Jonas Nesselhauf: „Migration und Europa in kulturwissenschaftlicher Perspektive“ Zweite Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG), Universität Vechta, 6.–8.10.2016

Die „Flüchtlingskrise“ der vergangenen Monate und Jahre, die sich im September 2015 zuspitzte, als Hunderttausende, vor allem syrische Bürgerkriegsflüchtlinge, in Europa ankamen, stellt ohne Zweifel einen gravierenden zeitgeschichtlichen Einschnitt dar. Die noch immer gegenwärtigen Entwicklungen führen dazu, dass sich Europa (als Kontinent wie auch als Staaten- und Wertegemeinschaft) auf bislang noch unabsehbare Weise verändert. Die Flüchtlingssituation stellt die Gesellschaften nicht nur vor logistische und politische Herausforderungen, sondern bringt auch zwangsläufige Veränderungen im sozialen Gefüge mit sich – von der Integration der Geflüchteten bis zum Kampf gegen Populismus und rassistische Vorurteile. Dabei war Migration seit jeher ein zentrales Element in und für Europa: Völkerwanderungen, der Kulturkontakt durch Reisen sowie Expansion und Kolonialisierung waren jahrhundertelang geradezu die Bedingung für ökonomisches Wachstum und soziokulturelle Veränderung und Entwicklung.

Auf Einladung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG) kamen vom 6. bis zum 8. Oktober 2016 fast 50 ReferentInnen zur zweiten Jahrestagung in Vechta zusammen, um über das aktuelle Thema der Migration, ihre Potenziale und Herausforderungen zu diskutieren. Organisiert wurde die dreitägige Konferenz, bestehend aus insgesamt 16 Panels sowie Workshops von gut einem Dutzend KWG-Sektionen, von Gabriele Dürbeck, Vorsitzende der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft, gemeinsam mit Monika Albrecht (Kulturwissenschaften) und Christine Vogel (Geschichte).

Die Themen reichten dabei von Konzepten interkultureller Anerkennung und postmigrantischer Kulturforschung über Diskurse und Praktiken des Migrationsalltags bis hin zu literarischen, ästhetischen, (massen-)medialen oder künstlerisch-objektbezogenen Darstellungen von Migration. So beschäftigte sich beispielsweise ein von Ulrike Steierwald (Lüneburg) organisiertes Panel mit „Übersetzten Figurationen: Räumliche Entwürfe europäischer ‚Kultur‘“ und legte dabei den Fokus auf aktuell gewordene Metaphern wie dem ‚Haus Europa‘ oder Aussagen wie „das Boot ist voll“ (Achatz von Müller, Basel/Lüneburg); ebenso wurden aber auch symbolische und kulturelle Raumkonstruktionen der „Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremden“ (Rolf Parr, Duisburg-Essen) hinterfragt. Ein weiteres Panel beschäftigte sich dezidiert mit der Materialität von Flucht und damit einem Thema, das in den vergangenen Monaten und Jahren verstärkt in den öffentlichen Fokus rückte. Besonders symbolträchtig sind wohl Aufnahmen von an den Mittelmeerküsten angespülten Schlauchbooten und Rettungswesten, und so gibt es inzwischen ebenso künstlerische Projekte, die aus diesen Relikten der Flucht Taschen und Rucksäcke fabrizieren, während Künstler wie Ai Weiwei oder Manaf Halbouni Schlauchboote oder Linienbusse zu mahnenden Kunstwerken werden lassen. Eine solche (materielle) Darstellbarkeit von Migration und individuellen Schicksalen stand im Zentrum des Panels „Migrationsgeschichten in Objekten“. Vorträge von Chris Zisis (Hamburg) und Stefan Krankenhagen (Hildesheim) konnten dabei Forschungsprojekte vorstellen, die sich mit (Un-) Möglichkeiten der musealen Ausstellung individueller Migrationserfahrungen auseinandersetzen.

Immer wieder aber auch standen literarische (und damit fiktive oder fiktionale) Texte im Mittelpunkt der Vorträge, beispielsweise mit Elfriede Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen (2013), das vor dem Hintergrund der „Flüchtlingskrise“ an vielen Theatern der Republik aufgeführt wurde (Romana Weiershausen, Saarbrücken), mit der Analyse von kulturellen Differenzen und Prozessen der Begegnung in Emine Sevgi Özdamars „Istanbul-Berlin-Trilogie“ (Carmen Ulrich, Wuppertal) oder mit der Untersuchung von dezidierten Nicht-Orten der Migration in Texten von Herta Müller und Jenny Erpenbeck (Timo Sestu, Erlangen). Diese Vorträge konnten dabei an den Eröffnungsabend mit einer musikalischen Lesung im Rathaus der Stadt Vechta anknüpfen: Dort trug Siegfried Maschek, Schauspieler am Theater Bremen, begleitet vom Jazzpianisten Frederik Feindt, literarische Texte individueller Migrationserfahrungen von Heinrich Heine bis Yoko Tawada und von Bertolt Brecht bis Abbas Khider vor.

Den Abschluss der drei Konferenztage bildete wiederum eine Podiumsdiskussion zum Leitthema „Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Migration und Europa“, die abschließend versuchte, verschiedene Debatten und Theorien zu bündeln. Moderiert von Christian Geulen (Koblenz) und Christine Vogel (Vechta) kamen dabei Manuela Bojadžijev (Lüneburg), Radostin Kaloianov (Interface Wien), Michael Klemm (Koblenz) sowie Doris McGonagill (Utah State University) zusammen, wobei die Runde mit VertreterInnen aus den Literatur-, Geschichts-, Medien- und Sozialwissenschaften die während der Tagung diskutierten Aspekten fruchtbar aufgreifen und zuspitzen konnte. So wurde beispielsweise die oft aus den Medien kommende Frage nach der „Willkommenskultur“ ebenso angerissen wie die mit Sicherheitsbedürfnissen zu vereinbarende, viel grundlegendere und auf die Zukunft ausgerichtete Frage: „Wie wollen wir zusammenleben?“, die zu neuen sozialen Modellierungen herausfordert und die Anerkennung jedes einzelnen unabhängig von seiner Herkunft voraussetzt. Dabei wurde deutlich, dass die Migrationsforschung oft selbst kulturalistisch geprägt ist und erst „entmigrantisiert“ (Bojadžijev) werden müsse, damit der analytische Blick frei wird für die theoretische Etablierung und Anwendung von offeneren Konzepten für eine durch Diversität geprägte, postmigrantische Gesellschaft.

Von den facettenreichen Panels abgesehen ist die Jahrestagung – neben der Mitgliederversammlung – auch der Ort für die Workshops der einzelnen Sektionen der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft, die teilweise das Tagungsthema aufnahmen, darüber hinaus aber auch Raum für einen inhaltlichen Austausch und die Fortführung der Sektionsarbeit boten. So kamen beispielsweise die „Kulturwissenschaftlichen Netzaktivisten“ ebenso in Vechta zusammen wie über ein Dutzend Sektionen oder das KWG-Netzwerk „Kritische Methodologie“. Zusätzlich widmete sich ein gut besuchtes Nachwuchspanel am ersten Konferenztag den Themen Kulturvermittlung und Berufspraxis.

Insgesamt konnte das breitgefächerte Rahmenthema „Migration und Europa in kulturwissenschaftlicher Perspektive“ so während dieser drei Tage ein großes inhaltliches Spektrum von Ansätzen und Fragestellungen zusammenbringen. Ein Großteil der Beiträge nahm dabei direkt Bezug auf die Frage, welchen Beitrag die Kulturwissenschaften bei der Bewältigung und kritischen Reflexion der gegenwärtigen kulturellen und sozialen Wandlungsprozesse leisten können und inwieweit sich damit auch der kulturwissenschaftliche Blick auf Migration in und auf Europa verändert. So wurde in den Panels gefragt, wie sich Europa in Zukunft entwirft, welche Werte und Ideale es vertritt und was Europäisch-Sein meint, ohne in den alten Eurozentrismus oder gar in längst überwunden geglaubte Feindbilder und Abgrenzungsdiskurse zu verfallen. Auch der Begriff der „multikulturellen Gesellschaft“ wurde kritisch diskutiert und verdeutlicht, dass neuere Konzepte wie das der ‚postmigrantischen Gesellschaft‘ angemessener sind, da sie kulturelle Differenzen und die Schwierigkeiten von Integration und Zusammenarbeit berücksichtigen. Insgesamt zeigte die Konferenz und ihre dezidierte kulturwissenschaftliche Perspektive damit das breitgefächerte Spektrum des zeitaktuellen wie gesellschaftlich hoch relevanten Themas auf und brachte neue Forschungsansätze und Neulektüren von theoretischen Ansätzen mit literarischen oder kuratorischen Fallbeispielen und ethnologischer Feldforschung fruchtbar zusammen.

Das Programm der Konferenz „Migration und Europa in kulturwissenschaftlicher Perspektive“ und weitere Informationen finden sich auf der offiziellen Konferenz-Seite:

<https://www.uni-vechta.de/kulturwissenschaften/tagung-migration-und-europa/>

Die dritte Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft fand vom 16.–18. November 2017 an der Universität Gent unter dem Thema „Bewegende Körper/Bodies in Motion“ statt.