Anna Petrova & Reinhold Schmitt: „Demonstrative“ und „partizipative“ Ritualität: Totensonntagserinnern in einem deutschen und einem russischen Gottesdienst
Abstract: This article explores how close one can come to a cultural-scientific perspective on the basis of a constitution-analytical methodology. We do this on the basis of a comparison of the celebration of Totensonntag in Zotzenbach (Southern Hesse) and Sarepta (Wolgograd). In both places, there are protestant churches that perform this ritual to commemorate the dead on this “Sunday of the Dead” as a part of their church service. Our scientific interest lies in the reconstruction of the rituality produced during the in situ execution. In both services, the names of the deceased are read out and a candle is lit for each deceased person. In Zotzenbach the priest reads out the names and an assistant ignites the candles for the deceased, whereas in Sarepta the bereaved are responsible for this. Since the ritual is organised in very different ways in terms of architecture-for-interaction (statically in Zotzenbach, spatially dynamic in Sarepta), we can reconstruct two completely different models of rituality: a demonstrative one (Zotzenbach) and a participative one (Sarepta). The demonstrative model works on the basis of a finely tuned coordination between the two church representatives and is aimed at a dignified execution. The model in Sarepta is not suitable for the production of formality due to its participatory structure. Here, however, the focus is also on the aspect of socialization, which goes beyond the church service and offers the Russian-German worshipers the opportunity to situationally constitute as a culturally homogeneous group.
Keywords: multimodality, multimodal interaction analysis; architecture-for-interaction; social topography; church service; rituality
1 Einleitung und Erkenntnisinteresse
Wir unternehmen mit diesem Beitrag den Versuch, Möglichkeiten und Grenzen, auszuloten, die sich ergeben und mit denen man konfrontiert wird, wenn man wissen will, wie weit man mit einer fallbezogenen Konstitutionsanalyse (und zunächst unter motiviertem Ausschluss ethnografischer Informationen und kulturhaltiger Kontextbeschreibungen) in falltranszendierender Weise in Begriffen und Vorstellungen von primär sozialer, aber im weiteren Sinne auch kultureller Relevanz kommt. Wir unternehmen diesen Versuch auf der Grundlage einer fallbasierten Kontrastierung zweier Beispiele des Vollzugs desselben gottesdienstlichen Rituals (das Totensonntagserinnern) in zwei verschiedenen Kirchen. Die zentrale Frage ist dabei für uns: Welche Hinweise auf soziale und kulturelle Relevanzen produzieren die Daten und was davon ist konstitutionsanalytisch erfassbar?
Das sind Fragen, die im Kontext konversationsanalytischer Untersuchungen in der Regel nicht im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen. Und auch der nächste Schritt in Richtung soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Weiterführung im Sinne einer Reflexion konstitutionsanalytisch produzierter Ergebnisse steht nicht ganz oben auf der konversationsanalytischen Relevanzliste. Wir wollen mit unserem Beitrag zum einen den fallbezogenen Implikationen der ersten Frage nachgehen und zum anderen zumindest ansatzweise zeigen, was auf der Grundlage einer konstitutionsanalytischen Methodologie mögliche und notwendige erste Schritte sein können. Der Schwerpunkt liegt dabei jedoch auf der konstitutionsanalytischen Rekonstruktion der implikativen Relevanzen unserer empirischen Grundlagen.
Unser Beitrag ist also kein kulturwissenschaftlicher und man kann zu Recht fragen, was er dann in einer kulturwissenschaftlichen Zeitschrift zu suchen hat.2 Wir würden eine solche Frage wie folgt beantworten: Wir verstehen unseren Beitrag als ein doppeltes Diskussionsangebot: Zum einen ist es ein Angebot in Richtung empirischer Interaktionsforschung konversations- oder gesprächsanalytischer Provenienz, die sich in der Regel, wenn überhaupt, nicht analytisch, sondern im Bereich ihrer theoretischen Grundlagen mit kulturellen Voraussetzungen und sozialstrukturellen Implikationen ihres Untersuchungsgegenstandes und ihrer Fragestellungen auseinandersetzen. Zum anderen richtet sich das Diskussionsangebot an die Kulturwissenschaft, die ihren empirischen Grundlagen in der Regel einen bereits wesentlich stärker theoretisierten und theoriehaltigen Status zuweist und Interaktionsdokumente immer schon unter der Perspektive von theorierelevanten Belegen versteht.
Noch eine zweite Bemerkung müssen wir aufgrund unseres Titels machen, um keine Erwartungen zu wecken, die dann durch unsere Analyse enttäuscht werden. Die Aufnahmen aus beiden Gottesdiensten werden nicht systematisch ethnografisch flankiert. Wir haben auf die Durchführung ethnografischer Interviews und deren Auswertung verzichtet. Wir befragen keine Informand/innen und zielen auch nicht auf die Rekonstruktion der kulturellen Perspektive und Deutungsmuster der Beteiligten in ihren Worten.3 Diese Entscheidung ist methodisch motiviert und methodologisch reflektiert. Sie hat ihren Ursprung in unserem zentralen Erkenntnisinteresse. Uns geht es – obwohl wir einen deutschen und einen russischen Fall kontrastiv analysieren – im engeren Sinne nicht um einen interkulturellen Vergleich, was aus kulturwissenschaftlicher Sicht enttäuschend sein mag. Unser Hauptaugenmerk liegt auf dem multimodal-raumanalytischen Vergleich des Vollzugs desselben Rituals in zwei lutherischen Kirchengemeinden. Dass der sprachliche Teil des Vollzugs dabei ganz offensichtlich in zwei verschiedenen Sprachen und in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen realisiert wird, ist Bestandteil und Relevanz unserer Daten. Für uns als Analytiker stellt diese Tatsache eine auferlegte thematische und methodisch-methodologische Relevanz dar, der wir im Rahmen unseres fallkontrastiven Ansatzes nachkommen. Obwohl also eine Analyse mit (inter-)kulturell tragfähigen Aussagen nicht unser primäres Erkenntnisinteresse ist, ‚zwingt‘ uns diese Relevanz in eine – aus konstitutionsanalytischer Perspektive – erweiterte sozialstrukturelle und kulturreflexive Perspektive.
Dass wir dies methodisch motiviert und im Rahmen unseres konstitutionsanalytischen Ansatzes tun, führt dazu – was nicht unbedingt gängiger kulturwissenschaftlicher Praxis entspricht und daher vielleicht etwas unverständlich erscheinen mag –, dass wir relevante ethnografische Informationen und kulturrelevante Verweise erst nach der Fallanalyse einbringen. Die Kosten dieser forschungslogischen Sequenzierung, die aufgrund unserer konstitutionsanalytischen Primärorientierung zustande kommt, bestehen, wenn man eine stärkere initiale Kontextualisierungserwartung hat, in einer Art Verspätungserfahrung.
Wir sind mit unserem fallbasierten, multimodal-raumanalytischen Erkenntnisinteresse nicht nur hinsichtlich der Frage, wann wir auf relevante ethnografische Informationen zurückgreifen, gemessen an kulturwissenschaftlichen Erwartungen sehr zurückhaltend. Wir beabsichtigen darüber hinaus auch nicht, auf der Grundlage von zwei Fällen Aussagen darüber zu machen, ob die analysierten Beispiele eventuell typisch für den Vollzug des Totensonntagserinnerns in Deutschland und Russland sind. Wir nutzen die beiden Fälle vielmehr in erster Linie dazu, den Prozess der situativen und multimodal-raumbasierten Konstitution zweier unterschiedlicher Formen von Ritualität im Rahmen einer minimalen Kontrastierung zu rekonstruieren.
Auch wenn wir einen solchen engen Fokus haben, sehen wir unsere konstitutionsanalytische Rekonstruktion von Ritualität in theoretischer Nachbarschaft mit kultursoziologischen Arbeiten zur „Ordnung der Rituale“ (Soeffner 1992) und zur „Soziologie des Symbols und Rituals“ (Soeffner 2010). Unser grundsätzliches Verständnis religiöser Vergesellschaftung fußt in den religionssoziologischen Arbeiten von Luckmann (1967, 1988, 1996) und den Studien zu modernen Gottesdienstformen von Knoblauch (1999, 2009). So interessant und inspirierend diese Arbeiten sind: Sie sind für unser konkretes analytisches Vorhaben aufgrund der multimodal-raumbasierten Komplexität der Interaktionsdokumente und unserem Interesse an der detaillierten Rekonstruktion der situativen Konstitution von Ritualität nicht unmittelbar orientierungsleitend. Unsere Annäherung an Aspekte, die für ein kulturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse zentral sind, erfolgt also nicht über den expliziten Anschluss an theoretisch-konzeptionelle Überlegungen, sondern über die Spezifik unserer Daten – und forschungslogisch daher zu einem ‚späten‘ Zeitpunkt.
Nachdem wir uns zunächst zur präventiven Bearbeitung möglicher Missverständnisse und Fehlerwartungen eher dazu geäußert haben, was unser Beitrag nicht ist, wollen wir nun darlegen, was genau wir tun werden.
Wir analysieren in diesem Beitrag auf der Grundlage einer raumbasierten, multimodalinteraktionsanalytischen Methodologie den Vollzug eines religiösen Rituals, das seinen festen Platz im Kirchenjahr hat und nur einmal im Jahr vollzogen wird. Das Ritual findet in evangelischen Kirchen als Bestandteil der gottesdienstlichen Liturgie am letzten Sonntag des Kirchenjahres, dem so genannten Totensonntag oder Ewigkeitssonntag, statt. Im Rahmen dieses Rituals wird an die Verstorbenen erinnert, indem deren Namen vorgelesen werden und für jeden Verstorbenen eine Kerze entzündet wird. Mit diesem Erinnerungsritual wird – aus religiöser Sicht – zum einen der Verstorbenen gedacht (daher Totensonntag), zum anderen wird die Angst vor dem Tod durch die Perspektive auf ein ewiges Leben nach dem Tod bearbeitet (daher auch Ewigkeitssonntag). Wir beschäftigen uns mit diesem Erinnerungsritual aus einer vergleichenden Perspektive. Unsere empirischen Grundlagen sind Videoausschnitte aus zwei Gottesdiensten, die am 20.11.2016 zum einen in Sarepta (Wolgograd) und zum anderen in Zotzenbach (Südhessen) aufgezeichnet wurden.
Bei den beiden Ritualvollzügen handelt es sich um einen minimalen Kontrast, denn die Ausschnitte sind weitgehend vergleichbar. Dies gilt für den Zeitpunkt der Aufnahme, für die konfessionelle Zugehörigkeit der dokumentierten Gemeinde (lutherische Kirchengemeinde) und die basale Struktur: Verlesen der Namen Verstorbener und Entzünden einer Kerze für jeden Verstorbenen. Auf der Grundlage dieser Vergleichbarkeit unterscheiden sich die Aufnahmen jedoch hinsichtlich folgender Merkmale: dem Aufnahmeland (Russland und Deutschland), der Sprache des rituellen Vollzugs (russisch und deutsch), der Interaktionsarchitektur der Kirchenräume und des Altarbereichs, der Raumnutzung während des Rituals sowie der Beteiligungsstruktur.
Diese Spannung von Übereinstimmung und Differenz liefert zum einen fallbasierte Einblicke in das Varianzspektrum, in dem dasselbe liturgische Element faktisch vollzogen werden kann. Und sie eröffnet zum anderen die Möglichkeit, in der Spezifik des jeweiligen Vollzugs mehr als nur eine Zufälligkeit zu sehen: nämlich den motivierten Ausdruck eines gottesdienstlichen Konzepts, das dem Erinnerungsritual zugrunde liegt, das auf Strukturen der Institution verweist und über deren gesellschaftliche und kulturelle Prägung Auskunft gibt.
Wir gehen von folgender Annahme aus: Der Zugang zu der spezifischen Bedeutung des Erinnerungsrituals für die vollziehende Institution, die beteiligte Gemeinde und die Hinterbliebenen führt nur über die genaue Analyse der Vollzugsspezifik der beiden Erinnerungsrituale. Grundlage dieser Annahme ist die ethnomethodologische Perspektive, wonach Gesellschaftsmitglieder ihre soziale Umwelt im Moment des interaktiven Vollzugs verstehen und als soziales Faktum, das heißt als real existierend, begreifen. Bergmann (1981, 12) hat diese zentrale ethnomethodologische Vorstellung von Garfinkel (1967) in der Formulierung einer „Vollzugswirklichkeit“ verdichtet.
Wir betrachten die Spezifik des jeweiligen Vollzugs als die empirische Grundlage der Rekonstruktion von Ritualität. Die rekonstruierte Ritualität wiederum eröffnet den empirisch basierten Zugriff auf einen wesentlichen Aspekt der situativen Produktion religiöser Bedeutung und auf ein wichtiges Element religiöser Vergesellschaftung insgesamt.
2 Rituelle Kommunikation und Ritualität des Verhaltens
Mit unserem Erkenntnisinteresse an Ritualität im Gottesdienst bewegen wir uns in dem Bereich der Untersuchung institutioneller Kommunikation. Während es präferiert untersuchte Institutionen gibt, zu denen umfangreiche empirische Untersuchungen durchgeführt wurden (beispielsweise Schule, Gerichtssaal, Universität, Arztpraxis, Betrieb, Wirtschaftsunternehmen und Krankenhaus), besitzt die Kirche diesbezüglich eine eher randständige Bedeutung: Es gibt nur wenige Untersuchungen, die sich mit Kommunikation in der Kirche beschäftigt haben. Eine der einschlägigen stammt aus den 1990er-Jahren und beschäftigt sich mit Gottesdienst als prototypisches Beispiel für rituelle Kommunikation (Paul 1990)4. Paul grenzt sich von der Position von Leach (1978) und Werlen (1984) ab, die sich bei ihren Analysen rituellen Handelns auf das Formular oder die Partitur des Rituals im Sinne einer ablaufschematischen Ordnungsstruktur – in der Formulierung von Werlen (1984, 148) „eine klar strukturierte, klar kodifizierte Handlung (respektive Folge von Handlungen)“ – beziehen. Demgegenüber formuliert er als zentrales Argument: Für die Konstitution ritueller Bedeutung ist gerade nicht das Formular oder die Partitur verantwortlich (Paul 1990, 17), sondern spezifische, subjektgebundene Verhaltensweisen beim Vollzug des Rituals (Paul 1990, 11). Dies ist ein Aspekt, der in unseren eigenen Analysen in besonderer Weise sichtbar wird.
Ein weiterer Punkt, der für unsere Untersuchung eine Rolle spielt, ist das Verhältnis von Ritualitätsvollzug und Institution, mit dem sich Paul (1983) beschäftigt hat. Es ist vor allem die ethnomethodologische Vorstellung, dass ein Ritual als Bestandteil institutioneller Ordnung (wie andere Ordnungsstrukturen auch) situativ vollzogen, dass es gesprochen und verkörpert werden muss, um seine volle Wirkung zu entfalten, die wir mit Paul teilen5. In einem wichtigen Punkt haben wir die ethnomethodologische Perspektive jedoch radikalisiert, denn wir sind im eigentlichen Sinne nicht am Erinnerungsritual als Bestandteil der totensonntäglichen Liturgie interessiert. Dieses Ritual setzen wir gewissermaßen als Bedingung unseres analytischen Erkenntnisinteresses voraus und beschäftigen uns konkret mit folgenden Fragen: Welche soziale Bedeutung wird durch den spezifischen Vollzug des Rituals situativ produziert? Wer sind die zentralen Agenten des Vollzugs und welche Beteiligungsstruktur (bezogen auf alle Anwesenden) liegt dem Vollzug zugrunde? Welche Vorentscheidungen gehen dem spezifischen Vollzug des Rituals voraus? Um diesen spezifischen Erkenntnisfokus zu verdeutlichen, sprechen wir im Titel auch nicht vom Erinnerungsritual, sondern von zwei Formen ritueller Sinnkonstitution, die wir als Ritualität bezeichnen. Dieser Sinn wird in situ und kollektiv produziert. Hierdurch und durch das handlungsimplikative Totensonntagserinnern verdeutlichen wir die Qualität und Eigenschaft unseres Erkenntnisgegenstands als faktisches Vollzugshandeln, das wir (im gegebenen Darstellungsrahmen) in seiner gesamten multimodal-räumlichen Komplexität rekonstruieren.
Da wir auf einer audiovisuellen Basis arbeiten, haben wir teilweise gänzlich andere Einblicke in die Struktur dieser Vollzugsnotwendigkeit ritueller Bedeutung, die Paul bei seiner Untersuchung nicht zur Verfügung hatte. Der rituelle Vollzug wird nun nicht nur in seiner monomodalen Reduktion auf Verbalität, sondern in seiner faktischen multimodal-räumlichen Komplexität analysierbar. Nur wenn alles Hör- und Sichtbare in seiner unausweichlichen räumlichen Bindung in den analytischen Fokus gerückt wird, werden Einsichten in die Konstitution ritueller Bedeutung deutlich, die gerade auch in ihrem mikrostrukturellen Zusammenspiel die zentrale Grundlage für die Konstitution von Ritualität darstellen. Rituelles Sprechen ist unter diesen Bedingungen nur noch ein Teil von „embodied interaction“ (Streeck/Goodwin/ LeBaron 2011).
Die punktuelle Beschäftigung mit Interaktion in der Kirche, die aus dem Anfang der 1990erJahre datiert, wurde nachfolgend nicht weitergeführt, obwohl es ein ungebrochenes Interesse an institutioneller Kommunikation gab. Die gleiche Einschätzung trifft auch auf linguistische Untersuchungen im Bereich Religiöser Diskurs zu. Dementsprechend wurde das Verhältnis von Sprache und Religion kürzlich als „unzureichend untersuchter Bereich“ (Lasch/Liebert 2015, 477) charakterisiert. Gleichwohl existiert ein anhaltendes, jedoch eher punktuelles Interesse an diesem Untersuchungsgegenstand (siehe beispielsweise Cölfen/Enninger 1999; Bayer 2004; Greule/Kucharska-Dreiss 2011; Greule 2012). Gleichzeitig wurde darauf verwiesen, den Aspekt „Sprache der Religion“ soziolinguistisch zu fassen und als funktionale Varietät zu verstehen (Lasch/Liebert 2015, 481–487). Der aktuelle Forschungsstand ist jedoch ungenügend, und unser Wissen über die Kirche als Interaktionsraum und über die linguistische, pragmatische und interaktionsräumliche Spezifik dieser Form institutioneller Kommunikation ist überschaubar.6
Es gibt inzwischen vereinzelte Studien, die auf der Grundlage audiovisueller Dokumente und im Rahmen multimodal-räumlicher Konzepte zeigen, mit welchem Erkenntnisgewinn Interaktion im Kirchenraum untersucht werden kann. So wurde beispielsweise untersucht, wie Konfirmanden sich in ihrer kollektiven sozialen Zugehörigkeit dadurch positionieren, dass sie in den Altarraum gehen, dort ihre Konfirmandenkerze an der Osterkerze anzünden und wieder zurückkehren zu ihren angestammten Plätzen in reservierten Kirchenbänken (Schmitt 2012a). Eine andere Studie analysierte die sozialräumlichen Implikationen, die für die Konfirmanden mit einer erloschenen Osterkerze zusammenhängen (Schmitt 2012b). Eine dritte Studie fokussiert die Tatsache, dass die Konfirmanden den Abschluss der Kirchenbank berühren, wenn sie in die Bank eintreten oder sie verlassen (Schmitt 2013b). Diese Berührung wurde konzeptualisiert als Ausdruck dafür, dass hier ein relevanter Aspekt des räumlichen Settings geschaffen und angezeigt wird.
Hausendorf/Schmitt (2010) gehen der grundsätzlichen Frage nach, wann eigentlich der Gottesdienst beginnt und sich die spezifische Form religiöser Vergesellschaftung in Gang setzt. Hausendorf/ Schmitt (2016b) zeigen, dass bei der Analyse ritueller Kommunikation im Gottesdienst die Interaktionsarchitektur und das sozialtopografische Wissen eine zentrale Rolle bei der Analyse von Ritualität als konstitutivem Element institutioneller Kommunikation in diesem Funktionsraum spielen.
Vorstellungen von Ritualisierung rahmen und leiten in der Regel die Analyse von Aktivitätszusammenhängen, die in unterschiedlichen Dimensionen ritualisiert sind (Bell 1992, 1997). Es sind vor allem drei Dimensionen, die dabei eine zentrale Rolle spielen:
Formalisierung: Ritualisierte Aktivitäten folgen Konventionen, die wichtiger sind als individuelle Entscheidungen oder die pragmatische Adaption an situative Bedingungen und Gegebenheiten (siehe beispielsweise Bloch 1989; Rappaport 1999, 26). Für den von uns untersuchten Fall existiert eine solche Formalisierung ebenfalls. Man kann in der Kirchenordnung nachlesen, dass es Bestandteil des Vollzuges dieses Erinnerungsrituals ist, dass die Namen der Verstorbenen vorgelesen werden und für jeden Verstorbenen eine Kerze entzündet wird. Weiterhin erfolgt der Hinweis, dass es grundsätzlich zwei Möglichkeiten des Anzündens der Kerzen gibt: Entweder werden sie von einem Kirchenvertreter entzündet oder von Angehörigen der Verstorbenen. Es werden dann noch Vorschläge formuliert, wo die Kerze stehen kann, an der die Anzünder ihre Kerze entzünden und wo die Verstorbenen-Kerze dann ihren Platz finden kann.
Die beiden Videoausschnitte repräsentieren genau diese beiden Möglichkeiten (die Lösungen für das Problem Kerze entzünden), sodass die Folgen beider Varianten für die Strukturierung des Gesamtereignisses sichtbar werden.
Wiederholung und Invarianz: Ritualisierte Aktivitäten werden charakterisiert durch die Bedeutung von Wiederholung („punctilious concern with repetition“, Bell 1997, 150). Im Hinblick auf diesen Aspekt sind beide Aufnahmen von prototypischer Qualität, da wir die mehrfache und invariante Realisierung desselben Handlungszusammenhangs dokumentiert haben. Wir können also in unserem Fall der Produktion und Wirkungsweise von Ritualität sozusagen auf engstem Raum und als vielfache Wiederholung zusehen und zuhören und dabei die Konstitution von Ritualität wie unter einem Mikroskop betrachten.
Rückgriff auf Traditionen: Die Relevanz der Tradition kann zwei unterschiedliche Formen annehmen. Zum einen können Traditionen durch die explizite Referenz auf Handlungen und Bedeutungen ausgewiesen werden, die vor langer Zeit etabliert worden sind (Wagner 2007, 21). Zum anderen können frühere Verhaltensweisen und Handlungen habituell und damit implizit reproduziert werden (Bourdieu 1993, 39). Dies ist ein Aspekt, der in unseren Dokumenten ebenfalls eine Rolle spielt, primär beim Erinnerungsritual in Sarepta.
Bei Bells Vorstellung von ritualisierter Interaktion als sowohl strukturierter als auch als strukturierender Aktivität wird zudem die Struktur der Gruppe verkörpert und reproduziert, die hinter dem Ritual steht (Bell 1997, 79). Wir werden auf diesen Aspekt zurückkommen und danach fragen, welche Konzeptionen von Gottesdienst sich für Sarepta und Zotzenbach tatsächlich aus der jeweiligen Vollzugsqualität desselben Rituals ableiten lassen.
3 Methodische und konzeptionelle Grundlagen
Die Analyse des Erinnerungsrituals erfolgt auf der Grundlage der multimodalen Interaktionsanalyse7 sowie der interaktionistischen Raumanalyse (Hausendorf/Schmitt/Kesselheim 2016, Hausendorf/Schmitt 2017). Theoretischer Rahmen ist dabei die konzeptionelle Trias von Interaktionsarchitektur, Sozialtopografie und Interaktionsraum8.
Bei der Interaktionsarchitektur gehen wir von der Kernvorstellung aus, dass bei allen Räumen, vor allem jedoch bei institutionellen Funktionsräumen, die gebaute Architektur Teil des sozialen Ereignisses ist. Die Architektur solcher Funktionsräume ist speziell für die Interaktion entwickelt worden, die in ihnen stattfindet und stellt gebaute Lösungen für rekurrente Probleme zur Verfügung, die mit dieser Interaktion zusammenhängen. Gesellschaftliche Funktionsräume stellen in zugespitzter Weise Ressourcen für die Interaktion zur Verfügung, wobei diese Ressourcen der Interaktion gegenüber vorgängig existieren. Daher ist es eine der ersten Aufgaben der interaktionistischen Raumanalyse genau diese Ressourcenqualität im Sinne von „Benutzbarkeitshinweisen“ (Hausendorf/Kesselheim 2013, 2016) zu rekonstruieren. Die Rekonstruktion erfolgt unabhängig von der in den Videodokumenten sichtbaren Raumnutzung und ist (bezogen auf die konkrete Interaktion) weitgehend interpretationsfrei und sozial-kulturell unspezifisch. Hier geht es vielmehr um die Möglichkeiten, die der Raum – bezogen auf die menschliche Sensorik und Motorik – in Begriffen von Wahrnehmbarkeit und Benutzbarkeit bietet: Welche Angebote macht der Raum für die visuelle Wahrnehmung, für die Möglichkeit, sich in ihm zu bewegen, zu verweilen und Gegenstände der innenarchitektonischen Ausstattung zu benutzen und zu berühren? Für die Beantwortung dieser Frage wurde das Konzept Interaktionsarchitektur als theoretischer Rahmen entwickelt.9
Die Frage, welche sozialen und kulturellen Implikationen damit jeweils verbunden sind und was konkrete Formen der Raumnutzung für den Vollzug der Interaktion in solchen Funktionsräumen bedeuten, berührt den Kern der Sozialtopografie. In ihrem Zentrum stehen die unterschiedlichsten Formen konkreter Raumnutzung: sowohl die von Gruppen im Kontext fokussierter Interaktion als auch die eines einzelnen Anwesenden und damit losgelöst von Interaktion. Die sozialtopografische Vorstellung versteht konkrete Formen der Raumnutzung als Selektionen aus der Vielzahl von Möglichkeiten, die durch die Interaktionsarchitektur ‚objektiv‘ zur Verfügung gestellt wird. Sie geht weiterhin davon aus, dass diese Selektion motiviert ist, unabhängig davon, ob den Handelnden diese Motivierung reflexiv zugänglich ist, und dass diese Motivierung ihre zentrale Grundlage im kulturellen Wissen derjenigen hat, die gesellschaftliche Funktionsräume nutzen.
Es ist also die Ebene des Sozialen, die mit der Sozialtopografie in den Fokus rückt. Sie begreift konkrete Raumnutzung aufgrund ihrer inhärenten Selektivität (weswegen die vorgängige Analyse der Interaktionsarchitektur notwendig ist) als verhaltensspezifische und verkörperte Kommentare hinsichtlich der Grundfunktionalität des Funktionsraumes. Diese Kommentare beziehen sich auf das, was kollektiv und in fragloser Übereinstimmung und auf der Grundlage kollektiven Wissens als adäquates Verhalten wahrgenommen und erwartet wird (im Sinne einer Normalform von Cicourel (1975)).
Ohne kollektives sozialtopografisches Wissen ist nicht erklärbar (ohne dass jeweils konkrete Anweisungen gegeben werden müssen), wie ein Gottesdienst in aller Regel als reibungsloses Ritual vollzogen werden kann und fraglos ‚funktioniert‘. Diese Wissensgrundlagen aus dem faktischen Verhalten der Beteiligten zu rekons truieren, wird durch das Konzept Sozialtopografie gerahmt und angeleitet.10
Sowohl interaktionsarchitektonische als auch sozialtopografische Implikationen und ihr Bezug auf gebauten Raum werden in der Regel bei der Analyse von Interaktion entweder überhaupt nicht oder doch nur sehr peripher und in der Regel, ohne methodisch Spuren zu hinterlassen, berücksichtigt. Das ist bei unseren Analysen anders. Beide Aspekte sind vielmehr konstitutive Bestandteile der Interaktionsanalyse.
Ein methodisch-methodologischer Aspekt ist für unsere Analyse des Erinnerungsrituals wesentlich. Wir werden nicht der Gefahr erliegen, bei unseren Analysen gleich in Richtung ‚interkulturelle Spezifik‘ loszulaufen. Es geht uns nicht darum, die Analyse des rituellen Vollzugs durch die Basisannahme zu orientieren, eventuell beobachtbare Spezifika und Unterschiede seien kulturspezifisch und der Tatsache geschuldet, dass die eine Aufnahme aus Sarepta (Wolgograd), die andere aus Rimbach (Südhessen) stammt.
Es geht uns vielmehr unter Adaption des konversationsanalytischen Diktums „from the data themselves“ (Schegloff/Sacks 1973, 291)11 darum, beide liturgische Ereignisse als rituellen, gottesdienstlichen Vollzug in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit zu rekonstruieren. Erst in einem zweiten Schritt werden die (bei den eigenständigen Fallrekonstruktionen produzierten) Ergebnisse aufeinander bezogen und verglichen. Dieses Vorgehen ist notwendig, um einen methodologischen Kurzschluss in Form eines vorschnellen Vergleichs zu verhindern und der jeweiligen Eigenständigkeit der Dokumente gerecht zu werden. Nur durch diese methodischen Vorkehrungen kann verhindert werden, dass das zweite Dokument bereits zu Beginn seiner Analyse mit der ergebnisorientierten Perspektive des ersten vermessen und evaluiert wird.
Mit einem solchen Vorgehen leugnen wir natürlich nicht die Relevanz kulturspezifischer Einflüsse auf den Ritualvollzug. Die Ignoranz der sprachkulturellen Differenz der Dokumente wäre angesichts ihrer empirischen Evidenz nicht zu rechtfertigen. Es ist ja gerade diese Differenz im Rahmen weitgehender Vergleichbarkeit, die das zentrale Motiv für unsere analytischen Anstrengungen darstellt. Wir versuchen, aus dem lokal produzierten und situationsgebundenen Interaktionsverhalten die diesem Verhalten implementierten kulturspezifischen ‚Hinter- und Untergründe‘ zu rekonstruieren. Habscheid (2016) hat beispielhaft skizziert, welche theoretischen und methodischen Implikationen mit einem solchen Versuch verbunden sind. Ein solches Erkenntnisinteresse weist weit über den konversationsanalytischen Gegenstand hinaus, weil es die Tatsache zu berücksichtigen versucht, dass – wie Habscheid (2016, 145) in Bezug auf Bewertungen formuliert:
[…] sich die Interagierenden, ohne dem systematisch Aufmerksamkeit widmen zu können, im Hintergrund über all das mit[verständigen], was ihre Bewertungen überhaupt erst sinnvoll escheinen lässt […], z. B. kulturelle Rahmen für ästhetische, moralische, charakterliche oder politische Bewertungen. (Herv. im Original)
Man kann den Fokus auf Bewertungen auf interaktives Verhalten insgesamt erweitern und in dem Versuch der Rekonstruktion der verhaltensstrukturierenden Relevanz solcher kultureller Rahmen ein Erkenntnisobjekt unseres Beitrags sehen. Methodologisch ist es jedoch wichtig, den Bereich grundlegender theoretischer Annahmen von der methodischen Rekonstruktionsarbeit getrennt zu halten. Wir jedenfalls machen die Setzung kultureller Grundlagen nicht zum Ausgangspunkt unserer empirischen Analysen.
Wenn man mit Interaktionsdokumenten in unterschiedlichen Sprachen arbeitet, die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten stammen, gerät man leicht in Verdacht, fremdkulturelle Relevanzen und Verhaltensstrukturen mit der eigenen kulturellen Orientierung zu vermessen. Wir verfügen jedoch beide über langjährige Kenntnisse bezüglich der Kontexte, aus denen die Aufnahmen stammen. Wir analysieren die beiden rituellen Vollzüge auf der Grundlage des von Garfinkel/Wieder (1992, 182) postulierten Prinzips der methodischen Adäquatheit:
The unique adequacy requirement of methods is identical with the requirement that for the analyst to recognize, or identify, or follow the development of, or describe phenomena of order* in local production of coherent detail the analyst must be vulgarly competent in the local production and reflexively natural accountability of the phenomenon of order* he is ‚studying‘.
Wenn wir Aussagen über Raumnutzung, interaktive Präsenzen und institutionelle Vorentscheidungen des dokumentierten Ritualvollzugs machen, dann geschieht dies auf der Basis eigener handlungspraktischer Kompetenzen bezüglich der analysierten Ereignisse. Es ist unser eigenes kulturelles Wissen, das wir bei der konstitutionsanalytischen Rekonstruktion institutionellen Ritualhandelns nutzbar machen. Es ist das kulturelle Wissen einer in der Nachbarschaft von Sarepta lebenden Russin und das eines in Zotzenbach aufgewachsenen und in der dokumentierten Kirche konfirmierten Deutschen. Wir sind beide seit längerer Zeit in Gottesdiensten in den beiden Kirchen mit unseren Kameras präsent.
Da wir nicht an kulturellen Deutungsmustern der Beteiligten interessiert sind, sondern an sozialen und kulturellen Implikationen institutionellen Ritualhandelns, reicht uns diese empirische Grundlage und methodologische Absicherung für unser Erkenntnisinteresse aus. Trotz dieser bewusst starken Fokussierung zeigen die Analysen, dass es möglich ist, die engen Grenzen der Fallspezifik in Richtung einer sozialhaltigen und im weiteren Sinne kulturgeprägten und kulturreproduktiven Praxis zu überschreiten. Dies jedoch – wie bereits erwähnt – zum Abschluss der Fallanalyse.
4 Die empirische Grundlage: Gottesdienstaufnahmen aus Zotzenbach und Sarepta
Die Videoaufzeichnungen sind Bestandteil einer seit längerer Zeit existierenden Kooperation zwischen der Universität Wolgograd und dem Institut für Deutsche Sprache, Mannheim (Schmitt/Petrova 2015, Petrova/Schmitt/Stuhlberg im Druck). Sie stehen wiederum im Rahmen des übergeordneten Forschungszusammenhangs Sprache und Raum, der im Rahmen einer Kooperation der Universität Zürich und dem Institut für Deutsche Sprache von Heiko Hausendorf und Reinhold Schmitt bearbeitet wird. Die Videoaufnahmen von Zotzenbach und Sarepta sind als Ergänzungskorpus zu der systematischen Dokumentation von so genannten Alpha-Gottesdiensten (einer modernen Gottesdienstform mit Musik und Theaterspielen sowie gemeinsamem Essen) in der Kirche in Rimbach (Südhessen) entstanden.12 Die Aufnahmen erfolgen zum gleichen Zeitpunkt an ausgewählten Feiertagen des Kirchenjahres (hier dem Totensonntag) und unter der Maßgabe möglichst weitgehender Vergleichbarkeit. Die Videoaufzeichnungen in Zotzenbach wurden von Reinhold Schmitt (IDS), die in Sarepta von Anna Petrova (Universität Wolgograd) durchgeführt. Anna Petrova hat die russischen Aufnahmen transkribiert und übersetzt. Zu beiden Pfarrern und Gemeinden gibt es kontinuierliche Kontakte, zu denen auch die Rückführung zentraler Forschungsergebnisse in das dokumentierte ‚Feld‘ zählen.
5 Das Erinnerungsritual in Zotzenbach
Wir beginnen unsere Ausführungen zum Erinnerungsritual in Zotzenbach mit den interaktionsarchitektonischen Grundlagen des Altarbereiches, in dem das Ritual vollzogen wird. Im Anschluss wenden wir uns der detaillierten, multimodalräumlichen Beschreibung der Vollzugsspezifik zu und beschließen unsere Ausführungen mit einem fallspezifischen Resümee.
5.1 Interaktionsarchitektur: Das Vorne in Zotzenbach
Betrachten wir also das Vorne des Kirchenraums, auf das die Gemeinde durch die Anordnung der Kirchenbänke ausgerichtet ist [Abb. 1].
Der durch drei Stufen erhöhte Altarraum ist recht groß. Genauer gesagt, gilt das primär für den Bereich vor dem Altar, dem Altarvorplatz. Der Altar selbst ist gänzlich in die Nische integriert und zudem durch den davor platzierten, schmalen Tisch im gewissen Sinne zugestellt. Er ist zudem relativ weit weg von der ersten Kirchenbankreihe. Die Größe der nutzbaren Fläche wird nicht nur als Potential, sondern in gewisser Weise auch als Problem sichtbar, auf das interaktionsarchitektonisch reagiert wird. Denn die von der gebauten Architektur zur Verfügung gestellte Nutzungsfläche wird durch die Ausgestaltung mit mobilen Gegenständen und Objekten in motivierter Weise verkleinert.
Zunächst suggerieren die beiden an den Außenwänden platzierten Kirchenbänke, die genau wie die Bänke im Gemeinderaum aussehen, dass es vor den beiden Wänden einen Sitzbereich gibt. Es ist jedoch nicht ohne weiteres einsichtig, in welchen Situationen dort Gottesdienstbeteiligte Platz nehmen und in welcher Rolle oder Funktion sie dies tun sollten. Ein Sitzplatz in einer dieser Bänke würde die Person klar hervorheben und sie in den Wahrnehmungsfokus der Gemeinde rücken und so durch ihre Sichtbarkeit ‚veröffentlichen‘. Vor allem für potenziell in der rechten Bank Sitzende würde der Blick durch das mit einem schwarzen Tuch zugehängte Objekt behindert. Die beiden Bänke reduzieren jedoch die Grundfläche bereits erkennbar, wie die weißen Linien in Abbildung 1 zeigen. Obwohl selbst mobil, strahlen die Bänke wesentlich mehr Dauerhaftigkeit aus als die anderen im Altarraum platzierten Objekte. Man kann sich nur schwerlich vorstellen, dass die Bänke nach diesem Gottesdienst wieder weggeräumt werden.
Im Gegensatz dazu zeichnen sich die anderen Gegenstände und Objekte durch eine ‚höhere Mobilität‘ aus. Man erwartet nicht, dass beispielsweise die weißgedeckten Beistelltische vergleichbar dauerhaft an dem Platz stehen, an dem sie für diesen besonderen Gottesdienst gestellt worden sind. Würden sie dauerhaft an ihrem momentanen Platz verbleiben, würde das ein ernsthaftes Problem für die Begehbarkeit des Altarvorplatzes und ganz besonders für die Altarnutzung selbst etablieren. Die aktuelle Ausgestaltung des Vorne legt die Vermutung nahe, dass der Altar in diesem Gottesdienst nicht benötigt wird. Dies wird auch dadurch gestützt, dass der unmittelbare Bereich vor dem Altar nicht als Sprechort ausgewiesen ist. Zumindest fehlt dort ein Mikrofon. Sollte der Altar dennoch gebraucht werden, wären größere Umbauten notwendig, zumindest müsste der Tisch davor weggeräumt werden.
Eine fehlende Dauerimplikation gilt auch für die beiden kleineren, seitlich platzierten Tische, von denen der linke auf einer Linie mit dem Ambo und dem dort platzierten Mikrofon steht. Zusammen rahmen diese Objekte eine zweite, kleinere Nutzungsfläche mit unbehinderter Begehbarkeit, die in Abbildung 1 rot gezeichnet ist. Ein mittig in dieser Nutzungsfläche aufgestelltes Mikrofon markiert den zentralen Sprechort dieses Gottesdienstes, soweit dies den Altarvorplatz betrifft. Demgegenüber ist der Platz hinter dem Ambo, der zweite ausgewiesene Sprechort, mit temporärer und einmaliger Relevanz verbunden. Um die Anzahl der interaktionsarchitektonisch ausgewiesenen Sprechorte zu komplettieren, muss man auf die Kanzel verweisen. Auch dort befindet sich ein Mikrofon, um das Grundproblem der Hörbarkeit zu bearbeiten.
Hinsichtlich der Tische, des Ambos und der Mikrofone kann man von einer Nutzung im Gottesdienst ausgehen. Demgegenüber werden wahrscheinlich weder die beiden Bänke besetzt werden (zumindest nicht die rechte), noch wird das schwarz abgedeckte Objekt zum Einsatz kommen. Im Gegensatz zu allen anderen Gegenständen und Objekten weiß man nicht, was sich unter der Decke verbirgt und warum es der Sichtbarkeit entzogen ist. Sollte es wider Erwarten eine Rolle im Gottesdienst spielen, müsste es aufgedeckt werden.
Wir können abschließend davon ausgehen, dass sich das relevante Geschehen im Altarvorplatz primär in der rot gerahmten Fläche und teilweise auch in der weiß gerahmten abspielen wird. Und wir erwarten an zwei verschiedenen Sprechorten im Altarraum zu unterschiedlichen Zeitpunkten verbale Aktivitäten.
5.2 Die Vorankündigung in der Gottesdiensteröffnung
Wir werden erstmalig im Rahmen der Gottesdiensteröffnung auf das Erinnerungsritual aufmerksam, als der Pfarrer die Erinnerung an die Verstorbenen mit folgenden Worten vorankündigt: ich begrüße besonders (–) die angehörigen der verstorbenen des vergangenen kirchenjahres die wir heute besonders in unser gebet einschließen (–) wir werden später für jeden unserer verstorbenen eine kerze entzünden (–).
Unter einer multimodalen Perspektive fällt neben der sprachlichen Ankündigung der blickliche und gestikulatorische Verweis des Pfarrers (simultan mit verstorbenen) auf das mit der schwarzen Decke verhüllte Objekt auf [Abb. 2], von dem man annehmen muss, dass es sich um einen Halter für die Kerzen der Verstorbenen handelt. Dieses Objekt besitzt eine zentrale Relevanz für das Erinnerungsritual, die bereits zu einem Zeitpunkt demonstriert wird, als das Objekt ganz offensichtlich noch nicht in dem Zustand ist, in dem es später beim Erinnerungsritual seine spezifische Funktionalität erfüllen wird.
14 PF: wir werden später (-)
15 für jeden (-) unserer verstorbenen12 (-) 16 eine kerze entzünden (–)
Während zur Vorankündigung des Erinnerungsrituals primär Verbalität genutzt wird, erfolgt eine Weile später die nahkontextuelle Vorbereitung des demonstrierten Objekts ausschließlich im Bereich des visuell Wahrnehmbaren und während gemeinsam ein Kirchenlied gesungen wird.
5.3 Vorbereitung des Erinnerungsrituals durch den Küster [106 Sekunden]
Während die Gemeinde mit Orgelbegleitung das zweite Kirchenlied singt, bereitet der Küster den Einsatz des signifikanten Objekts für die Gemeinde sichtbar vor: Er kommt aus der Sakristei, holt einen Kerzenanzünder hinter dem Altarkreuz hervor und legt diesen auf der Kirchenbank im rechten Altarbereich in der Nähe des zugedeckten Objekts ab. Dann nimmt er langsam und mit Bedacht die schwarze Decke ab und gibt sukzessive den Blick auf einen Kerzenständer in Form einer Weltkugel frei, auf dessen zwei ‚Breitengraden‘ Teelichter angeordnet sind [Abb. 3-11].
Der Küster folgt dabei keiner ökonomischen Handlungsrealisierung, bei der die Decke eventuell in einem Zug und mit einer gewissen Dynamik abgezogen wird. Wir sehen vielmehr den Vollzug einer Aktivität, die Zeit für sich beansprucht und sich durch eine Art Entschleunigung bzw. Zerdehnung (gemessen an einer alltagsweltlich-ökonomischen Realisierung) auszeichnet. Die Entfernung der schwarzen Decke rückt dadurch selbst in die Nähe eines rituellen Vollzugs und projiziert bereits die spezifische rituelle Qualität des folgenden liturgischen Vollzugs. Der Küster positioniert sich zudem so an der Weltkugel, dass die in den Bänken Sitzenden den sukzessiven Fortschritt seiner Aufdeckungsaktivitäten verfolgen können. Nie steht er mit dem Rücken zur Gemeinde vor der Weltkugel!
Er legt die Decke dann auf der Kirchenbank ab, holt von dort den Kerzenanzünder und entzündet die Zentralkerze im Zentrum der Weltkugel. Danach nimmt er die Decke von der Bank, geht zurück hinter den Altar, legt Anzünder und Decke hinter dem Altar ab und geht dann weiter in die Sakristei.
Um diese Vorbereitung – die in einem demonstrativen Sichtbarmachen der Weltkugel besteht – richtig einschätzen zu können, muss man Folgendes wissen: Die Weltkugel wird nicht immer erst im laufenden Gottesdienst aufgedeckt. Im ‚normalen‘ Gottesdienst wird die nicht abgedeckte Weltkugel vor dem Gottesdienst an genau die Stelle gebracht, an der sie auch am Totensonntag steht. Sie wird dann – teilweise vor dem Gottesdienst oder nach der Teilnahme am Abendmahl – von Gläubigen für ein ‚privates Erinnerungsritual‘ genutzt: Sie entzünden an der Weltkugel eine Kerze und verweilen für einen Moment in andächtiger Haltung vor der brennenden Kerze. Sie tun dies jedoch in einer deutlich nicht-demonstrativen, sondern selbstbezogenen Weise.
Da die Abdeckung der Weltkugel also nicht grundsätzlich im bereits laufenden Gottesdienst geschieht, handelt es sich beim Totensonntags-Gottesdienst um eine markierte Praxis, die auf Sichtbarkeit hin angelegt ist. Die Gemeinde soll das
Aufdecken als Vorbereitung des Erinnerungsrituals wahrnehmen. Gerade dadurch, dass sie nicht schon von Beginn an sichtbar ist, wird ihre besondere Bedeutung im Kontext der Erinnerung an die Verstorbenen hervorgehoben. Sie wird speziell für dieses Ritual und daher auch erst zeitnah zu dessen Vollzug sichtbar gemacht und rituell aufgeladen.
5.4 Vollzug des Erinnerungsrituals
5.4.1 Ankündigung des liturgischen Elements
Der Pfarrer, der bereits seit längerer Zeit hinter dem mittig im Altarraum platzierten Standmikrofon positioniert ist, kündigt – [14:45 nach offiziellem Beginn] nachdem ein gesungenes Amen ausgeklungen ist – das Erinnerungsritual an: wir hören jetzt die namen der verstorbenen des vergangenen kirchenjahres. Hatte er im Zusammenhang mit der Vorankündigung im Rahmen der Gottesdiensteröffnung das Erinnerungsritual über das Anzünden einer Kerze für jeden Verstorbenen benannt, referiert er nunmehr ausschließlich auf das Vorlesen der Namen – und damit auf die verbalen Ressourcen der Realisierung.
Dabei ist die Formulierung wir hören jetzt interessant. Der Pfarrer nimmt sich mit dieser Formulierung als Handelnder zurück (nicht: Ich lese jetzt die Namen) und inkludiert sich selbst durch die Kollektivreferenz wir als Teil der hörenden Gemeinde. Es ist gängige, gottesdienstliche Praxis, dass Pfarrer das inkludierende wir in Situationen verwenden, in denen ihre Exklusion sichtbar ist (Beispiel: Der Pfarrer sagt Wir stehen auf, wobei er diese Äußerung stehend vor dem Altar realisiert). In dieser spezifischen Form der Selbstpositionierung, in der der Pfarrer sprachlich (nicht handlungsfaktisch) als Fokusperson zurücktritt,
kommt zum einen ein genereller Hinweis auf den Gottesdienst als rituelle Vergesellschaftung zum Ausdruck. Zum anderen produziert der Pfarrer einen Verweis auf die spezifische Ritualität des Totensonntagserinnerns. Wesentlicher Aspekt dabei ist, zwar für den Vollzug verantwortlich zu sein, die eigene Person jedoch ganz in den Dienst des rituellen Vollzugs zu stellen. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch in der Folgeäußerung des Pfarrers. Hier verdeutlicht er mit hören die Gemeinde (und besonders die Hinterbliebenen) als Adressaten des Rituals. Es ist nicht primär wichtig, dass die Namen (von ihm) verlesen werden, sondern dass sie von der Gemeinde und den Hinterbliebenen gehört werden.
Im Anschluss bittet der Pfarrer die Anwesenden ihre bisherige Präsenzform sitzen aufzugeben und für den Vollzug des Erinnerungsrituals aufzustehen: wem es möglich ist den bitte ich dazu aufzustehen. Hier kann man sehen, dass sich der Pfarrer mit der ich-Referenz an dieser Stelle nunmehr als Initiator der Präsenzformveränderung kenntlich macht. Man kann dies als Ausdruck einer Binnendifferenzierung des Rituals hinsichtlich konstitutiver und präparativer Bestandteile verstehen.
Dies ist im bisherigen Gottesdienstverlauf die erste Situation, in der die Gemeinde aufsteht. Das Aufstehen als allgemeines Zeichen von Respekt den Toten gegenüber ist eine wesentliche Voraussetzung für den angemessenen Vollzug des Erinnerungsrituals und – wenn man so will – ein aktiver Beitrag der Gemeinde hierzu. Auch hier kann man wieder die oben skizzierte doppelte Indikativität des Ritualvollzugs sehen: Die Gemeinde wird im Rahmen eines bereits im Vollzug befindlichen Rituals (Gottesdienst) zur Teilnahme am Erinnerungsritual aufgerufen. Dieses wird – aufgrund seiner ‚Einmaligkeit‘ im Kirchenjahr und der Anwesenheit der Hinterbliebenen als vom Ritual in spezifischer Weise Betroffene – nochmals gesondert markiert.
In der folgenden 13-sekündigen Sprechpause erheben sich die Anwesenden in ihren Bänken. In der dritten Bankreihe steht eine Frau auf und geht nach vorne in den rechten Altarraum. Dort nimmt sie eine Kerze von der Kirchenbank und zündet diese an der zuvor vom Küster entzündeten Zentralkerze der Weltkugel an. Sie positioniert sich dann mit der brennenden Kerze in der Hand in Armlänge rechts neben der Weltkugel, sodass diese von allen Anwesenden gesehen werden kann. Aufgrund ihrer Positionierung und des zurückliegenden Hinweises auf das Anstecken einer Kerze für jeden Verstorbenen ist klar, dass diese Frau den Pfarrer als Assistentin beim Vollzug des Rituals unterstützen wird.
Die folgende Abbildung [Abb. 12] zeigt das Ende der Sprechpause und die inzwischen eingenommenen Positionen des Pfarrers und seiner Assistentin. Der Pfarrer steht in aufrechter Positur seitlich versetzt zur Gemeinde und ist körperlich auf die Weltkugel ausgerichtet. Aber auch seine Orientierung auf die Gemeinde bleibt durch seine Position, in der er hinter dem Mikrofon steht, sichtbar.
5.4.2 Die Namensnennung und das Entzünden der Kerze
Im Folgenden erinnert der Pfarrer an den ersten von insgesamt elf Verstorbenen, und seine Helferin zündet nach dem vorgelesenen Namen ein Teelicht auf dem Mittelring der Weltkugel an. Dieser Vorgang wiederholt sich dann insgesamt noch zehnmal. Wir wollen uns nun die erste Realisierung in ihrer multimodal-räumlichen Spezifik im Detail ansehen, wobei wir mit der Analyse des verbalen Geschehens unter besonderer Berücksichtigung der Prosodie beginnen.
Der Pfarrer beginnt erst dann mit dem Verlesen des ersten Namens, als die Glocken bereits leise eingesetzt haben. Hier gibt es also einen motivierten Startpunkt und eine motivierte Synchronisierung. Das Läuten der Glocken trägt die Erinnerung an die Verstorbenen auch in die kirchenräumliche Außenwelt. Da die Glocken an einem Totensonntag und zu einem ‚unsystematischen‘ Zeitpunkt läuten, werden die wissenden Hörenden außerhalb der Kirche darauf hingewiesen, dass aktuell im Gottesdienst etwas Besonderes geschieht.[1
122 PF: hErr tEo Albert bAtO- (.)15
123verstOrbn am drEIundzwAnzigstn jAnuAr
124 PF: im Alter von sEchsundAchzig jAhren.
125 (3.0)
Der verbale Beitrag des Pfarrers besteht aus insgesamt drei Elementen: 1) der Nennung des Namens des Verstorbenen, wobei der Nennung das Anredepronomen hErr vorausgeht; 2) der Angabe des Todeszeitpunktes unter Berücksichtigung von Tag und Monat sowie 3) der Angabe des Alters des Verstorbenen. Mit diesen drei Elementen wird (vor allem durch die Angabe des erreichten Lebensalters) eine maximal komprimierte Kurzbiografie des Verstorbenen konstruiert. Damit wird nicht nur der Verstorbene mit seinem Namen genannt, sondern ein Teil seiner Lebensgeschichte wird in Erinnerung gerufen. Dieser Moment wird bei den Frauen durch Angabe ihres Mädchennamens noch deutlicher, wodurch ihr Familienstand thematisiert wird. Diese Information wird bei den Männern nicht gegeben.
Bei der Segmentierung dieser Kurzbiografie wird die Nennung des Namens von den nachfolgenden beiden Elementen durch eine Sprechpause etwas abgetrennt. Die beiden lebensgeschichtlichen Informationen werden hingegen flüssig und ohne erkennbares Absetzen der Stimme realisiert. Die Lautstärke und das Sprechtempo sind reduziert; zudem fehlen markante Akzentsetzungen und Betonungen. Dadurch entsteht eine gedämpfte, pietätvolle Sprechweise.
Schaut man sich die Realisierung der drei Intonationsphrasen an, wird Folgendes deutlich:[2] Die erste in Zeile 122 wird ohne Phrasenakzent (bzw. Fokusakzent) realisiert, da jedes Wort akzentuiert ist. Der erste Steigakzent liegt schon auf Herr, das in nicht ritueller Rede (‚normalerweise‘) im Nebenton und ohne Akzent steht. Der Artikulationsdruck (Intensität) hat drei Gipfel (jeweils bei 65-67 dB), und zwar bei den ersten drei Silbenkernen (hErr tEo Al). Die Intonationsphrase endet mit Level-Pitch (schwebende Intonation, projiziert Fortführung).
Auch Intonationsphrase zwei (Zeile 123) wird wieder ohne Fokusakzent realisiert. Wir haben hier jedoch eine streng trochäische Rhythmisierung mit fünf Akzenten und – wie in der vorgängigen IP – mit finalem Level-Pitch. Im Vergleich zur ersten Intonationsphrase 122 fällt das Grundfrequenzniveau ab (von durchschnittlich 115 Hz auf 100, wobei beide Phrasen ein Pitchrange von 35 Hz zwischen Minimal- und Maximalwert haben). Dafür erhöht sich nun die Artikulationsintensität (von durchschnittlich 62 dB in der ersten IP auf 64 dB in der zweiten).
Auch die dritte Intonationsphrase (Zeile 124) wird ohne Fokus, aber wieder mit tröchäischem Rhythmus realisiert. Im Unterschied zu den vorgängigen IPs nunmehr mit fallender finaler Tonhöhenbewegung (Projektion: Gesamteinheit der drei IPs wird beendet). F0- und Intensitätsniveau sind im Vergleich zu den beiden vorangehenden IPs niedriger (Durchschnitt F0: 95 Hz, geringerer Range: 17 Hz, Durchschnitt Intensität/Artikulationsdruck: 59 dB, Range 12 dB).
Als Gesamteindruck kann man sagen: Hier wird durch Parallelität und durch Rhythmisierung/ Akzentuierung ein ‚Päckchen geschnürt‘, wozu auch die Einheitsmarkierung durch Grenzintonation der Untereinheiten beiträgt (IP 122 und 123 mit schwebender Intonation, 124 dann final fallend.)
Die nächste Abbildung [Abb. 13] zeigt das Geschehen in der kurzen Sprechpause, die der Pfarrer nach der Nennung des Namens macht. Während er unverändert in sein Buch schaut, ist seine Assistentin gerade dabei, das erste Teelicht anzuzünden.
Es ist deutlich, dass es ihr dabei nicht nur darum geht, das erste Teelicht zum Brennen zu bringen. Neben dieser handlungspraktischen Relevanz, für deren Realisierung es sicherlich einen bequemeren Stand gibt, spielt für die konkrete Ausführung des Anzündens noch ein anderer Aspekt eine Rolle: die Sichtbarkeit dessen, was sie tut für die Gemeinde.
Wenn sie es hätte bequem haben wollen, hätte sie das Teelicht unmittelbar vor ihr anzünden können. Hätte sie sich dafür entschieden, wären das Anzünden und die brennende Kerze jedoch für viele der Anwesenden nicht zu sehen. Es ist also ganz offensichtlich auch hier der Aspekt der Sichtbarkeit, der sich verhaltensstrukturierend auswirkt und nicht die alltagspraktische Technik ein Teelicht anzünden.
Zudem spielt im Kontext und als wesentlicher Bestandteil des Erinnerungsrituals das Teelicht in seiner alltagspraktischen Bedeutung keine Rolle. Das Teelicht ist vielmehr sakral aufgeladen und erhält einen religiösen Status als Sinnbild des ewigen Lichts und des ewigen Lebens. Dass es nicht um die Lösung des alltagspraktischen Problems Kerze anzünden geht, sondern um ihre aktive Beteiligung am Vollzug des Rituals, die darin besteht, die Verstorbenen durch das Licht zu symbolisieren, zeigt auch die beidhändige Haltung der Kerze, mit der die Assistentin die nachfolgenden Teelichter entzündet.
Die Bildfolge [Abb. 14-18] zeigt den Ablauf des Kerze-Anzündens und das körperliche Verhalten der Assistentin. In Bild 14, das die Sprechpause zwischen zwei Namensnennungen zeigt, sehen wir sie in Wartestellung mit Blick auf den Pfarrer. Sie hält die Kerze in beiden Händen, die dadurch an gefaltete Hände erinnern. Das hat den Vorteil gegenüber einer einhändigen Haltung, dass sie nicht mit dem Problem konfrontiert wird, was sie mit ihrer dann freien Hand anstellen soll. Die Bilder 15 bis 17 zeigen die leichte Vorwärtsbewegung der Arme und Hände auf dem Weg zur Kerze auf dem oberen Ring der Weltkugel und wieder zurück. Sie hat ihren Oberkörper auch minimal etwas nach vorne gebeugt und fixiert das fragliche Teelicht mit ihrem Blick. Auf dem Bild [Abb. 18] sehen wir die Assistentin wieder in ihrer Ausgangsposition wie in Bild 14 mit aufrechtem Stand und dem koordinierenden Blick in Richtung Pfarrer. Bild 14 und 18 zeigen also die „home position“ (Sacks/Schegloff 2002), in die sie nach erfolgtem Anzünden einer Kerze immer wieder zurückkehrt.
Die nächste Abbildung [Abb. 19] zeigt das Ende der dreisekündigen Pause, die der Pfarrer nach dem erstmaligen Vollzug des Erinnerungsrituals und dem Abschluss der Minimalbiografie des ersten Verstorbenen macht.
Man sieht die Assistentin wieder in ihrer Ausgangsposition und in derselben Positur mit Blick auf den Pfarrer. Sie wartet darauf, dass an den nächsten Verstorbenen erinnert wird. Durch den Rückgang in ihre Ausgangsposition ist die brennende Kerze für nahezu alle Anwesenden sichtbar. So wie der Pfarrer durch die längere Sprechpause den Abschluss des erstmaligen Vollzugs des Erinnerungsrituals markiert, so markiert die Assistentin mit der Einnahme ihrer Ausgangsposition, dass sie auf den nächsten Namen wartet, um die nächste Kerze zu entzünden.