Marie Simons & René Reith: „Bodies in Motion“ Dritte Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG), Universität Gent, 6.–18.11.2017

Charlie Chaplin kann sich nicht bewegen. Sein Körper ist in eine Maschine eingespannt, die für ihn die Nahrungsaufnahme übernimmt: Vom rotierenden Maiskolben und mundgerechten Häppchen bis hin zur Suppe, alles wird dem Versuchskaninchen Chaplin von der „Eating Machine“ angereicht und zugeführt – bis der Automat Amok läuft und den passiven Chaplin zum hilflos reagierenden Objekt degradiert. Sein Körper muss sich dem immer hektischeren Rhythmus der Maschine anpassen, es droht der Tod durch Ersticken an der Sahnetorte.

JAKOB TANNER (Zürich) nutzte die skurril-furiose Slapstick-Sequenz in seinem Eingangsvortrag „Exploited bodies, labouring heroes and human motors: visual representations of metabolism, motion and work in modern times“ und eröffnete damit leitmotivisch-humorvoll die Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG): Körper und Bewegung, Körper in Bewegung. Damit war zugleich das Sujet des dreitägigen Treffens präzise umrissen. Wo fängt Bewegung an, wo hört sie auf? Wann agiert der Körper selbstbestimmt? Aus welcher Perspektive kann über Bewegung nachgedacht werden?

Zum Thema „Bodies in Motion“ trafen sich vom 16. bis zum 18. November 2017 WissenschaftlerInnen zu einem fachübergreifenden Gedankenaustausch. In 24 Panels, 12 Sektionen, Forschungsnetzwerken und Praxispräsentationen diskutierten etwa 80 Vortragende zusammen über das seit den 1980er-Jahren zentrale Thema.

Das dreitätige Meeting fand auf Einladung von ANDREAS NIEHAUS (Gent) erstmals an der Universität Gent, Belgien, statt. Es ermöglichte der noch recht jungen Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft bereits im dritten Jahr nach ihrer Gründung eine Konferenz im internationalen Rahmen, eine Leistung, auf die die KWG-Vorsitzende GABRIELE DÜRBECK (Vechta) in ihren Eröffnungsworten hinwies. Auch die Panels, von denen viele mit ReferentInnen aus dem In- und Ausland besetzt waren, unterstrichen diesen Umstand. Im Zentrum der Vorträge und Diskussionen standen vor allem Fragen nach Körperpraktiken, nach dem performativen Aspekt sowie der Prozesshaftigkeit des Köpers als veränderliches und veränderbares Objekt. Dabei ging es, wie im „Call for Papers“ formuliert, um den Körper als „Medium kommunikativer Praktiken wie Kulturtechniken“, als „Ort und Gegenstand von Wissensordnungen und Wissensgenerierung“ und darum, „Fragen nach dem Verhältnis des Körpers zu seinem Anderen“, zum „Zusammenhang von Körper und Technik, Körper und Medien“ zu stellen.

Zum Auftakt verwies Tanner im beindruckenden Kuppelsaal der Universitätsaula mit der anfangs beschriebenen Szene von Chaplins „Modern Times“ (1936) eindrücklich auf den Themenkomplex Körper und Technik, beziehungsweise Mensch und Maschine im Zeitalter der Industrialisierung. Er konzentrierte sich dabei vor allem auf die Figur des „working class hero“, der symbolisch wie ganz und gar handfest in die Mühlen der Technik gerät und von Chaplin ikonografisch genial verkörpert wird.

Mit den Beiträgen des ersten Tages wurden die „bewegten Körper“ direkt ganz konkret gefasst, etwa während des Panels „Reisende Körper/Körperreisen“ von NICOLAI GLASENAPP (Koblenz), STEFAN NEUHAUS (Koblenz) und UTA SCHAFFERS (Koblenz).

Das Panel „Crossings, Corporealities und Grenzkörper A“ reagierte auf aktuelle politische Umstände, um aus kulturwissenschaftlicher Perspektive den Körper in seinem Verhältnis interner und externer Grenzlinien zu analysieren. Hierfür wurde etwa der Grenzraum als Ort der Transgression bestimmt1 oder gar der Körper selbst als Ort normativer Grenzziehungen – beispielsweise in Bezug auf Krankheit, Nation, Rasse oder Geschlecht.2 Mit dieser Themenbestimmung fungierte das Panel zugleich als Auftaktveranstaltung für die neugegründete Sektion „Kulturwissenschaftliche Border Studies“, die von einer Gruppe internationaler und interdisziplinärer ForscherInnen im März 2017 ins Leben gerufen wurde.3

Die komplexe Frage nach Theorie und Praxis in der Kulturwissenschaft stand im Mittelpunkt des zweiten Tages, wobei die Vermittlung dieses Begriffspaares mehrfach thematisiert wurde. Beispielhaft gestaltete sich die Debatte um „Kunst und verkörperte Wissenspraxis. Körpertechniken und Ansätze für eine praxisbasierte Ästhetik an Hochschulen und in Forschungsprojekten“ von MARIE HOOP (Lüneburg), AMALIA BARBOZA (Saarbrücken), STEPHAN SCHMIDT-WULFFEN (Bozen) und MARINA SAHNWALDT (Lüneburg). Zugleich stand der prekarisierte, der verletzte oder der sich in Gesten ausdrückende politisch bewegte Körper im Fokus diverser Beiträge; so in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung des Kinderkörpers in der Kinder- und Hausmärchen-Sammlung der Gebrüder Grimm4 oder in der Reflexion des versehrten Körpers der Kriegsheimkehrer in Kunst, Literatur und Theater.5

Mit der Frage „The Norm? – Imagining and Performing Female Bodies“ setzte sich das international und interdisziplinär besetzte Panel 17 auseinander. Im Mittelpunkt standen hier Sujets wie Subversion, Repräsentation und Darstellung des weiblichen Körpers in der Bildenden Kunst, der Performance Art, Sport- oder Popkultur.

Mit dem Beitrag „Der Mundraum als kulturelle Formation. Ein vergessenes Kapitel der Körper-Geschichte“ lenkte HARTMUT BÖHME (Berlin) den Fokus auf einen ebenso essenziellen wie meist ignorierten Körperraum. Dieser ist, so Böhme, nicht nur immer „in Bewegung“ und mit Atmen, Essen oder Sprechen beschäftigt, sondern außerdem Mittel und Zeichen für den Bildungsprozess einer kulturellen Aneignung seit der Steinzeit. Nämlich „kultisch, kosmetisch, magisch, symbolisch, viel später auch anatomisch, medizinisch und noch später auch psychologisch und künstlerisch“6. Die spezifische Semantik des Mundes treibe hierbei nicht nur höchst bizarre Stilblüten, wie etwa im Genre des „Zahnarzt-Horrorfilms“. Der Mundraum sei obendrein auch Ort medizinischer, (paläo)anthropologischer, psychologischer, kulturwissenschaftlicher Diskurse über den Körper, gerade in einem stark formelhaften, sprachlichen Umgang mit dem dentalen und oralen Erleben.

Von der Theorie zur Praxis: Das Erleben von bewegten Körpern wurde am Abend des zweiten Tages im Theater „Film Plateau“ geboten. Unter der Überschrift „Performing ‚Masculinities‘ and ‚Femininities‘“ präsentierte man zwei Beispiele einer spezifischen Körperpraxis. Zum einen zeigte die Gruppe „Bollylicious“ vier indische, vom Genre des Bollywood-Films inspirierte Tänze. Es folgte die muskelspielende Performance der spanischen Bodybuilderin ISABEL FONTBONA-MOLA (Girona).

Beide Vorführungen standen im Rahmen einer thematischen Reflexion. AYLA JONCHEERE (Gent) beleuchte ihre Forschung zum indischen Tanz, während Fontbona-Mola sich ihrerseits wissenschaftlich mit dem Thema „Weiblichkeit und Bodybuilding“ auseinandersetzte. Bei dem sehr knappen Nachgespräch, mit einer Response von CARINE PLANCKE von der Forschungsstelle „Research on Culture and Gender“ der Universität Gent, konnten Fragen nach Körper und Repräsentation oder Probleme von Theorie und performativer Körperpraxis wegen des Zeitdrucks nur oberflächlich erörtert werden.

Zum ersten Mal war der wissenschaftliche KWG-Nachwuchs mit einem „Studentischen Panel“ vertreten, moderiert von der studentischen Beirats-Vertreterin TERESA SCHENK (Lüneburg) und STEFAN KRANKENHAGEN (Hildesheim). Inhaltlich setzte sich das Panel mit somatischen Erfahrungsräumen auseinander, angefangen vom musikalischen Erleben7, über sportive Inszenierungen, etwa das Rollerderby8, bis zu der Betrachtung der Graduierten-Tagung „Working the body – Körper- Konfigurationen und Körper-Praxis zwischen Sport, Pop und Performance“9. Diese, erstmals studentisch organisierte Veranstaltung, die im Rahmen des Sektionstreffens „Kulturwissenschaftliche Ästhetik“ im September 2017 in Hildesheim stattfand, stützte sich auf die Zusammenarbeit zwischen den entsprechenden Instituten in Lüneburg, Hildesheim und Koblenz. Fünf weitere Panels, die das Programm des letzten Tages bestimmten, verhandelten den subversiven Körper im Raum, transkulturelle Körperpraktiken, Bewegung und Motorik sowie den sich auflösenden Körper, etwa im Kontext digitaler Medialisierung.

In ihrem Plenarvortrag „The Bodies in Motion of White Material (Care and Necropolitics with Claire Denis)“ analysierte PENELOPE DEUTSCHER (Evanston, IL) einen postkolonialen und intersektionalen Diskurs anhand ausgewählter Filmsequenzen des französisch-deutsch-kamerunischen Filmdramas „Chocolat“ (1988) von Claire Denis. Deutscher reflektierte auf hoch theoretischer Ebene, wie durch das filmische Stilmittel des „Flashbacks“ eine kolonialistische Geschichte erzählt werden kann, deren Auswirkungen noch immer in die Gegenwart heutiger Körper eingeschrieben ist.

Neben dem weit gefächerten Programm, drei eindrucksvollen Keynote-Vorträgen, Praxis-Präsentationen, den Treffen der 12 Sektionen und einer gut gelaunten Mitgliederversammlung bot die dreitägige Jahreskonferenz auch immer wieder Gelegenheit zu anregenden Nachgesprächen, etwa beim Zusammentreffen „bewegter Körper“ bei Kaffee und Suppe.

Weiterführende Fragen zum Verhältnis und Umgang von Theorie und Praxis, mehr noch, von einer ästhetischen Praxis und kulturwissenschaftlichen Forschung, schufen überdies den thematischen Brückenschlag zur nächsten, der vierten Jahrestagung der KWG, die unter dem Titel „Ästhetische Praxis und kulturwissenschaftliche Forschung“ vom 11.–13. Oktober 2018 in Hildesheim stattfinden wird.

Das Programm der Konferenz „Bodies in Motion“ findet sich auf der Seite der Universität Gent: http:// www.jahrestagungkwg.ugent.be/programm/.

Impressionen sowie weiterführende Informationen lassen sich auf der offiziellen Homepage der KWG finden: https://kwgev.wordpress. com/2017/11/20/impressionen-von-der-3-jahrestagung-der-kwg-in-gent/.


Fußnoten

1 „Auf den Leib geschrieben. Körperlandschaften und Grenz-Korporalitäten in den U. S.-Borderlands“ von ASTRID M. FELLNER (Saarland). 2 „Prekarisierte Körper und Grenzen – eine Befragung aus trans*forschender Perspektive“ von MAREK SANCHO HÖHNE (Frankfurt/Oder). 3 Nähere Informationen sowie eine Übersicht über die thematische Ausrichtung aller Sektionen finden sich unter: https://kwgev.wordpress.com/sektionennetzwerke/. 4 „… und das Ärmchen kam immer wieder heraus“ – Vom märchenhaften Eigensinn des Körper(teil)s“ von VERONIKA DARIAN (Leipzig) im zehnten Panel: „Prekäre Körper – Prekäre Darstellungen“ von SOPHIE WITT (Frankfurt/Oder). 5 Panel 13: „Körperbewegungen in (Nach-)Kriegszeiten/ Body Movements in (Post-Wartime)“ von STEFFEN RÖHRS (Hannover), TILL NITSCHMANN (Hannover) und JONAS NESSELHAUF (Vechta). 6 Keynote: „Der Mundraum als kulturelle Formation. Ein vergessenes Kapitel der Körper- Geschichte“, HARTMUT BÖHME (Berlin). 7 Klang/Körper. „Zur Bedeutungsstiftung in musikkulturellen Interaktionskontexten“ von MAIK EXNER (Koblenz). 8 „Roller Derby: Frischfleisch und blaue Flecken“ von ANNE MICHEL (Halle-Wittenberg). 9 „Professional Wrestling, Ballroom Dancing, Bodybuilding — Spandex zwischen Theorie und Praxis“; Reflexion der ersten studentischen Tagung der KWG“ von MARIE SIMONS und RENÉ REITH (Hildesheim).