Dieter Mersch
Unsere Reihe Portraits zeigt Facetten der Kulturwissenschaften in ihren Personen und Institutionen. Kulturwissenschaftler*innen stellen pointiert sich und ihre Sicht auf die Kulturwissenschaften vor.
Name: Dieter Mersch
Anbindung: Zürcher Hochschule der Künste. Pensioniert
Fach/Disziplin: Ästhetik/Philosophie
1. Was sind Ihre kulturwissenschaftlichen Interessensgebiete?
Philosophie, Ästhetik, Kunstphilosophie, Wissenschaftsphilosophie sowie die verschiedensten Konstellationen zeitgenössischer philosophischer Strömungen und deren Einseitigkeiten und Irrtümer und Einschluss der Medienwissenschaften. Man könnte mit einem Wort sagen: Ich betreibe auf meine Weise Grundlagenforschung, auch und gerade in Bezug auf die Grundlagen der Kulturwissenschaften. So sind auch die verschiedenen Publikationen zu verstehen: “Was sich zeigt” (2002) als Kritik an Strukturalismus und Konstruktivismus und Einbeziehung der Irreduzibilität einer nichtkonstruierbaren und nonsemiotischen materiellen Dimension, “Ereignis und Aura” als Kritik an Werk- und Rezeptionsästhetik mit Blick auf die performative Wende in den Künsten, die Aufsätze um eine ‘Negative Medientheorie’ (2006 ff.) als andere und nichttechnische Begründung des Medialen, “Posthermeneutik” (2010) als Auslotung der Grenzen des Sinns , “Epistemologien des Ästhetischen” (2015) als Begründung einer alteritären Epistemologie der Künste sowie die jüngeren Arbeiten zur ‘Kritik algorithmischer Rationalität’ (2020 ff.) oder “Actor & Avatar” (2023, Hg.) als Auseinandersetzung mit einem von mathematischer Vernunft besessenem technischen Konstruktivismus sowie “Humanismus und Antihumanismus” (2023) als kritische Lektüren von Simondon, Latour, New Materialism und Ähnlichem.
2. Was verstehen Sie unter Kulturwissenschaften?
Kulturwissenschaften bilden, wie der Plural anzeigt, ein heterogenes Feld von Disziplinen, die die menschlichen Kulturen wie ihre Umwelt in ihrer Geschichtlichkeit und im Ganzen mit verschiedenen Methoden und in unterschiedlichen Hinsichten untersuchen. Kulturen gibt es ebenfalls nur im Plural, dennoch bleibt jede Untersuchung perspektivisch dadurch vorentschieden, dass sie sich bereits in einem kulturellen Erbe bewegt, das sie zugleich beschränkt. Ich selbst bin als Europäer im hohen Maße durch die europäische Kultur und ihre Geschichte von der frühen Antike bis heute geprägt. Mein Interesse an gewissen ostasiatischen Philosophien oder außereuropäischen sowie vor allem historisch vergangenen Künsten und Religionen untersteht dieser Prägung und bleibt daher gezeichnet von Fremdheitserfahrungen, die zugleich die Erfahrungen von Differenz ermöglichen. Differenz und Fremdheit sind wichtige Impulse für Vorsicht und Anerkennung. Sie schützen vor Totalisierungen und ermöglichen eine untilgbare Skepsis. Zudem bleibt meine Perspektive überall eine philosophische, d.h. auf Grundbegrifflichkeiten bezogen, die zugleich an Alteritätserfahrungen überprüft werden. Kultur – das sind folglich nicht nur die Kulturen, sondern Vielfalt, Austausch, produktive Aneignung und Translation bestehen auch nach Innen; und wenn auch seit ca. 200 Jahren die Wissenschaften im europäischen Denken zu dominieren scheinen, bilden sie nur einen kleinen, problematischen Auschnitt aus einer Vielheit (oder metaphorisch gesagt: ‘Un-endlichkeit’) von Praktiken und Sinnproduktionen, von denen mich die Besonderheiten der Künste und ästhetischen Praktiken stets am meisten fasziniert haben.
3. Sind Sie „offiziell“ Kulturwissenschaftler*in? Wie ist an Ihrer Institution Kulturwissenschaft vertreten bzw. organisiert? Gibt es ein eigenständiges Fach?
Ich glaube, ich werde – auch in der eigenen Institution – vor allem als Philosoph und Ästhetiker rezipiert; als ehemaliger Leiter des “Institutes for Critical Theory” als Forschungsinstitut an einer Kunsthochschule ging es mir vor allem um eine philosophische Begründung des autochthonen epistemischen Beitrags (aller) Künste zu Fragen der Wahrnehmung, Identität, der politischen und sozialen Kulturen etc. sowie um eine Fundierung des ‘artistic research’ im Eigensinn ästhetischen Denkens und ihrer Unterscheidung vom wissenschaftlichen Denken. Neben dem “Institut für Theorie” verfügt die Zürcher Hochschule der Künste auch über ein “Institute for Cultural Studies in the Arts”, das sich für Kulturstudien mittels künstlerischer Praktiken interessiert (z.B. Visuelle Kulturen). Enge Verbindungen gibt es auch zu den kulturwissenschafltichen Instituten und Kulturstudien an der Universität Zürich.
4. Worin sehen Sie die Aufgabe kulturwissenschaftlicher Forschung in Richtung Universität und in Richtung Gesellschaft
Die eigentliche Aufgabe der Kulturwissenschaften als Wissenschaften sowie als gesellschaftliche Praktiken sehe ich in der Entfaltung und Weiterentwicklung eines Sinns für Diversität. Das gilt auch in methodischer und theoretischer Hinsicht – denn was für mich die Universität und das universitäre Leben nach wie vor auszeichnet, ist die Möglichkeit eines fortgesetzten Streits der Fakultäten sowie ein unablässiges Ringen um eine Vertiefung von Verständigungen. Mit ‘Verständigung’ meine ich weniger Kommunikation und Übersetzung, als vielmehr in erster Linie den unerschrockenen Blick ins Dunkel sowie den Abgrund und die Paradoxien unserer Beziehungen zu uns selbst, zu anderen und zur Welt im Ganzen.
5. Was wünschen Sie sich für die Kulturwissenschaften? Welche Potenziale sehen Sie?
Für die Kulturwissenschaften wünsche ich mir mehr philosophische Fundierung und mehr Grundlagendiskussionen. Alle derzeit kursierenden Ansätze – von der Actor-Network-Theory über die Neuen Ontologien, die Ökologie und der Feminismus – sind, genauso wie die älteren Ansätze des Strukturalismus und Poststrukturalismus oder die Systemtheorie und die Dekonstruktion etc. problematisch und bedürfen der permanenten Kritik und Revision.