Nagle, Angela (2018): Die digitale Gegenrevolution. Online Kultur-Kämpfe von der Neuen Rechten von 4chan zu Tumblr bis zur Alt-Right und Trump. Bielefeld: transcript; 145 S. ISBN: 978-3-8376-4397-8.

Milo Yiannopolis, 35 Jahre, homosexuell, Trump-Unterstützer. Was paradox klingt, ist Wirklichkeit. Ein Minderheits-Vertreter macht sich für einen offen gegenüber Frauen, Ausländer*innen und Homosexuellen feindlichen, reichen Unternehmer stark. Zu seinem eigenen Wohl, denn die politische Entwicklung habe Schwule verweichlichen lassen und die Verbreitung guter genetischer Voraussetzungen verhindert.1 Er ist nur ein Beispiel für eine ungeahnte Einigkeit im Netz zugunsten Trumps, dem wohl bisher umstrittensten Präsidenten der USA: Trotz zahlreicher Kontroversen und einem überstandenen Amtsenthebungsverfahren ist seine Wiederwahl nicht unwahrscheinlich2. Ein Grund mehr, sich mit seinem Aufstieg zu beschäftigen. In der Präsidentschaftswahl zeigt sich ein Symptom eines Krieges um kulturelle Grundsätze, die einst als selbstverständlich galten – Diskriminierung ist wieder salonfähig geworden.
Diese Entwicklung versucht Angela Nagle, Medienwissenschaftlerin aus den Vereinigten Staaten, in ihrem 2018 bei transcript auf Deutsch erschienenen Essay Die digitale Gegenrevolution3 nachzuvollziehen. Eine lila verschwommene Kröte vor einem stechend gelben Hintergrund begrüßt auf dem Einband. Eine grelle Versinnbildlichung der kulturellen Krise? Mit diesem Eindruck geraten Leser*innen in Erstkontakt mit Nagles Rundumschlag, ohne auch nur die erste Seite gelesen zu haben. Der Untertitel, der gleich vier politisch brisante Schlagworte enthält, vermag anzuzeigen, dass sowohl die Netzwerke 4chan und Tumblr als auch die amerikanische Rechte mit der Ikone Donald Trump in ihrer wahren Natur gezeigt werden. Folgt man der Vorausschau in der Einleitung des original englischsprachig erschienenen Buches, erwartet man Klarheit über gesellschaftlich aktuelle Themen, vor allem dem Kampf um kulturelle Normen und Werte, zu erlangen. Nebst dessen möchte die Autorin eine Entwicklungsgeschichte der Online-Kulturkämpfe nachzeichnen, deren Struktur ordnen sowie zeigen, wie stark ihr Einfluss auf das politische Leben ist.
Wenn auch der ursprüngliche Titel Kill All Normies4 (dt. „Tötet alle Normalos“) reißerischer klingt, kann das Buch auf den ersten Seiten Interesse wecken. Nagle benennt beizeiten das Internet als Wiege von Trumps Wahlsieg, der unter anderem wohl in der gestiegenen Bedeutung nutzergenerierter Inhalte und dem Hoheitsverlust traditioneller Medien begründet liegen soll. Mitangeführt werden sowohl aufgebauschte Reaktionen auf den Tod des Flachlandgorillas Harambe 2016, der erschossen wurde als ein Dreijähriger ins Gehege gefallen war, wie auch Sexismus-Erfahrungen feministischer Autor*innen, anhand derer die rohen Umgangsformen im Netz demonstriert werden. Ebenso findet das abstrus wirkende Misogynie-Netzwerk Men Going Their Own Way, kurz MGTOW, Erwähnung – eine Gruppe von Männern, die sich Frauen vollständig versagen möchten. Einen Grund des Erstarkens rechter Tendenzen sieht die New Yorkerin in der Mahnkultur, die sich rund um Rassismus und Diskriminierung im Alltag etabliert hat. Die Linken hätten nicht souverän reagiert, sondern sich in ihrem ‚Mimosen-Dasein‘ verrannt und dabei verpasst, im rechten Moment die Stirn zu bieten.
Anhand von Beispielen aus der Gamergate-Kontroverse, bei der Spielerinnen wegen ihres Geschlechts und ihrer Meinung, etwa Frauen würden in der Gaming-Szene stereotypisiert, diffamiert worden sind, stellt Nagle unbequeme Seiten der Online-Präsenz heraus: Hasskommentare, Hackerangriffe und die versuchte öffentliche Bloßstellung, zum Beispiel durch Fotomontagen, seien keine Seltenheit. Insbesondere scheine dies zu gelten, wenn das Kollektiv sich auf einen ‚Feind‘ geeinigt habe. Aber auch die sogenannten ‚Campus-Kriege‘, Trumps Aufstieg und ‚Online-Sümpfe‘, in denen düsterste Gesinnungen einen Deckmantel finden, versucht Nagle anschaulich zu beschreiben – leider mit einer mangelhaften Quellenführung. Den Ursprung und Kontext der meisten Zitate sucht man vergebens. Beziehungen werden dadurch schwer erkennbar; lobenswert, dass der Übersetzer Demian Niehaus zumindest Insider-Vokabular erklärt und einige wenige Quellen nachliefert. Dies gilt auch für die Belegführung bei der Einordung in theoretische Kontexte: Bedeutungsschwangere Namen wie Bataille und Gramsci fallen zwar, doch ist die Verbindung mit der Argumentationslinie der Autorin nur schwach und mit Wohlwollen erkennbar. Die Grenzüberschreitung, die zum Beispiel auf 4chan tagtäglich durch unmoralische Postings begangen wird, wird etwa Nietzsche zugeschrieben:

Nietzsche, den die rechtslastige chan-Kultur – wissentlich oder nicht – heraufbeschwört wie kaum einen anderen Denker, steht für die Überwindung einer als betäubend erlebten moralischen Ordnung und ein Bejahen des als ‚Wille zur Macht‘ verstandenen Lebens.5

Im nächsten Atemzug jedoch referiert sie auf Freud und Bataille, ohne tiefer auf Verbindungen zwischen den Theorien und den Online-Netzwerken einzugehen. Die Armut an Verknüpfungen grassiert gleichermaßen bei gesellschaftlichen Ereignissen. Die Campus-Kriege wie auch die 68er-Revolution werden im selben Atemzug wie die aktuellen Kulturkämpfe genannt, ohne etwaige Relationen herzustellen.  Es macht den Eindruck, Nagle hätte einen Tunnelblick aufgesetzt und argumentiere blind für ihre Theorie ohne Erkenntnisse ihrer Kolleg*innen miteinzubeziehen – auch wenn ihre Gedankengänge für sich betrachtet schlüssig scheinen. Einen ähnlichen Eindruck schildert Kevin Pauliks, der selbst an den Universitäten Marburg und Wuppertal an Memes forscht: „Ein methodisches Vorgehen wird von Nagle nicht verfolgt und auch Theorie zieht sie nur selten heran“, schreibt der Wissenschaftler, es sei eine „Juxtaposition von Textbausteinen“.6

Trotz allem ist Angela Nagles Konstrukt eine lohnenswerte, anregende Lektüre, bei der sowohl ‚rechts‘ als auch ‚links‘ nicht verschont bleiben. Hätten zwar einige Seiten mehr als die 145, auf die sich beschränkt wird, der Argumentationsführung wohlgetan und einer wissenschaftlicheren Auseinandersetzung Platz geboten, fasst die Medienwissenschaftlerin schlüssig ihre Sicht auf die Online-Gemeinde zusammen: Die führerlosen Online-Subkulturen haben sich aus ihren Nischen heraus einen Weg in Gesellschaft und Politik gebahnt und wüten unkontrolliert. Rechte Inhalte schockieren, sind rebellisch – genauso wie früher die sogenannten Punks oder ein gewisser aufstrebender Malerknabe aus Österreich, der Deutschland zugrunde richten sollte.

Auch in unseren Breiten lassen sich verstärkt extremistische Tendenzen im Netz ablesen. Rechte Zusammenschlüsse wie die Alternative für Deutschland oder die Identitäre Bewegung liefern sich einen Schlagabtausch mit anderen politischen Gesinnungen, ‚Errungenschaften‘ der modernen Gesellschaft werden aktiv kritisiert. Überdies wird in unseren Reihen Hass akzeptierter – eine Entwicklung, die es zu reflektieren und beobachten gilt. An dieser Stelle liefert Nagle einen Anschlusspunkt, dem man sich sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen annehmen sollte. Bezogen auf den deutschen Raum bietet sich etwa Thomas Wagners Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten7 als Anknüpfung an Nagles Werk an. Unter Einbezug Beteiligter setzt er sich mit der politischen Situation des rechten Lagers in Deutschland auseinander. Inhaltlich weisen Nagles und Wagners Werke offensichtliche Parallelen auf; Wagner jedoch schafft es, seine Aussagen stichhaltig zu verifizieren. Der Autor beschreibt nicht nur die von der 1968er-Revolution ausgehenden erstarkenden Rechten und deren Mittel, sondern taucht tief in die Organisationen ein und bietet umfassende Lösungsvorschläge. Seine Empfehlung: Mit Rechten reden, statt sie auszugrenzen. Aber ob Nagle oder Wagner; die Entwicklung hin zu Extremen bleibt real. Im Angesicht von rechten Anschlägen wie im Februar 2020 in Hanau, bei dem aus tiefem Groll zehn Menschen sterben mussten, oder dem Aufschrei nach Gleichbehandlung von PoC8 infolge der mutmaßlich rassistisch motivierten Ermordung George Floyds im Mai 2020 liegt es in der eigenen Verantwortung, Zusammenhänge zu verstehen und aktiv zu werden.


Fußnoten

1 Vgl. Yiannopolis, Milo (2015): Milo: Gay Rights Have Made Us Dumber, It’s Time to Get Back in the Closet. In: Breitbart: https://www.breitbart.com/politics/2015/06/17/gay-rights-have-made-us-dumber-its-time-to-get-back-in-the-closet/. 17.05.2015 (letzter Zugriff: 23.12.2019). 2 Vgl. Zandi, Mark / White, Dan / Yaros, Bernhard (2019): 2020 Presidental Election Model. In: Moodys Analytics: https://www.moodysanalytics.com/-/media/article/2019/president-election-model.pdf (letzter Zugriff: 23.01.2020). 3 Nagle, Angela (2018): Die digitale Gegenrevolution. Online Kultur-Kämpfe von der Neuen Rechten von 4chan zu Tumblr bis zur Alt-Right und Trump. Bielefeld: transcript. 4 Nagle, Angela (2017): Kill All Normies. Online Culture Wars From 4Chan And Tumblr To Trump And The Alt-Right. Alresford: John Hunt. 5 Nagle, Angela (2018): Die digitale Gegenrevolution, S. 47. 6 Paulicks, Kevin (2019): Angela Nagle: Die digitale Gegenrevolution: Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump. In: MEDIENwissenschaft. Rezensionen. Reviews 36/2, S. 206. 7 Wagner, Thomas (2017): Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten. Berlin: Aufbau-Verlag. 8 Amnesty International empfiehlt im Rahmen der diskriminierungsfreien Sprache die Bezeichnung PoC (Person bzw. People of Color), siehe auch https://www.amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible-sprache.

Literaturverzeichnis

Nagle, Angela (2017): Kill All Normies. Online Culture Wars from 4Chan and Tumblr to Trump and The Alt-Right. Alresford: John Hunt.
Nagle, Angela (2018): Die digitale Gegenrevolution. Online Kultur-Kämpfe von der Neuen Rechten von 4chan zu Tumblr bis zur Alt-Right und Trump. Bielefeld: transcript.
Paulicks, Kevin (2019): Angela Nagle: Die digitale Gegenrevolution: Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump. In: MEDIENwissenschaft Rezensionen. Reviews 36/2, S. 206-207.
Wagner, Thomas (2017): Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten. Berlin: Aufbau-Verlag.
Zandi, Mark / White, Dan / Yaros, Bernhard (2019): 2020 Presidental Election Model. In: Moodys Analytics: https://www.moodysanalytics.com/-/media/article/2019/president-election-model.pdf (letzter Zugriff: 23.01.2020).
Yiannopolis, Milo (2015): Milo: Gay Rights Have Made Us Dumber, It’s Time to Get Back in the Closet. In: Breitbart: https://www.breitbart.com/politics/2015/06/17/gay-rights-have-made-us-dumber-its-time-to-get-back-in-the-closet/. 17.05.2015 (letzter Zugriff: 23.12.2019).