Max Czollek (2018): Desintegriert euch! München: Hanser; 208 Seiten. ISBN: 978-3-4462-6027-6.
Vor zwei Jahren gelang es dem Politikwissenschaftler und Schriftsteller Max Czollek (*1987), die Gatekeeper*innen des ‚anständigen‘ Feuilletons dazu zu bewegen, Eimer sturzbetroffener Verstörtheit über ihm auszuschütten. Heute hat sich Czolleks ungewöhnliche Perspektivierung der Integrationsforderung, die Anlass für diese Welle der Empörung gegeben hatte, als drastisch zutreffende Beobachtung herausgestellt: Die hegemonial zugeschriebene Gruppenidentität ‚Juden‘ ist derart ins bundesdeutsche Erinnerungsnarrativ eingelassen, dass die Jüdinnen*Juden in diesem Land struktureller Diskriminierung unterliegen. Inzwischen zwar in der achten Auflage, wartet Desintegriert euch! darauf, Eingang in wissenschaftliche Texte zu finden. Dieser Umstand resultiert, wie zu zeigen ist, aus seinem Format. Der Text ist nämlich – bewusst – streitbar, wenig argumentierend und in hohem Maß subjektiv. Das heißt aber nicht, dass diese Streitschrift nicht instruktiv für die kulturwissenschaftliche Forschung ist.
Czolleks Buch ist Teil eines Diskurses, in dem sich jüdische Millennials zunehmend mit dem Wunsch Gehör verschaffen, die Gemeinden und die bundesdeutsche Gesellschaft mitzugestalten. 2017 war dieser Wunsch in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart1 zu lesen (vgl. Pletoukhina 2017). Desintegriert euch! stellt ihn einem gesellschaftlich breiteren Rezipient*innenkreis vor. Unter „Desintegration“ versteht Czollek nicht – im Sinne der soziologischen Definition (vgl. Esser 2001) – ein als bedrohlich empfundenes Auseinanderfallen sozialer Gruppen, sondern eine politisch-ästhetische Intervention in die postmigrantische Gesellschaft, einen auf neue Gruppen gerichteten Prozess der Selbstermächtigung.2
Aus jüdischen Erfahrungen in der BRD heraus entwickelt, haben Czollek und die Dramaturgin, Autorin und Kuratorin Sasha Marianna Salzmann das Konzept 2016 im Rahmen von Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen am Maxim-Gorki-Theater eingeführt. 2017 erweiterten die zweite Ausgabe der Jalta (Titel Desintegration) und der 3. Herbstsalon am Maxim-Gorki-Theater (Titel Radikale Jüdische Kulturtage) den Kontext: Desintegration ohne Ausrufezeichen wurde zu einem ambivalenten Konzept,3 „Desintegration!“ zur gesamtgesellschaftlichen,4 ergebnisoffenen Bewegung. Ein Jahr später hat Czollek, der zum Herausgeber*innenkollektiv der Jalta und zum künstlerischen Kollektiv des Maxim-Gorki-Theaters gehört, mit Desintegriert euch! seine Auffassung von Desintegration nebst Vorschlägen zur praktischen Umsetzung vorgelegt.5 Absicht des Buches ist es, ästhetische Mittel einzusetzen, um mit verkürzten und verklärenden Darstellungen von Minoritäten, besonders Jüdinnen*Juden, zu brechen.
Den theoretischen Apparat bilden im wissenschaftlichen Diskurs mitunter wenig rezipierte sozialhistorische Monographien von Yark Michal Bodemann (1996), Norbert Frei (2003), Ulrike Jureit und Christian Schneider (2010), aber auch Texte der namhaften Autoren Maxim Biller (1990, 2009), Eike Geisel (2015) und Henryk Marcin Broder. Weiterhin greift Czollek auf postkoloniale Denkweisen zurück, denen daran gelegen ist, den Stimmen der Minderheitsbevölkerung durch die Reflexion von Hegemonie Gehör zu verschaffen. Er zeigt auf, dass Angehörige der gesellschaftlichen Minderheiten in der BRD einem Othering durch die Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt sind;6 die Mehrheit schaffe sich ihre Identität durch Abgrenzungsprozesse. Diesem Identifikationsprozess sucht sich das Buch zu widersetzen, indem es die Preisgabe persönlicher Informationen verweigert und Diversität und Differenz innerhalb der Minoritäten fortwährend betont. Unter Nutzung essentialistischer Kulturbegriffe – deutsch vs. jüdisch – und mittels einer alternativen Geschichtsschreibung entwirft es einen Gegendiskurs, der darauf zielt, starke Stimmen zu demaskieren und Autoritäten zu unterminieren. Dabei geht es ihm nicht um Hybridität, sondern um eine Gesellschaft der radikalen Vielfalt.
Das Buches wird widerspenstig, weil es sein Genre in jeder Hinsicht ernst nimmt. Die Gründe, warum die „zweifelsohne intendierte Provokation“ wenig zitiert wurde, sind in der widerborstigen Sprache und der wissenschaftlichen Texten uneigene Struktur zu suchen, findet der Politische Philosoph Hans-Martin Schönherr-Mann (2019: 347). Wenn sich Czollek „einer weniger groben Sprache bediente und wenn er etwas differenzierter argumentierte“, schreibt er in der Zeitschrift für Politik, könnte Desintegriert euch! in der Wissenschaft ernst genommen werden. Weil diese Sprache eine ist, die im wissenschaftlichen Diskurs so gut wie nie zu hören ist, kann sie allerdings zu stilistischen Zwecken zitiert werden, etwa um Standpunkte hervorzuheben oder Kritik zu unterstreichen. Auch den Feuilletonist*innen ist die polemische Sprache der Streitschrift aufgestoßen. Das Buch sei „stilistisch nicht immer der Höhe seiner gedanklichen Schärfe, etwa wenn der Autor sich als wütender junger Jude inszeniert: ‚Moment, ich muss schon wieder einen Würgereflex unterdrücken.‘“, meint Sieglinde Geisel (2018) für DLF Kultur. Ihrem Genre entsprechend stellt diese Polemik in einer oft verknappenden, ironisch-distanzierten, zuweilen satirischen Sprache zwei als gegnerisch markierte Positionen in überzeichnender Weise dar. Mit Metaphern, Antithesen, Ich-Perspektive, rhetorischen Fragen, Schlagwörtern und weiteren stilistischen Offensivmitteln will Czollek die eigene subjektive Position zur Geltung bringen und die gegnerische demontieren; er beabsichtigt nämlich nicht, „Brücken der Empathie ins gegnerische Lager zu schlagen“, sondern will durch die „Schärfung meiner und unserer intellektuellen Instrumente“ die eigene Position konsolidieren (Czollek 2018: 12). Zugleich sichert sich Desintegriert euch! ein breiteres Publikum, indem es seine lexikalische, morphosyntaktische und textstrukturelle Verständlichkeit sicherstellt.
Ebenfalls der Polemik gattungseigen ist die Möglichkeit, zuweilen auf sachliche Begründungen zu verzichten; eine differenzierende Auseinandersetzung mit einem objektiven Gegenstand ist nicht das Ziel einer Streitschrift. Daher ist sich Claudia Schwartz (2018) in der NZZ auch zu Recht „nicht ganz sicher, ob Czollek tatsächlich einen Beitrag zur intellektuellen Debatte liefern möchte oder nur für diejenigen schreibt, die gleicher Meinung sind wie er“. Als Polemik muss das Buch nicht auf eine konstruktive Debatte gerichtet sein und im Übrigen auch nicht den Anspruch erheben, seine Wissensstruktur transparent zu machen. Desintegriert euch! ermöglicht aber sehr wohl eine argumentative Auseinandersetzung und eignet sich damit auch für den Einsatz in wissenschaftlichen Texten. Erstens ist das Buch annotiert. Der Einstieg kann z.B. über die kulturwissenschaftlichen Grundlagentexte von Theodor W. Adorno (1998, 2005), Judith Butler (1993) und Umberto Eco (1996) erfolgen, die Czollek jeweils zitiert. Zweitens können die im Fazit geäußerten Vorschläge zur Grundlage einer Diskussion gemacht werden. Dem polemischen Charakter zum Trotz schließt das Buch nämlich mit konstruktiven Vorschläge (vgl. Czollek 2018: 183-193). So empfiehlt Czollek, die Kontinuität recht(sextrem)er Haltungen und die Aneignung minderheitsgesellschaftlicher Gruppen gesamtgesellschaftlich ebenso zu hinterfragen wie die Illusion einer homogenen Gesellschaft. Für die Angehörigen der Minderheiten hebt er das Potenzial künstlerischer Dissidenz, beispielsweise der Rachekunst, hervor. Er mahnt eine neue jüdische Eigenständigkeit an und fordert die Bildung von minderheitsgesellschaftlichen Allianzen.
Wie gelangt Czollek zu diesem Resümee? Desintegriert euch! besteht aus elf aufeinander bezogenen und zugleich voneinander losgelöst lesbaren Kapiteln sowie Einleitung und Fazit zu je ca. 15 Seiten Umfang. Inhaltlich exemplifizieren die Kapitel 1-5 das Gedächtnistheater-Konzept des Soziologen Y. Michal Bodemann (1996) und wandeln seine Empfehlung nach Abstinenz vom Gedächtnistheater und zum Widerstand gegen Normalisierungsforderungen zu einem Appell. Die Kapitel 8-11 stellen als „Strategie der Desintegration“ (Czollek 2018: 105) Möglichkeiten vor, diesen Appell umzusetzen. Gewissermaßen fokussiert der erste Teil des Buches also die politische, der zweite die ästhetischen Aspekte der Intervention.
Die Argumentation geht vom Konzept des Gedächtnistheaters aus (vgl. Bodemann 1996): Im Deutschland der Nachkriegszeit seien Jüdinnen*Juden als Schauspieler*innen in einem auf deutsche Selbstdefinition gerichteten Rollenspiel zunächst unter bürokratische Patronage genommen und dann als Objekte im Gedenkstättenjudentum eingesetzt worden. Czollek verdeutlicht durch Beispiele die anhaltende Simultanität fiktional-jüdischer Omnipräsenz und real-jüdischer Absenz in Deutschland, deren eigentliche Intention aber die Fixierung von Rollen sei, um so die nationale Identifikation der Deutschen performativ zu festigen. Anhand einer mit den Historikern Ralph Giordano (1987), Norbert Frei (2003) und Dominik Rigoll (2013) skizzierten anderen Geschichte der BRD zeigt das Buch, wie die etablierte Geschichtsschreibung das Handeln von Menschen in Deutschland beeinflusse; das Fortwirken der sozialen Bindekraft des Nationalsozialismus über die Kapitulation hinaus wird in dieser Gegengeschichte zentral. Polemisch ist insbesondere die Feststellung, dass auch die 68er mit nationalsozialistischen Denkweisen sympathisiert hätten, wie Czollek Berichten jüdischer Protagonist*innen entnommen habe. Für den heutigen Stand beobachtet er die „weitgehende Abwesenheit eines historischen (Selbst-)Verständnisses für die postnationalsozialistische Vergangenheit“ (Czollek 2018: 54), die seit der Wiedervereinigung in schizophrener Weise zu Tage trete:
Eine eigenverantwortliche politische Haltung wie die Skepsis gegenüber Nationalhymne, Nationalflagge oder Nationalgefühl wird in lauten Wortmeldungen oder symbolischen Gesten externalisiert. Zurückhaltung oder gar Selbstkritik in nationalen Belangen gilt fortan als aufgezwungen von dubiosen „anderen Kräften“ (Czollek 2018: 61).
Czolleks Position hierzu ist die der Ablehnung und der (Desintegration genannten) Absage an die Vereinnahmung, weil seine Lebensweise bedroht ist.
Der Umgang mit der als Schuld empfundenen nationalsozialistischen Vergangenheit bilde ein „Erinnerungsdispositiv“ (Czollek 2018: 95) mit zwei Ausformungen: Entweder betreibe man stete Distanzierung oder man lehne diese zugunsten einer positiven nationalen Identität ab. Sowohl Richard von Weizsäckers Rückgriff auf jüdische Texte in seiner Rede zum 40. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa (vgl. Czollek 2018: 20ff.) als auch das sprachliche Instituieren einer ‚jüdisch-christlichen Kultur‘ durch konservative Politiker*innen (vgl. Czollek 2018: 28f.) empfindet das Buch als Vereinnahmung von Jüdinnen*Juden in Deutschland durch die Mehrheitsgesellschaft. In dieser Weise würden die auf die Rolle der Vertreter*innen der Shoah-Opfer reduzierten jüdischen Menschen als Instrumente zur Aufrechterhaltung eines vermeintlich homogenen deutschen Volks vereinnahmt. Viele Jüdinnen*Juden spielten die ihnen zugewiesene Rolle bereitwillig, wiederholt Czollek. An der Funktionalisierung im Gedächtnistheater und an der Forderung nach Normalisierung eines zwar apostrophierten doch stets unbestimmt bleibenden deutschen Selbstbewusstseins auf der Basis geteilter Grundvorstellungen (‚Leitkultur’) setzt das Buch seine Kritik am Integrationsdenken an. Dieses Othering konstituiere nämlich Forderungen nach der Assimilation all jener, die sich außerhalb der Grundvorstellungen befinden – d.h. der ‚anderen‘ – und bilde somit ein Integrationsparadigma.
Der Text weist mehrfach darauf hin, dass weder historisch noch aktuell von einer homogenen deutschen Nation oder der Einheitlichkeit von Jüdinnen*Juden in Deutschland ausgegangen werden kann. Wenn mit einer ‚jüdischen‘ und einer ‚deutschen‘ Position zwei überzeichnete Grundhaltungen benannt werden, bedient sich der Text bewusst einer von der Mehrheitsbevölkerung verwendeten Unterscheidung, die er zu unterlaufen sucht. Genau dieses gekonnte Spiel mit den essentialistischen Kulturbegriffen macht das irritierende Moment des Buches aus. Durch die ironisierende Aneignung der binären Opposition deutsch vs. nicht-deutsch soll deren diskriminierende Wirkung aufgehoben werden; Czollek erklärt, dass er auf „eine Strategie der Umdeutung diskriminierender Diskurse, wie sie immer wieder von marginalisierten Gruppen angewendet wurde“ (Czollek 2018: 171), zurückgreift. Mit welcher Mühelosigkeit er eine Gattung beherrscht, auf die sich nur polemisch antworten lässt, zeigt sich an den Reaktionen der Rezensent*innen. So verreißt Felix Stephan (2018) das Buch in der SZ, weil es „populistische Argumentationsmuster“ verwende. Die Rezension von Mirjam Wenzel (2018) für der FAZ bildet hierzu den Gegenpol. Sie setzt sich konstruktiv mit der Passung von Genre und Stoßrichtung auseinander und erkennt, dass die Verwendung kulturessentialistischer Begriffe in Dienst genommen wird, um „dem vermeintlich universalen ‚wir‘ der deutschen Gesellschaft und deren Integrationsforderung eine selbstbewusste Integrationsverweigerung entgegenzuhalten“. Wenzel (2018) verweist folgerichtig darauf, dass Desintegriert euch! reflektierten Gebrauch von seiner Gattung macht und dass die Gegenüberstellung ‚jüdisch‘ vs. ‚deutsch‘ nicht allein eine Eigenart polemischen Schreibens ist, sondern zugleich ein Versuch, den kritisierten Diskurs zu unterminieren. Indem das Buch diese gebräuchliche Bipolarität verwendet und kritisiert, befördere es ihre Demontage. Die Rezensentin gibt allerdings ganz richtig zu bedenken, dass eine „Schwarzweiß-Argumentation“ essentialistisch geführte Debatten befeuern könnte, anstatt, wie gewünscht, ihre Beseitigung herbeizuführen. So findet es sich in einer weiteren Verkennung der genretypischen Dichotomie, die im Buch aber zur Unterminierung eingesetzt wird: „Czollek prangert das Freund-Feind-Denken der Rechten an – es ist ein Denken, dem er selbst nicht entgeht.“ (Geisel 2018)
Im zweiten Teil warnt der Text vor der Erosion der bestehenden demokratischen Strukturen durch den Machtgewinn neurechter Kräfte. Nur mittels der Zusammenarbeit all jener Menschen, die als ‚andere‘ markiert werden, sei das Überhandnehmen neurechten Einflusses aufzuhalten, und diese Zusammenarbeit setze Kritik an der eigenen Position und am auf Homogenität gerichteten Integrationsparadigma voraus. Vor dem Hintergrund dieser politischen Forderung diskutiert das Buch nun ästhetische Formen des Empowerments. Im Hiphop von Advanced Chemistry, Thirty-Sixers, den performativen Texten von Kanak Attak und einer Vielzahl weiterer subkultureller Akteur*innen sei Kunst ein „kontrolliertes Kampffeld politischer Konfrontation“ (Czollek 2018: 127), auf dem sich Assimilations- und Homogenitätsforderungen unter Beschuss nehmen ließen. Für Jüdinnen*Juden identifiziert Czollek selbstermächtigendes Potenzial in der künstlerischen Bearbeitung von Mythen und Legenden, der Entlarvung der fixen Identitäten in Alltagssituationen mittels spontaner Aktionen sowie im Motiv der Rache. Durch die Arbeit an Mythen und Legenden soll die Erinnerung über das Sterben der ersten Alterskohorte nach dem Zweiten Weltkrieg hinaus erhalten werden. Durch Aktionen und durch Rachekunst ließe sich die Opposition zur dramaturgischen „Wiedergutwerdung der Deutschen“ (Eike Geisel) und zur jüdischen Akzeptanz des Gedächtnistheaters aufbrechen. Diese Interventionen erlauben nicht nur, der etablierten Geschichte eine andere entgegenzusetzen und so die Wirkweise des Gedächtnistheaters offenzulegen, sondern sie forderten auch Jüdinnen*Juden zur Reflexion der eigenen Selbstbilder auf. Czolleks Ruf „Desintegriert euch!“ meint also: Begegnet Normalisierungstendenzen und Vergangenheitsbewältigung durch Umdeutungen und Aneignungen, um hegemoniale Strukturen zu demaskieren und eure eigene Partizipation zu reflektieren. Das Programm seiner Polemik ist es, den aktuellen und historischen gesellschaftlichen Diskurs nicht als ‚Normalität‘ ruhen zu lassen, sondern ihn fürs Empowerment der Jüdinnen*Juden in Deutschland zu nutzen: „Ich fordere einen Zusatz zur Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes: Es wird nie wieder alles gut.“ (Czollek 2018: 182)
Dabei zielt sein Desintegrationskonzept auf eine Gesellschaft der radikalen Vielfalt. Weil das Buch den Inhalt dieser Konstellation nicht vorstellt, soll er hier kurz zusammengefasst werden. Die Gesellschaft der radikalen Vielfalt geht auf Ansätze des Institut Social Justice und Diversity zurück und ist später in der Jalta mit Desintegration verbunden worden (vgl. Czollek/Perko 2007; Czollek/Perko/Weinbach 2011; Czollek et al. 2017). Es handelt sich – knapp zusammengefasst – um die Vorstellung, dass eine auf die Anerkennung individueller Pluralität, Diversität und Heterogenität aufbauende Gesellschaft die strukturelle Diskriminierung von Gruppen beseitige, so dass die inter- und intraindividuelle Vielfalt zu Tage trete. Dass Czollek zwar die Gesellschaft der radikalen Vielfalt als Ziel seiner Bewegung benennt, seine Leser*innen aber im Unklaren lässt, was darunter zu verstehen ist, sollte diskutiert werden. Einerseits kann diese Leerstelle interessierte Leser*innen zur weiterführenden Lektüre (des annotierten Artikels: vgl. Czollek et al. 2017) anregen. Andererseits stiftet sie Verwirrung und macht die – ansonsten durch das Format der Polemik schwer angreifbare – Argumentation vulnerabel.7 Vorhalten kann man Czollek mit Kenntnis früherer und aktueller Debatten um die Desintegration, sich einzig auf seine Position beschränkt zu haben. Die zweite Ausgabe der Jalta zeigt, dass es mindestens zwölf weitere Bearbeitungen dieses bewusst offen und ambivalent gehaltenen Konzepts gibt. Insofern verengt das rezensierte Buch den Blick auf die Vielfalt und die Differenz von Desintegration. Vor dieser Folie lässt sich auch der Eindruck, der Autor nutze das Buch als Werbung für seine künstlerischen Äußerungen, als Kritikpunkt anführen. Für ein auf radikale Diversität abhebendes Konzept fehlen die Stimmen der anderen Künstler*innen und Aktivist*innen aus dem Umfeld der Desintegration.
Czolleks Streitschrift erreicht ihr Ziel, einer breiteren gesellschaftlichen Öffentlichkeit den Wunsch nach Partizipation junger Jüdinnen*Juden vorzutragen, mit Bravur.8 Rhetorisch gewandt und mit trefflichen Annotationen9 kann es dem Buch gelingen, zur Verschiebung der Perspektive auf das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland beizutragen. Diese Streitschrift bietet zwischen den Buchdeckeln mehr, als das Format vermuten lässt. Czollek hat ein einschlagendes Buch vorgelegt, das sprachlich ein breites Publikum erreicht, durch seinen Apparat wissenschaftlich bearbeitet werden kann und zugleich der Wut eines Menschen Gehör verschafft, der alltägliche Diskriminierungen erfahren muss. Ann-Katrin Tlusty (2018) schreibt ganz richtig, das Buch „erschafft einen Sound, der Czolleks Absage an das Gedächtnistheater performativ umsetzt: Hier spricht einer, der wütend ist auf den gegenwärtigen Umgang mit einem ‚ganz besonders abgefuckten 20. Jahrhundert‘.“
Um zusammenzufassen: Die wissenschaftliche Zitation ist zu stilistischen Zwecken sinnvoll. Das Buch selbst eignet sich aber auch zur Diskussion. Seine Leistung besteht darin, seiner beabsichtigten und gesellschaftlich höchst relevanten Provokation Gehör zu verschaffen. Die Rezensent*innen aufzurütteln, gelang Desintegriert euch! durch sein brillantes Nebeneinander von wütender Kritik, gewandtem Sprachgebrauch und mühelosem Umgang mit der Gattung. Czollek geht über die Genregrenzen hinaus – und trifft so nicht nur diejenigen, die gleicher Meinung sind wie er.
Fußnoten
1 Als Diskursraum für Angehörige der Minderheitsbevölkerung in Deutschland, vornehmlich für Jüdinnen*Juden, will die Jalta zur Bildung von minderheitsgesellschaftlichen Allianzen, zum Empowerment und zur Selbstermächtigung ihrer Autor*innen beitragen. In ihrem Selbstverständnis als Sprachrohr marginalisierter Stimmen der postmigrantischen Bundesrepublik hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die Vielfalt der gesellschaftlichen und politischen Positionen von Jüdinnen*Juden in Deutschland darzustellen und sie zu einem Netzwerk zu verknüpfen (vgl. Peaceman/Wohl von Haselberg 2017). 2 Den Begriff „postmigrantisch” hat insbesondere Shermin Langhoff geprägt; auf die Repräsentationslücken hinweisend, betont er die Vielfalt von Perspektiven innerhalb der aktuellen Gesellschaft in der BRD. 3 Besonders deutlich wird die bewusste Offenheit und Ambivalenz in der „Jalta 2”, wo neben dem Verständnis von Czollek et al. (2017: 44-52) noch zwölf weitere Zugänge zur Desintegration vorgestellt werden. 4 So umfassten das Kurator*innen-Team des 3. Herbstsalons Max Czollek, Sasha Marianna Salzmann, Aljoscha Begrich, Cağla Ilk und Erden Kosova. Die künstlerische Leitung übernahm Shermin Langhoff. Zwölf internationale Künstler*innen stellten ihre Kritik am Integrationskonzept vor (vgl. Kulturstiftung des Bundes 2017). 5 Allen, die sich für andere künstlerische Bearbeitungen interessiert, sei die zweite Ausgabe der „Jalta” empfohlen. 6 Othering bezeichnet eine rassistische Strategie, bei der mittels einer Normalisierung des ‚Eigenen‘ das ‚Andere‘ abgewertet wird. In der postkolonialen Theoriebildung ist darauf hingewiesen worden, dass die Repräsentation der Subjekte auf der Basis implizierter moralischer Hierarchisierungen erfolgt (vgl. Said 1978, Spivak 1985). Rassistische Strategien wie das Othering werden hier auf die Trennung von Alterität und Identität zurückgeführt und als Grundmechanismen kolonialer Diskurse ausgewiesen. Der Grund für die Hierarchisierung sei in der klassisch-logischen Bildung binärer Oppositionspaare zu suchen, denn sie führe zur Bildung kultureller Schlüsselgegensätze (Rede/Schrift, Seele/Leib, schwarz/weiß usw.), die ein kohärentes Weltbild suggerierten und so in letzter Instanz moralisch evaluierend wirkten (vgl. Derrida 1998). 7 Stephans (2018) Verriss setzt an dieser Unbestimmtheit an: „Den Deutschen stellt er [Czollek] die Juden gegenüber, einer radikalen Homogenität eine ‚radikale Vielfalt‘. […] Der wütende Sprachgestus des Buches signalisiert, dass Czollek dringend etwas sagen möchte. Er scheint nur nicht genau zu wissen, wie. Oder was genau. Czollek fordert Differenzierung für sich selbst, gewährt sie aber niemandem sonst“. 8 Stephan (2018) stellt zurecht fest, dass die vorgestellten Positionen bereits vorgetragen wurden. Die Absicht des Buches ist es aber, sie einer breiteren Öffentlichkeit zuzuführen. 9 Ein formales Manko ist allerdings die Annotation von Jureit/Schneider 2010. Czollek (95) folgt ihrem Buch, wenn er die Weizsäcker-Rede als erinnerungsmoralische Vergangenheitsbewältigung beschreibt, annotiert es aber nur als weiterführende Literatur.