Andreas Ackermann: Wider die „Culturbrille“ – Versuch, Hartmut Böhmes „Perspektiven der Kulturwissenschaft“ auszuweiten

Abstract: The following comment attempts to expand Böhme’s „Perspectives of Kulturwissenschaft“ from a cultural anthropological viewpoint. It argues for the reflection on a Eurocentric bias of Kultur­wissenschaft (termed Kulturbrille by Franz Boas), specifically its fundamental narrative of modernity, as well as its prevalent preference for the semiotic sign. Using participant observation as an illust­ration, the comment suggests to first critically examine the various notions of modernity from the perspective of the ‚other‘ (usually imagined to exist outside modernity); secondly, to complement the preoccupation of Kulturwissenschaft with semiotics and representations of the mind by the pheno­menological dimension of human experience and the body (‚Leib‘), in order to increase the discipline’s analytic potential.

Keywords: cultural anthropology, social anthropology, culture, modernity, othering, body, mind, phenomenology, participant observation, social aesthetics

1 Ethnologie als ‚Astronomie‘ der Kulturwissenschaft

Hartmut Böhme, einer der entscheidenden Impuls­geber für die Entwicklung der Disziplin in jüngster Zeit, skizziert in seinem Beitrag auf überzeugende Weise Charakteristika eines kulturwissenschaftli­chen Blicks und verweist dabei auf Phänomene, die einer spezifisch kulturwissenschaftlichen Untersuchung bedürfen. In diesem Zusammen­hang analysiert er erstens die Funktionen der so genannten freien und nützlichen Künste, zweitens Konstellationen der Subjektivität in der Indust­riegesellschaft des 19. Jahrhunderts, drittens die rezente Balance zwischen Sicherheit und Risiko sowie schließlich viertens die Beziehung von Kul­tur und Religion in der gegenwärtigen Zeit, die er als polyzentrisch, postreligiös und postaufklä­rerisch charakterisiert. Zuzustimmen ist seiner Einschätzung, dass eine kulturwissenschaftliche Wende neben Differenzierungszuwächsen durch­aus auch moralische und politische Gewinne ver­spricht, und zwar „eine bessere Praxis in den Fel­dern der Multikulturalität, der Minoritätenpolitik, des Euro- und Logozentrismus, der latent oder offen kolonialistischen Hierarchisierung von Kul­turen“ (vgl. Böhme in diesem Heft). Mit Blick auf die von Böhme zum „Konstituens der Kulturwis­senschaft“ erklärte reflexive Stufe der Beobach­tung scheint dabei besonders eine konsequentere Reflexion dieses Euro- und Logozentrismus von­nöten, um eben diese – inzwischen dringender denn je benötigten – Gewinne im Umgang mit kultureller Komplexität nicht zu gefährden.

Eine solche Reflexion kann von Einsichten profitieren, die die Ethnologie hervorgebracht hat. Als von Aufklärung und Romantik glei­chermaßen gespeiste Wissenschaft vom (sub-) kulturell Fremden (vgl. Kohl 2012), anfangs in kolonialen, später in postkolonialen und globa­lisierten Zusammenhängen, kann diese gleich­sam als „Astronomie“ der Kulturwissenschaft(en) fungieren, „beauftragt, den Sinn von Konfigu­rationen, die sich nach Größe und Entfernung von denen, in denen der Beobachter lebt, sehr unterscheiden, herauszuarbeiten“ (Lévi-Strauss 1967: 406). Solche Gruppen sind nicht unbedingt weniger komplex strukturiert als die des Beob­achters, bringen aber aufgrund ihrer Differenz bestimmte allgemeine Merkmale menschlichen Zusammenlebens zum Vorschein. Mit ihrem Stu­dium der Gemeinsamkeiten und Unterschiede menschlicher Gemeinschaften legt die Ethno­logie die Grundlage für eine allgemeine Theorie der Kultur, ist also Kulturwissenschaft par excel­lence. Der kulturvergleichende Ansatz der Ethno­logie ermöglicht es zudem, das Selbstverständli­che unserer eigenen Kultur (und damit auch der Wissenschaft) zu reflektieren. Verglichen werden dabei allerdings weniger vermeintlich eindeutig abgrenzbare Objekte oder Einheiten, als vielmehr Weltbilder, identifikatorische Bezüge und Lebens­weisen. Vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtet ist gewiss, dass es immer auch alter­native Lebensweisen gibt sowie die Möglichkeit, zwischen diesen hin- und herzuwechseln.

Verstärkt wird die Einnahme eines perma­nenten ‚Seitenblicks‘ (Ingold 2011: 239) durch die für die Ethnologie seit Malinowski konstitutive Methode der teilnehmenden Beobachtung. For­mal geht diese von einem langen Aufenthalt des Ethnologen bzw. der Ethnologin in der Gruppe aus, inmitten derer geforscht werden soll, da eine sekundäre Sozialisation in die fremde Kultur ange­strebt wird. Inhaltlich wird die Einbindung in die lokale Alltagspraxis betont, da nicht nur Symbole und Zeichen, sondern auch leibliche Erfahrungen und implizites Wissen Bestandteil ethnographi­scher Arbeit sind. In der Formulierung Karl-Heinz Kohls ist der Ethnograph „Subjekt und Objekt der Forschung zugleich, er ist Beobachter, Instrument der Beobachtung und Beobachteter in einem“ (Kohl 2012: 115). Teilnehmende Beobachtung besteht jedoch nicht in der Forschung über, sondern einer Forschung mit Menschen. Forscher und Beforschte befinden sich im wechselseitigen Austausch und konstituieren über ihre Zusammenarbeit letztlich gemeinsam das Forschungsfeld. Ethnographische Forschung wird nicht innerhalb der Relation von Subjekt und Welt bzw. Gegenstand, sondern zwi­schen Menschen vollzogen, sie ist eine kommuni­kativ-soziale Praxis, die auf Teilnahme und Nähe basiert. Sie grenzt sich damit von objektivistisch-szientifischen Methoden ab, die auf Beobachtung und Distanz setzen und das Reale dadurch ver­fremden, dass sie es aus dem Bereich unmittel­barer Erfahrung herausnehmen (vgl. Ingold 2011: 239). Johannes Fabian kritisiert diesen „aske­tischen Rückzug aus der Welt, wie wir sie mit unseren Sinnen erfahren“ (Fabian 2001: 11) und verweist darauf, dass Ethnologen und Forschungs­reisende insbesondere bei ihren ersten oder frü­hen Kontakten mit ihnen unvertrauten Kulturen zum Realen und zu neuen Ergebnissen immer dann gelangten, wenn sie es sich gestatteten, tat­sächliche Erfahrungen zu machen und sich davon auch anrühren zu lassen. Dies wiederum führte häufig auch zu Widersprüchen, die nur dadurch überwunden werden konnten, dass man aus den rationalisierten Rahmenbedingungen der For­schungsreisen, sei es Glaube, Wissen, Profit oder Herrschaft, heraustrat und – manchmal für lange Zeit – außerhalb ihrer zu existieren versuchte. Ein solches Heraustreten bezeichnet Fabian als „das Ekstatische“ (Fabian 2001: 23f.). Der methodische Stellenwert der Selbsterfahrung im Rahmen von Fremderfahrung rückt die Ethnographie näher an die Kunst als Erfahrung eines Anderen und ver­weist auf die damit einhergehenden Möglichkeiten eines Anders-Denkens bzw. Anders-Wahrnehmens etc. Insofern stellt die Ethnologie auch „die Frage nach der Integrierbarkeit dessen, was jenseits der westlichen Schriftkultur und Vernunft vorgeht, in die westliche Schriftkultur“ (Hauschild 2005: 61).

Ein Kulturvergleich setzt allerdings voraus, dass es etwas zu vergleichen gibt. Diesbezüglich unterschiedliche Positionen werden bereits in Folge der Aufklärung deutlich: Wenn Kant beispielsweise mit Kultur eine Idealvorstellung bürgerlicher Indi­vidualität verbindet, die zu ihrer Vermittlung des neuartigen Schauplatzes der bürgerlichen Öffent­lichkeit bedarf, so folgt daraus, dass dieser Kul­turbegriff auf nicht-europäische Gesellschaften nicht übertragbar ist (vgl. Petermann 2004: 309). Diese wurden letztlich als Gegensatz des bür­gerlichen ‚Kulturmenschen‘ konzipiert und galten gemäß der evolutionistischen Perspektive auch als ‚lebende Erinnerung‘ an die primitiven Anfänge der menschlichen Gattung; im Unterschied dazu war Herder nicht nur einer der ersten, der auf außer­europäische Kontexte bezogen von Kultur sprach, sondern er verwendete auch als einer der Ersten bewusst den Plural Kulturen im Sinne von ‚Völkern‘ oder ‚Nationen‘ (ebd.).

Ohne an dieser Stelle auf die sich unmit­telbar aufdrängende Problematik von Herders ‚Volksgeist‘-Konzeption eingehen zu können, dürfte doch deutlich geworden sein, dass die eth­nologische Perspektive auf Kultur wesentlich wei­ter gefasst ist als die einer von Böhme erwähn­ten kompensatorischen „zivilgesellschaftlichen Dienstleistung“, die angesichts der „Moderni­sierungsschäden“ (vgl. Böhme, ebd.) verstärkt nachgefragt werde. Obwohl die Ethnologie wohl­weislich auf eine eindeutige Definition von Kul­tur verzichtet hat, kann sie doch einige hilfreiche Eingrenzungen bieten. Demzufolge favorisiert sie einen weiten, im Sinne von Reckwitz (2004: 4) „bedeutungsorientierten“ Kulturbegriff, der sich eben nicht auf ‚zivilisatorische Errungenschaf­ten‘ wie Kunst und Literatur beschränkt, sondern der sowohl ein materiales Instrumentarium, den Lebensunterhalt zu bestreiten, als auch Medium und symbolischer Ausdruck kollektiver Identität darstellt (Müller 2010: 23). ‚Verorten‘ lassen sich diese symbolischen Ordnungen jeweils auf der Ebene körperlich verankerter, Artefakte verwen­dender und öffentlich wahrnehmbarer ‚sozialer Praktiken‘ (ebd.). Als Ausdrucksinstrumentarium des Identitätsbewusstseins stellt Kultur das Mittel zur Differenzierung und Abgrenzung von anderen (benachbarten) Gruppen dar, sie „ist demnach die Form der Bearbeitung des Problems, daß es auch andere Kulturen gibt“ (Baecker 2000: 17).

2 Die ‚Culturbrille‘ der Kulturwissenschaft

Gerade die für die Ethnologie bestimmende Dif­ferenzerfahrung verhilft zu einer Sensibilität, die durchaus geeignet erscheint, das kulturwis­senschaftliche Reflexionsniveau hinsichtlich des euro- bzw. logozentrischen Blicks deutlich zu steigern. Franz Boas, deutscher Emigrant jüdi­scher Herkunft und erster Inhaber eines ethno­logischen Lehrstuhls in den USA hat darauf hin­gewiesen, dass „[i]n no case is it more difficult to lay aside the ‘Culturbrille’ […] than in viewing our own culture” (Boas 1904: 517).1 Ein erster vorsichtiger Blick über die Ränder jener „Cultur­brille“ zeigt vor allem zwei ‚blinde Flecken‘: ers­tens das eurozentrische Narrativ der Moderne und zweitens die logozentrische Favorisierung des Zeichens bzw. der Repräsentation gegenüber der Erfahrung. Beide sollen im Folgenden etwas genauer in Augenschein genommen werden.

(a) Das eurozentrische Narrativ der Moderne

Mit Max Scheler beginnend entwickelt Böhme seine Überlegungen zu den Perspektiven der Kul­turwissenschaft vor der Folie einer „Moderne“, die als ein ganz besonderes Zeitalter charakterisiert wird, u.a. ausgezeichnet durch beständig fort­schreitende Identitätsdiffusion, Reflexivitätsstei­gerung und Kontingenz (vgl. Böhme, ebd.). Als Narrativ ist die Moderne von nicht zu unterschät­zender Bedeutung, erzählt sie doch von der Auf­klärung als einer vernunft-basierten intellektuel­len Auflehnung gegen die Autorität von Tradition und Religion, die in den Aufstieg des europäischen Nationalstaates, von Kapitalismus und Industria­lisierung mündete. Diese Verbindung von Evolu­tion, Fortschritt, Entwicklung und Moderne gilt im Allgemeinen als evident und wird höchstens von religiösen Fundamentalisten in Frage gestellt. Dabei werden nicht nur Wandel und Fortschritt auf problematische Weise in eins gesetzt, die Konturen dieser Moderne – ggf. auch der „Multiple Modernities“ (Eisenstadt 2000) – als einer völlig neuen Epoche bleiben im Wesentlichen unscharf, etwa im Hinblick auf ihre Protagonisten bzw. den historischen Zeitrahmen (Hauschild 2005: 67). Von zentraler Bedeutung für die eurozentrische Selbstwahrnehmung ist hierbei die Betonung des Neuen: Sobald die Worte „modern“, „Modernisie­rung“, „Moderne“ auftauchen, so Latour (2008: 19), wird im Kontrast dazu eine archaische und stabile Vergangenheit definiert. Latour spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das Wort ‚modern‘ „doppelt asymmetrisch“ konnotiert sei: Es bezeichne einen Bruch im regelmäßigen Lauf der Zeit sowie einen Kampf, in dem es Sieger und Besiegte gebe (ebd.). Insofern tendiert das Narrativ der Moderne dazu, den Eurozentrismus zu verstärken, anstatt ihn zu reflektieren bzw. zu relativieren. Kulturwissenschaftlich gesehen kann die Moderne durchaus ein aufschlussreiches Forschungsfeld darstellen, nicht aber die Grund­lage zur Beschreibung vermeintlich eigener bzw. anders gelagerter Lebensweisen und Weltbilder.

Böhmes Hinweis, dass wichtige soziale Integrati­onen der Moderne über quasi-religiöse Mechanis­men verlaufen, „welche eben diese Moderne als nicht zu ihr gehörig, als vormodern und irrational“ abtun bzw. dass die Moderne zu ihrem Erhalt auf ihr Gegenteil („das Irrationale, ja Barbarische“) angewiesen sei (vgl. Böhme, ebd.), verweist auf einen weiteren problematischen Aspekt des Moderne-Konzepts, nämlich seinen Chronozen­trismus. Damit ist gemeint, dass dem bzw. den ‚Anderen‘ die Gleichzeitigkeit bzw. Zeitgenos­senschaft verweigert wird. Mit Latour lässt sich durchaus fragen, inwiefern die Angehörigen der Moderne überhaupt noch auf ‚der Höhe der Zeit‘ sind: „actually knowing how to become a con­temporary, that is, of one’s own time is the most difficult thing there is“ (Latour 2014: 14f.). In Time and the Other (1983) hat Johannes Fabian gezeigt, wie sich die Ethnologie ursprünglich über einen allochronen Diskurs etabliert hat, als Wis­senschaft von Menschen, die einer anderen Zeit angehören bzw. eines Diskurses, dessen Refe­renten aus der Gegenwart des sprechenden bzw. schreibenden Subjekts entfernt worden sind. Bei­spiele solchen ‚Otherings‘, wie Fabian es genannt hat, finden sich auch in der medialen Berichter­stattung über z.B. ‚Entwicklungshilfe‘ in Ländern der ‚dritten Welt‘ bzw. des ‚globalen Südens‘, deren Bewohner schon einmal ins Mittelalter (z.B. wenn es sich um Muslime handelt) oder gar in die Steinzeit (im Falle so genannter Indigener) ver­setzt werden. Eine solche Verweigerung der Zeit­genossenschaft lässt das Andere bzw. die Anderen zum Objekt werden, das als weniger entwickelt angesehen wird und setzt damit rassistische und kolonialistische Diskurse mit anderen Mitteln fort.

(b) Die logozentrische Favorisierung des Zeichens

Wenn Böhme mit Recht darauf verweist, dass „das Bild von Kultur in den Kulturwissenschaften zu sehr auf symbolische Kommunikation und sozi­ales Handeln konzentriert“ sei, möchte er die Auf­merksamkeit vor allem auf den Umstand lenken, „dass menschliche Kulturen nur analysiert werden können in den historischen Verhältnissen zu dem, was nichtmenschlich ist“ (vgl. Böhme, ebd.). Die Analyse dieser Verhältnisse findet in letzter Zeit verstärkte Aufmerksamkeit, wie etwa die Debat­ten um den Begriff des „Anthropozän“ (Latour 2014) oder die Entwicklung der so genannten „Humanimal Studies“ zeigen (stellvertretend für eine stetig steigende Anzahl von Publikationen: Ingold 2013; Dießelmann 2014; Spannring u.a. 2015). Aber noch innerhalb des menschlichen Bereichs stellt die logozentrische Auffassung ein Problem dar, bindet sie doch den Kulturbegriff (zu) stark an Textualität bzw. Diskurse und favorisiert das Zeichen bzw. die Repräsentation gegenüber der Erfahrung. Die Konzeptualisierung von Kul­tur mittels der von Paul Ricoeur entlehnten und von Clifford Geertz in die Ethnologie eingeführ­ten Text-Metapher hatte nicht nur zur Folge, dass Methoden der Literaturwissenschaft Einzug in die Ethnologie hielten, sondern auch, dass die Ethno­logie innerhalb der Kulturwissenschaften relevant wurde. Diese in ihren Anfängen durchaus frucht­bare Entwicklung führte allerdings dazu, dass im weitesten Sinne ‚textualistische‘ (Reckwitz 2004: 17) bzw. semiotische Ansätze den kulturwissen­schaftlichen Diskurs zu großen Teilen bestimmen (Ackermann 2016).

Damit entsteht ein Ungleichgewicht, denn Kultur besteht nicht nur in der Produktion bzw. Interpretation von Zeichen, sondern vielmehr auch in alltagspraktischem Handeln. Deshalb lässt sich das kulturwissenschaftliche Reflexionsniveau nur steigern, wenn nicht gewohnt cartesianisch zwischen Körper und Geist (bzw. Erfahrung und Repräsentation) unterschieden, sondern gerade indem versucht wird, diese unproduktive Entge­gensetzung zu überwinden. Hier können phäno­menologische bzw. ‚praxeologische‘ (Reckwitz 2004: 17) Ansätze mit Gewinn eingebracht wer­den, die den Körper als ‚Leib‘ konzipieren, der sich dadurch definiert, dass er die Welt erlebt und als Handlungs- bzw. Wahrnehmungspotential erfah­ren wird. Der Mensch ‚hat‘ demnach nicht nur einen Körper, sondern ist Leib, in dem Körper und Geist untrennbar verbunden sind. Phänomenolo­gisch gesehen ist der menschliche Körper damit nicht lediglich symbolischer „Ausdruck“ von Kultur, sondern stellt als „Leib“ vielmehr die „existentielle Voraussetzung von Kultur“ (Csordas 1990: 5) dar.

Das jeglicher kulturellen Praxis zugrundelie­gende dialektische Verhältnis von einverleibten und objektivierten sozialen Strukturen hat Pierre Bourdieu mit seinem Habitus-Begriff paradigma­tisch analysiert. Wie er zeigt, gibt es eine Logik (auch) der (wissenschaftlichen) Praxis, die – wie­derum als Culturbrille fungierend – den Anschein von Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit vermittelt und deshalb dringend kulturwissen­schaftlicher Reflexion bedarf. Der Habitus produ­ziert und reproduziert soziale Praktiken, er ist das „Körper gewordene Soziale“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 161), in den die Denk- und Sichtweisen einer Gesellschaft sowie ihre Wahrnehmungs­schemata und Prinzipien des Urteilens bzw. Bewertens eingegangen sind. Bourdieu fasst die­sen Prozess ganz leiblich, in dem Sinne, dass die sozialen Strukturen in Fleisch und Blut überge­hen und zu einem handelnden Leib werden. Diese Einverleibung der objektiven sozialen Strukturen findet mittels einer „stillen Pädagogik“ statt, bei der das soziale Umfeld von Anfang an mit Ermah­nungen und mit rituellen Praktiken und Diskur­sen zwischen Kind und Welt tritt (Bourdieu 1987: 128). Gleichzeitig „zeigen die Kinder für die Ges­ten und Posituren, die in ihren Augen den rich­tigen Erwachsenen ausmachen, außerordentliche Aufmerksamkeit“ und eignen sich diese mime­tisch an (Bourdieu 1979: 190). Die einverleibten Strukturen des Habitus stellen jedoch nur die eine Seite des komplexen Verhältnisses dar, das die soziale wie materiale Welt ausmacht. Die andere Seite bilden die externen, objektivierten Struktu­ren der sozialen Felder. Dabei handelt es sich um ein durch die soziale Praxis vermitteltes dialekti­sches Verhältnis von leiblichen Akteuren und der gegenständlichen Welt der Artefakte. Bourdieus Analyse zufolge stiftet der sozial geprägte Leib vor allem Ordnung und damit Sinn. Da die sozi­alen Akteure sich in der Gesellschaft orientieren, ihre Umwelt für sinnvoll und bedeutsam halten, reproduzieren sie diese auch als etwas Selbstver­ständliches bzw. Notwendiges. Mit Teresa Platz lässt sich dieser Sinn, d.h. die vom sozial gepräg­ten Leib gelebten Bedeutungen und Werte, auch als „Kultur“ bezeichnen (Platz 2006: 77); bezieht man die Materialität der Umwelt als „materielle Signatur“ einer Gemeinschaft ein, entsteht eine „kulturelle Landschaft“, deren kollektive Autor­schaft sich des gesamten verfügbaren Medien­angebots bedient: Steine und Erde, Fasern und Farbstoffe, Töne, Zeit und Raum sowie die vielfäl­tigen Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers (vgl. MacDougall 2006: 95).

3 Arbeits- bzw. Reflexionsfelder der Kulturwissenschaft

Aus dem Vorangegangenen lässt sich eine Anzahl von Beiträgen zur „Unvermeidlichkeit der Kultur­wissenschaft“ (vgl. Böhme, ebd.) destillieren, die an dieser Stelle natürlich nur angedeutet wer­den kann. Hinsichtlich eurozentrischer Narra­tive, die gerade im Zusammenhang mit der so genannten Flüchtlingskrise eine Hochzeit haben (auch wenn die Idee ‚Europa‘ sich ironischerweise dabei gerade aufzulösen droht), ist ein gestei­gertes kulturwissenschaftliches Reflexionsniveau gefordert, um politisch wie medial vermittelte Hysterien aufklären bzw. in zivilgesellschaftliche Schranken verweisen zu können. Debatten um Menschen- bzw. Minderheitenrechte sowie Multi­kultur versus Leitkultur benötigen dringend kul­turwissenschaftlichen Sachverstand, der um die Tücken einer mit universalistischem Anspruch versehenen Culturbrille weiß und gleichzeitig einen methodischen Partikularismus (ohne den z.B. eine teilnehmende Beobachtung nicht gelin­gen könnte) nicht mit einem ethischen Partiku­larismus verwechselt. Kulturwissenschaft jenseits des eurozentrischen Narrativs der Moderne ver­mag aufschlussreiche Antworten auf ganz grund­sätzliche Fragen zu geben, etwa danach, was es bedeutet, ein Mensch zu sein oder eine Person; nach der Balance zwischen Freiheit und Einschrän­kung in den zwischenmenschlichen Beziehungen bzw. einer verantwortungsvollen Ausübung von Macht; nach der Verknüpfung zwischen Sprache und Denken, Wörtern und Dingen, Wahrnehmung und Repräsentation (Ingold 2011: 238).

Neben dieser notwendigen öffentlich „eingrei­fenden Wissenschaft“ (vgl. Böhme, ebd.) kann die Kulturwissenschaft aber auch im akademi­schen Rahmen das Reflexionsniveau deutlich anheben. Epistemologische Gewinne verspräche beispielsweise die stärkere Ausbalancierung von semiotischen mit phänomenologischen Ansätzen; freilich nicht, um diese gegeneinander auszuspie­len, sondern, um deren unterschiedlichen Poten­ziale einander ergänzend zu kombinieren. Dies könnte etwa bedeuten, die Felder von Erfahrung und Repräsentation im Hinblick auf die Medien Text und (Bewegt-)Bild vermehrt in den Blick zu nehmen, wobei den Bereichen Wahrnehmung und Verkörperung eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Dabei kann auch eine „neue Ästhetik“ (G. Böhme 2013) oder „soziale Ästhetik“ (MacDougall 2006) eine wichtige Rolle spielen, indem sie im Rückbezug auf Baumgar­tens Ästhetik von 1750 mit Bezug auf den grie­chischen Begriff der Aisthesis (Sinneserfahrung) als „Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis“ definiert wird. Von grundlegender Bedeutung ist dabei, dass sowohl Gernot Böhme als auch David MacDougall – im Unterschied zur Kantischen Tradition – auf eine normative Auslegung des Ästhetik-Begriffs als Urteil über Kunst verzichten. Ihnen geht es vielmehr darum, dass sich jede Gemeinschaft mittels „ästhetischer Arbeit“ (G. Böhme 2013: 25) komplexe sinnliche und mate­rielle Umgebungen schafft, die als „kulturellen Landschaften“ (MacDougall 2006: 94) den jeweils eigenständigen Hintergrund für ihre Alltagserfah­rungen bilden. Dies verweist auch auf die Bedeu­tung von Materialität als weiterem wichtigen kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld, denn „through making things people make themselves in the process” (Tilley 2001: 260). Hier schließt sich der Kreis, und wir sind wieder bei Böhmes Hinweis angelangt, dass menschliche Kultu­ren nur in ihrem historischen Verhältnis zu dem analysiert werden können, was nichtmenschlich ist. Anders formuliert, kann gerade eine kultur­wissenschaftliche Reflexion von Objekt-Subjekt- Beziehungen zu einem besseren Verständnis des menschlichen In-der-Welt-Seins beitragen.

Literaturverzeichnis

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Fußnoten

1 Reckwitz (2004: 14) spricht ganz ähnlich von „rationalitätsverbürgenden Invisibilisierungen von Kontingenz in den Grundbegrifflichkeiten der modernen Geistes- und Sozialwissenschaft“.