesungsreihe zu „Flucht und Migration“ 2016 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und im Rahmen einer Tagung von Polylog an der katholischen Universität in Freiburg im Januar 2017. 2 Wobei zu bemerken ist, dass die Thematik in den Literaturwissenschaften weitaus länger eigens bearbeitet wird. In der Philosophie steht hier noch eine eigene Reflexion weitgehend aus. 3 Siehe Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 2006, S. 31 [Künftig zitiert: Waldenfels: Grundmotive]. 4 Siehe das gleichlautende Kapitel in: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 14. Aufl. München/ Zürich 2011, S. 601–625. 5 In diesem Zusammenhang sind auch Jacques Derridas Überlegungen zur Gesetzeskraft oder der ‚mystische‘ Grund der Autorität, 7. Aufl. Frankfurt a.M. 2014, aufschlussreich. Frz. Ausgabe: Force de loi. Le ‘fondement mystique de l’autorité’. Paris 1990. 6 Arendts nicht unproblematischer, 1943 verfasster Text wird derzeit ob der Situation nahezu ‚wiederentdeckt‘. Siehe Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. 4. durchges. Aufl. Stuttgart 2016, S. 9 [Künftig zitiert: Arendt: Flüchtlinge]. 7 Siehe hierzu Bayles maßgebliches Werk von 1686–1688: Commentaire Philosophique sur ces paroles de Jésus- Christ, ,contrain-les d’entrer. 8 Wörtlich heißt es dort: „das Denken gerät in eine rastlose Flucht der Bewegung“. Wegen der Verbindung zur Kritik ist aber auch die ganze Kommentierung aussagekräftig: „Die raison wog bei Bayle ständig das ‚pour et contre’ gegeneinander aus, sie stieß dabei auf Widersprüche, die stets neue Widersprüche hervorriefen, und so löste sich die Vernunft gleichsam auf in einen ständigen Vollzug der Kritik. Ist die Kritik der scheinbare Ruhepunkt des menschlichen Denkens, dann gerät das Denken in eine rastlose Flucht der Bewegung“. Siehe Reinhart Koselleck: Krise und Kritik. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 1997, S. 89. 9 Wo der oder das Andere oder die Anderen im Verständnis dieser philosophischen Richtung terminologisch aufgefasst sind, erfolgt die Großschreibung. 10 Siehe hierzu exemplarisch die verdichteten Gedanken aus Bernhard Waldenfels´ langjährigen und mehrbändigen Studien zu einer „Phänomenologie des Fremden“ in seiner Schrift: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 2006 [Künftig zitiert: Waldenfels: Grundmotive]. 11 Siehe Waldenfels: Grundmotive, S. 15. Waldenfels´ anthropologische Überlegungen zeigen eine deutliche plessnersche Signatur und weisen auch durchweg Anklänge an Merleau-Ponty auf. 12 Vgl. Waldenfels: Grundmotive, S. 8. 13 Siehe Julia Kristeva: Étrangers à nous-mêmes. Paris 1988. Dt. Ausg.: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a.M. 1990. 14 Siehe Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Mit einem Nachwort von Milton Vargas. Bensheim/Düsseldorf 1992. Hier S. 9 [Künftig zitiert: Flusser: Bodenlos]. 15 Die „philosophische Autobiographie“ wäre in der Tat noch einmal als eigene Form unter den sonst vor allem in den Literaturwissenschaften behandelten Autobiographien abzuheben und zu reflektieren. Seit ihrem Initiator Augustinus versteht sie sich als ‚Selbstsuche‘ und setzt damit bereits konstitutiv ein differenzielles Moment und Spannungsgefüge zwischen suchendem und gesuchtem Selbst: Autor und Werk, Autor und Narration etc. Sie ist damit genuin schon immer mehr oder minder wissentlich in unaufhebbarer Weise um das verlegen, worum es in der Suche geht. Für Augustinus ist diese Suche natürlich primär mit dem Lobpreis Gottes, dem Versuch der Anrufung desselben und auch die Suche nach ihm verbunden, verschränkt sich aber doch auch von Anbeginn mit der suchenden Selbstauseinandersetzung. Philosophisch ist so der Zusammenhang von Selbst und Identität nur als fragiler und gebrochener zu denken. 16 Flusser: Bodenlos. S, 56f. Zum existentiellen, spiel- und haltungstheoretischen Aspekt in Flussers Gedanken siehe auch meinen Beitrag: „Bodenlos. Rien ne va plus oder: alles geht. Über spielerische Haltung bei Vilém Flusser“. In: Play it again, Vilém! Medien und Spiel im Anschluß an Vilém Flusser. Hrsg. v. Hermann Haarmann, Michael Hanke u. Steffi Winkler. Marburg 2015, S. 113–129. 17 Während die philosophische Autobiographie und das Denken selbst vielleicht eher der Figur des „experimentum suitatis“ folgen, wie Arendt es in Zitation beschreibt, ist die Migrationsbiographie hier sogleich eine, in der die einzelne Existenz im Sinne eines sensus communis ein gemeinsames „Laboratorium“ wird. Zu beachten ist dabei auch, dass Flusser hier in ironischer Brechung mit Widerstandsgeist sich etwas ‚zurückerobert‘ und sich eine Metapher für sein Anliegen zu eigen macht, die in der Zeit des Naziregimes keinesfalls bloß Metapher geblieben ist. – Im aristotelischen Gedanken des bios xenikos als Beschreibung für die Philosophen, das „Leben des Fremden“ führen, könnte Arendts und Flussers Auffassung u.U. zusammengedacht werden, weil die Bewegung der Hinwendung auf die Gemeinschaft wie die Abwendung von ihr, beide Bewegungen, zum Fremden gehören. Vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. Hrsg. v. Mary McCarthy. Aus dem Amerik. v. Hermann Vetter. München 1998a. S. 62. Und siehe Flusser: Bodenlos, S. 11. 18 „Wir, die ungezählten Millionen von Migranten […] erkennen uns dann nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft“ und kurz darauf: „als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte“. Siehe Vilém Flusser: „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“. In: Ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Hamburg 2013, S. 15–30. Hier S. 16f. [Künftig zitiert: Flusser: Wohnung]. 19 Simone Weil: L’Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Paris 1943. Dt. Ausgabe: Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten den Menschen gegenüber. Zürich 2011, [Künftig zitiert: Weil: Verwurzelung]. 18 „Wir, die ungezählten Millionen von Migranten […] erkennen uns dann nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft“ und kurz darauf: „als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte“. Siehe Vilém Flusser: „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“. In: Ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Hamburg 2013, S. 15–30. Hier S. 16f. [Künftig zitiert: Flusser: Wohnung]. 19 Simone Weil: L’Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Paris 1943. Dt. Ausgabe: Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten den Menschen gegenüber. Zürich 2011, [Künftig zitiert: Weil: Verwurzelung]. 20 Weil: Verwurzelung, S. 43. 21 Vgl. Flusser: Wohnung, S. 15. 22 Flusser bricht mit seinen Überlegungen gängige Identitätslogiken auf. Dabei ist die enge Bindung von Identität, Natalität und Territorialität nicht nur historisch und aktuell zutiefst problembehaftet, sondern auch philosophisch hochgradig kritisch und als kontingent befragbar und könnte mit einem anders akzentuierten Augenmerk auf Migration ein Stück persönlicher wie gesellschaftlicher (Selbst-)Aufklärung leisten. Siehe hierzu auch die später im Text besprochenen kantischen Interventionen. 23 Siehe auch Flusser: Bodenlos. Darin ebenfalls: „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit (Heimat und Heimatlosigkeit – Wohnung und Gewöhnung)“. S. 247–264. 24 Flusser: Wohnung, S. 16. 25 Ebd., S. 17. 26 Allerdings bemerkt Flusser, dass es dem Zustand genauso wie die französische nostalgie weniger gerecht wird als das brasilianische saudade. Vgl. ebd., S. 18. 27 Ebd. 28 Vgl. ebd., S. 17. 29 Vgl. ebd., S. 27. 30 Flusser: Wohnung, S. 19. 31 Ebd., S. 30. 32 Ebd. 33 Siehe Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 4. Aufl. München 2006 (1967). Amerik. Ausgabe: The Human Condition. Chicago 1958. Kap. 25: „Das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und die in ihm dargestellten Geschichten“, S. 213–222. 34 Zum Zusammenhang von Migration und Freiheit siehe auch meinen Aufsatz: „Die Freiheit des Fremden. Gedanken zur Boden- und Haltlosigkeit“. In: Freiheit und Reflexion. Flusser-Studies, Heft 16, Januar 2014. 35 Arendt: Flüchtlinge, S. 35f. 36 In dieser Weise erscheint der Weltbürger letztlich schon bei Kant im dritten Definitivartikel zum Gesetz der Hospitalität: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“ in seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Siehe Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Werkausgabe Bd. XI. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977a, S. 193–259. Hier bes. S. 213–217. BA 40–48 [Künftig zitiert: Kant: Zum ewigen Frieden]. 37 Vgl. Flusser: Bodenlos, S. 62. 38 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. X. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974. § 40, B 160/A158 [Künftig zitiert: Kant: KdU]. 39 Vgl. Kant: KdU: „Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun); es s i n n e t nur jedermann diese Einstellung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen er die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet.“ S. 130. B 26/A 26 [Hervorhebungen im Original]. 40 Gleichzeitig verwahrt sich Kant vor einer Borniertheit gegenüber anderen Kulturen oder früheren Epochen unter Verweis auf den Erfahrungsbegriff. Jede Zeit und Kultur habe ihre Erfahrungen und keine sei als solche besser oder schlechter als eine andere – so lässt sich zumindest der Anfang von Kants Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte lesen und deuten, denn „dieser darf nicht erdichtet, sondern kann von der Erfahrung hergenommen werden; wenn man voraussetzt, daß diese im ersten Anfange nicht besser oder schlechter gewesen, als wir sie jetzt antreffen.“ Siehe Immanuel Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Werkausgabe Bd. XI. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977b, S. 83–102. Hier S. 85, A 2. 41 Kant: Akad.-Ausg. Bd. 15: Reflexionen zur Anthropologie, Nr. 897. S. 392. Und siehe ebenfalls Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. und mit einem Essay v. Ronald Beiner. Aus dem Amerik. v. Ursula Ludz. München/Zürich 1998b, S. 56 [Künftig zitiert: Arendt: Urteilen]. 42 Flusser: Wohnung, S. 26f. 43 Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden, S. 214. BA 41f. 44 Kant wehrt damit nahezu vorausschauend einen Gedanken ab, der dann unter dem Begriff ‚Nation‘ im Grunde erst im 19. Jahrhundert seine uns bis heute drückende Gestalt gewinnt. 45 Zur Bedeutung des subjektiv-allgemeingültigen, ästhetisch- reflektierenden Urteils siehe auch meine diversen Studien: Frauke A. Kurbacher: Urteilskraft als Prototyp – Überlegungen zur ‚ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft‘ im Anschluß an Kant. In: Frithjof Rodi: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Weilerswist 2003, S. 185–195. Und dies.: Selbstverhältnis und Weltbezug. Urteilskraft in existenz- hermeneutischer Perspektive. Würzburg 2005. 46 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 214. B 141f/A 140. 47 Vgl. Arendt: Urteilen, S. 90. 48 Ebd. 49 Kant: Zum Ewigen Frieden, S. 215f. BA 44ff. [Hervorhebung von der Autorin]. Hier ist natürlich auch wieder jene im kantischen Zusammenhang gegebene Nähe von ästhetischem zum moralischen Gefühl virulent. 50 Kant: KdU. § 40, B 155ff./A153ff. 51 Vgl. Arendt: Urteilen, S. 79f. 52 Vgl. ebd., S. 100. 53 Vgl. nochmals Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 214. B 141f/ A 140.