Jakob Tanner: Theorieträume der Kulturwissenschaft

Abstract: My short article is a critical comment on Hartmut Böhme’s position paper „Perspectives of cultural studies in historical and contemporary analytical perspective“. I share Böhme’s conviction that research projects in the broad and blurred interdisciplinary field of culture studies must be groun­ded in a flexible theoretical plot. However, Böhme’s paper does not meet this challenge. I try there­fore to suggest two trajectories of significant importance in a paradigmatic way: On the one hand, the always controversial definitions of culture are scrutinized, thereby relying on a context-sensitive concept of „difference“ that allows grasping culture as a permanent and interference-prone process of translations. On the other hand, I focus on the impact, agency or effectualness of things against the background of a symmetrical anthropology and the actor-network-theory. In both cases, the analysis is orbiting around the notion of „cultural practices“ by demonstrating how tightly the media turn and the ontological turn are theoretically intertwined.

Keywords: Cultural sciences, theory of culture, difference, cultural practices, culture, symmetrical anthropology, actor-network theory, thing theory, material culture, ontological turn, medial turn

 

Über die Frage, was Kultur ist, wird debattiert und gestritten, seit dieser Begriff im 19. Jahrhundert Eingang in die Wissenschaft gefunden hat. Das Spiel der Differenz, aus dem Kultur hervorgeht und in dem sie sich laufend verändert, ließ sich durch forcierten Theorieeinsatz noch nie bändigen. Kul­tur bleibt ein unterdeterminiertes, ein bewegliches und umkämpftes Konzept. Der programmatische Text von Hartmut Böhme zu den Perspektiven der Kulturwissenschaft folgt einem solchen Verständ­nis. Er ist von einem robusten Vertrauen in die „Unvermeidlichkeit der Kulturwissenschaft“ getra­gen und ringt gleichzeitig mit deren Positionierung und Institutionalisierung (als „Orientierung“, als „Fach“ oder als „Feld“, vgl. Böhme in diesem Heft) innerhalb des weiten Spektrums der Geisteswis­senschaften. Im Endeffekt plädiert der Autor für das vorsätzliche Wollen einer „offenen experimen­tellen Situation“ (vgl. Böhme, ebd.). Das ist erhel­lend und potenziell produktiv – doch ein „Experi­mentalfeld“ will nicht nur offengehalten, sondern auch mit zielführenden Versuchen bestückt wer­den, und dazu ist im Text (zu) wenig zu finden…

Der Duktus des Textes ist durchwirkt vom symbolisch hochkarätigen Anlass der Gründung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft, die auch die vorliegende Zeitschrift herausgibt.1 Der Vortragende verbreitet eine wichtige implizite Botschaft: Ohne breiten Wissensfundus, ohne innovative Denkleistung geht hier gar nichts. Eine kulturwissenschaftliche Forschung auf der Höhe der Zeit wird sich nie mit einigen standardisierten Verfahren der Erkenntnisproduktion begnügen können. Sie muss sich vielmehr im konstitutiv prekären Reflexionsstil der ‚Moderne‘ üben, was wiederum eine Atmosphäre wissenschaftlicher Neugierde und Risikobereitschaft wie bei jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin voraussetzt. Die freie Sicht auf ein weites Feld, die Hartmut Böhme mit seinem Bekenntnis zur Offenheit verspricht, wird allerdings durch die massive Präsenz von Bekanntem eingeschränkt. Es ent­stehen beeindruckende Panoramabilder von Pro­blemlandschaften, die den Blick nicht nur schär­fen, sondern auch verstellen können.

Das ist ein performativer Widerspruch, dem – wie die Theorie des blinden Flecks nachweist – nicht leicht zu entkommen ist. Er wird durch einen weiteren überlagert. Nötig sei, so Böhme, eine „stärkere theoretische Anstrengung“ der Kulturwissenschaft. Forschungsfelder und Analy­seschwerpunkte bedürfen der „Kulturtheorie(n)“ (vgl. Böhme, ebd.). Zurückgewiesen wird ein bloßes „Additionsspiel“ oder eine „Summation“, die das Ensemble der Kulturwissenschaft zu Einzeldisziplinen herabstufen würde. Was dann allerdings folgt, ist ein theoretisch nicht weiter begründeter Husarenritt durch vier „große Themen auf engstem Raum!“ (vgl. Böhme, ebd.). Der Autor glänzt hier mit einer dichten Präsen­tation heterogener Forschungsergebnisse, über denen ambitionierte Thesen aufgespannt wer­den. Die Kaskade großer Namen wird kombiniert mit einer umsichtigen Zitatenlese aus kulturwis­senschaftlich kanonisierter Höhenkammliteratur. Solche Belesenheit hat etwas Faszinierendes; nichtsdestotrotz ergibt sich ein Problem, das sich nicht beheben lässt – auch nicht mit der präven­tiv gemachten Bemerkung, es würden hier „nur exemplarische Felder historischer Forschung vor­gestellt“ (vgl. Böhme, ebd., Anm.1). ­

Das themenzentrierte Vorgehen hat zusätzli­che Tücken. Zu den vier gewählten Großthemen, welche die letzten 250 Jahre abdecken, sind allein in den letzten Jahren viele Studien publiziert und Debatten geführt worden. Die eigenwillige Bünde­lung von Forschungsergebnissen, wie sie in Böh­mes Text vorgenommen wird, wirkt innerhalb die­ses pulsierenden Magmas von Theorietrümmern und Ergebnisbrocken oft etwas abgestanden. Und zu häufig stolpert der geneigte Leser oder die geneigte Leserin über Ungereimtheiten und banale Verkürzungen, etwa beim „halsstarrigen Widerstand des Körpers gegenüber unbegrenztem Fortschritt“ oder bei der „Vertigo-Moderne“ (vgl. Böhme, ebd.). Adjektive wie „modern“, „westlich“, „europäisch“ und „aufgeklärt“ purzeln wild durch­einander und bei Punkt 5 kommt es zu irritieren­den semantischen Interferenzen zwischen „Kultur“ und „Religion“, die weniger der unvermeidlichen theoretischen Unschärfe dieser Begriffe denn ihrem unverbindlichen Einsatz geschuldet sind. Angesichts der eingeforderten, aber nicht einge­lösten kulturtheoretischen Fundierung des ganzen Projekts stellt sich bei denjenigen Lesern, welche die Konjunkturen der Kulturwissenschaft(en) im deutschsprachigen Raum seit Mitte der 1980er Jahre verfolgt haben, das Gefühl eines beharrli­chen Tretens an Ort und Stelle ein.

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Doch wo müsste die Suche nach einer Kulturwis­senschaft, die sich auf der Höhe der Gegenwarts­probleme mit Fragen nach der Zukunft befasst und dabei auch neue Perspektiven auf die Ver­gangenheit ermöglicht, beginnen? Und in wel­che Richtung könnte sie gehen? Mit dem zwar weitsichtigen, mit komplexen Fragen ringenden, jedoch auf „anthropologische Konstanten“ (vgl. Böhme, ebd.) verbohrten Max Scheler lässt sich heute kaum mehr die Folie aufspannen, auf der die basalen Fragen einer Kulturwissenschaft des 21. Jahrhunderts Konturen annehmen. Die theoreti­sche Unterbelichtung dieses inter- und transdiszi­plinären Feldes ließe sich eher mit Hinweisen auf angelsächsische und französische Innovationen beheben, wie sie etwa in der „Writing Culture“- Debatte (angestoßen durch James Clifford und George M. Marcus 1986) und in der psychoana­lytisch inspirierten Reflexion über „Angst und Methode“ in den Wahrheitsmaschinen der Wis­senschaft (bei Georges Devereux 1976) zu finden wären. Erwähnung verdiente ebenso der seit den 1960er Jahren laufende heiße Theoriebrüter der „Cultural Studies“, in dem Semiotik, Marxismus, feministische Theorie, Ethnographie, Poststruk­turialismus und -kolonialismus, Literatur- und Medientheorie, Kommunikations- und Kunstge­schichte sowie Intersektionalismus einen nicht abbrechenden theoretischen Energiestrom gene­rierten (besonders wichtig: Hall (1997); für einen Überblick: Grossberg/Nelson/Treichler (1992)).

Natürlich erwartet niemand von einem Vortrag einen kulturwissenschaftlichen tour d’horizon; wenn aber die Signale einer Sensibilisierung für solche Fragestellungen und Zugangsweisen feh­len, kommt auch keine Aufbruchsstimmung auf. Es dominiert eher der Stolz auf das Erreichte. Und es stellen sich unter der Hand Verlustängste ein, wenn Böhme etwa – auf Scheler rekurrierend – die ausdifferenzierte Moderne durch Kontin­genzsteigerung und eine „typische Reflexivitäts­zunahme“ charakterisiert, dann aber festgestellt wird, dass sich wahrscheinlich „auch die westli­chen Kulturen in eine Mixtur religiöser Energien verwandeln“ (vgl. Böhme, ebd.) würden.

Eine Möglichkeit, das Theorieproblem der Kulturwissenschaft zu ‚packen‘, ohne sich diesen einschränkenden Analyseschemata zu unterwer­fen, besteht darin, von zentralen Gegenwartspro­blemen und -phänomenen auszugehen und diese in ihrer vertrackt-widersprüchlichen Genealogie zu rekonstruieren. Das hat zugleich den Vorteil, dass politische Relevanzkriterien berücksichtigt werden können, ohne in die Falle einer kurz­schlüssigen ‚Vorgeschichte der Gegenwart‘ zu tappen. Auch bei einem solchen Vorgehen lässt sich eine gewisse informierte Willkür nicht ver­meiden, allein schon deswegen, weil Probleme ja auch von Akteuren erfunden werden, die zunächst bloß eine Antwort haben, die sie jedoch für unverzichtbar halten. Es war ja nicht zuletzt diese antifunktionalistische Erkenntnis, welche die einfachen ‚Challenge-Response‘-Modelle der traditionellen Sozialgeschichte ausgehebelt und seit den 1980er Jahren einer ‚Kulturgeschichte des Sozialen‘ zum Durchbruch verholfen hat (Chartier 1989). Wenn wir auf jene Herausforde­rungen fokussieren, die in der globalen Ökonomie der Aufmerksamkeit herausragen, so lassen sich stichwortartig Problemkomplexe identifizieren: der Zusammenhang von Kultur und Migration, die kulturelle Dynamik von Technik und Medien, der Impact von Verwertungsketten und Märkten (im weitesten Sinne) auf das implizite Verständnis von Kultur (und vice versa) und Weiteres mehr. Zu den beiden erstgenannten Problemstellungen werden im Folgenden einige Überlegungen entwi­ckelt – wobei theoretische Zugänge und konzep­tionelle Fragen im Zentrum stehen.

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Das Reden über Migration wird heute stark durch ein katastrophisches Metaphernarsenal geprägt. Es werden ‚Flüchtlingswellen‘ beschworen, welche Nationen ‚überschwemmen‘, falls es nicht gelingt, Dämme, Mauern oder Zäune zu errichten. Seit einigen Jahrzehnten ist die Vorstellung auf dem Vormarsch, Kultur lasse sich über basale Grenz­ziehungen definieren, was es dann nahelegt, ein bedrohtes ‚Innen‘ oder ‚Wir‘ gegen ein bedrohli­ches ‚Außen‘ oder ‚Anderes‘ zu schützen. Man wähnt sich in einem ‚Kulturkampf‘ und verspürt einen ‚clash of civilisations‘. Das sind Schlagworte, die zum breitenwirksamen Bild von ‚Kulturkrei­sen‘ gehören. Der Kreis stellt die ideale Demar­kationslinie dar. Als geometrische Form entfaltet er genuine Suggestionskraft: Kreisförmig gefasste Kulturen lassen sich auf die Oberfläche des Globus projizieren, es stellt sich die Illusion einer stabilen kulturellen Ordnung ein, die als Topographie von Gefahren zugleich Ängste provoziert. Die politi­sche Rhetorik des ‚Kulturkreises‘ bietet aufgrund ihres maximalen kognitiven Reduktionismus einen Hebel zur vermeintlichen Minimierung von Bedro­hungen. Sie erfüllt jene, die sich mit dem ‚Kreis‘ identifizieren, mit emotionaler Befriedigung. Es ist ‚unsere Kultur‘, die uns zu Subjekten werden lässt, die uns versichert, wer wir sind und was wir nicht wollen. Es entsteht das phantasmagorische Gefühl einer Identität, die in Abgrenzung zu andern ‚Kul­turkreisen‘ – in Ablehnung, Abwehr, Kampf und Krieg – gehärtet wird. Der ‚Kulturkreis‘ war und ist eng mit der Geschichte von Ängsten vor einer ‚Überfremdung‘, mit Sozialdarwinismus und ras­sistischem Denken verwoben. Der kulturelle Dif­ferenzgenerator wird in allen diesen Varianten auf großflächige Synchronisation eingestellt; er arbei­tet kumulativ und kollektivierend. Beobachtbare Unterschiede fusionieren mit imaginierten Beson­derheiten, die Mixtur wird räumlich homologisiert, so dass der Eindruck einer kulturellen Homogeni­tät entsteht, die sich über eine Reihe von terri­torial verortbaren Wesenszügen fassen lässt. Ein solches Konzept der Kultur ist fundamental essen­tialistisch, man stellt sich die Menschen immer zuhause vor, nach dem (beliebig variierbaren) xenophoben Motto „Deutschland den Deutschen“, wobei schon immer vorhandene kulturelle Diffe­renzen bewusst ausgeblendet werden.

Eine Gegenposition versucht, diese Abwehr­reaktionen auf eine multikulturelle Anerken­nungspraxis umzupolen. Doch auch in den domi­nierenden Formen eines Multikulturalismus, der eine relativistische normative Gleichgültigkeit mit einer lebenspraktischen Gleich-Gültigkeit verbindet, steckt ein ähnlicher Kulturessentia­lismus wie in den Kulturkreis-Theorien. Nur wird hier für ein friedlich-produktives Nebeneinander der Kollektividentitäten plädiert.2 Vor allem Mig­ration wird anders, nämlich als Normalzustand wahrgenommen. Während die großräumigen Kul­turkreis-Theorien eine starke Zuwanderung als negativ bewerten und diese nur unter bestimm­ten Anpassungsbedingungen und Assimilations­druck zulassen möchten, werten multikulturelle Konzepte die Mobilität von Menschen eher posi­tiv und beschreiben deren Resultat im Bild eines kleinräumigen Flickenteppichs, auf dem sich die Kulturen respektieren, d.h. auch tolerieren.

Gegen die mentale Kulturkreis-Verhärtung, die auch in toleranten, multikulturellen Formen noch durchscheint, lässt sich Kultur auch anders, näm­lich nicht über eine partikular-homogenisierende Vorstellung von „Vielfalt“, sondern über alle holis­tischen Konzepte subvertierende „Differenz“ fas­sen. Sie erscheint dann als permanente Überset­zungspraxis, durch die Hybridität produziert wird.3 Dabei verweist hybrid nicht – wie in der Biologie – auf die Vermischung von zwei „Arten“ in einer daraus entstehenden neuen Mischform, sondern auf die Ermöglichungsbedingung von Freiheit: Hybridität schafft vielmehr Aushandlungsorte und Handlungsräume, in denen sich „dritte Räume“ öff­nen, in denen Menschen frei sein können. Solche permanenten Transkulturations- und Austausch­prozesse spielen sich in ganz unterschiedlichen räumlichen und sozialen Konfigurationen ab, die sich weder in einen homogenen Kulturraum noch in einen Kollektivsingular einpassen lassen.

Die Meinung, dass die Durchsetzung der Moderne mit dem Siegeszug eines aufklärerisch-selbstreflexiven Subjekttypus gleichzusetzen sei, wird fraglich. Menschen sind sich, so die Voraus­setzung Homi Bhabhas (1997), vielmehr selber fremd, „wir“ sind, so die Formulierung der philo­sophischen Psychoanalytikerin Julia Kristeva aus den 1980er Jahren, „Etrangers à nous-mêmes“ (Kristeva 1988). Die Abwehr eines von außen kommenden Fremden erweist sich aus dieser Sicht als Verdrängung eigener Fremdheitserfahrungen, die auch in Exotisierung und andere Formen eines verklärenden ‚Othering‘ umschlagen kann. Auf der Suche nach Kultur bewegen sich alle Sub­jekte in einen Zustand hinein, in welchem sie ‚lost in translation‘ sind. Die Metapher der Überset­zung wirkt korrosiv auf Kulturessentialismen und stärkt die Sensibilität für kulturelle Grammatiken und Codes. Konzepte wie ‚multiple Identitäten‘, transkulturelle Begehren und globale Netzwerke ermöglichen es, lokale Selbsttechniken und Iden­tifikationsformen auf nationale Resonanzräume, auf religiöse Bindekräfte und kulturellen Wandel im Weltmaßstab zu beziehen.4 Werden die Prob­leme auf diese Weise zurechtgerückt, so wird es z.B. sinnvoll, ‚das Religiöse‘ nicht (wie im Vortrag Böhmes) mit „den Religionen“ gleichzusetzen, sondern eine Binde- und Sprengkraft stärker aus der Figur der radikalen Kontingenzreduktion her­zuleiten, die dann auch die Form des Nationalen oder einer hypostasierten Kultur annehmen kann.

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Zu Beginn der 1940er-Jahre schrieb Marc Bloch, die Geschichtswissenschaft habe davon auszuge­hen, dass sich „der Mensch stark verändert hat, und zwar sowohl mental als auch in den subtils­ten Mechanismen seines Körpers“ (Bloch 2002: 49). Seit einigen Jahrzehnten hat sich der biome­dizinische Zugriff auf den menschlichen Körper intensiviert. Gentechnik, Präimplantationsdiagnostik und Invitro-Fertilisation, chirurgische und medikamentöse Verfahren sowie Weiteres mehr machen die „Techniken des Körpers“ (Mauss 1978) zum wirksamen Momentum neuer Sub­jektivierungsweisen. Zugleich haben wir uns aus der „Gutenberg-Galaxis“ (Marshall McLuhan) hin­ausbewegt. Mit Cyberspace, Big Data und dem Internet der Dinge wachsen vernetzte Computer in neue Größenordnungen und Wirkungsdimen­sionen hinein, welche gesellschaftliche Inter­aktionen und menschliche Bedürfnisse sowie Wünsche gleichermaßen affizieren. Und schließ­lich wirken die akkumulierten Effekte einer auf hohen Material- und Energiedurchsatz angeleg­ten Konsum- und Freizeitgesellschaft nachweis­lich auf die planetarischen Lebensbedingungen ein. Mit guten Gründen wird von einem anthropo­genen Klimawandel und vom Zeitalter des Anth­ropozäns gesprochen. Im Lichte dieser aktuel­len Problemkonstellation kann die Aussage von Hartmut Böhme, „dass menschliche Kulturen nur analysiert werden können in den historischen Verhältnissen zu dem, was nichtmenschlich ist“ (vgl. Böhme, ebd.), auf einen Holzweg führen. Dies ist dann der Fall, wenn unter dem „Nicht­menschlichen“ „die Dinge, die Tiere und Pflan­zen, die Regionen und Landschaften, das Wet­ter und das Klima“ (vgl. Böhme, ebd.) rubriziert werden. Es wäre hier hilfreich gewesen, sich an die kulturwissenschaftliche Provokation Friedrich Kittlers zu erinnern, für den Ontologie „schluss­endlich mit Kulturwissenschaft zusammen(fällt)“ und „Natur und Mensch derselben geschichtlichen Technik angehören“.5

Wenn Sigmund Freuds Figur des Men­schen als eines ‚Prothesengottes‘ und Marshall McLuhans Rede von den ‚extensions of man‘ zur anthropozentrischen Engführung neigen, dann müssen Menschliches und Nichtmenschliches in einer technik- und medientheoretisch fundierten symmetrischen Anthropologie zusammengedacht werden (Latour 1995; vgl auch Tanner 2004). Bruno Latour hat mit der Akteur-Netzwerk-The­orie (ANT) einen produktiven Vorschlag gemacht (Latour 1999), der allerdings deshalb häufig miss­verstanden wird, weil der subkutane ‚Sonntags­katholizismus‘ Latours, der Sermon und Ritual vor Konzept und Argumentation stellt, übersehen wird (vgl. Latour 2010 und die Kritik von Collins 2012, v.a. 417). Wird Wissenschaft als Perfor­mance betrachtet, so lässt sich auch Dingen eine Agency zuschreiben. Das bringt Betrieb in die Beschreibung. Und auch in Gesellschaft und Poli­tik kann das Materielle zu einem imaginären Deus ex machina aufsteigen; in Latours „Parlament der Dinge“ ereignet sich Erstaunliches. Gegen sol­che Belebungsversuche lässt sich noch immer die Sichtweise von Keith Thomas (1971; 1983) oder aber das Argument von George Devereux anführen, der schrieb: „Der Mensch reagiert auf die Stummheit der Materie mit Panik. Da er ihre Stummheit verleugnen und seine Panik kontrol­lieren muss, fühlt er sich dazu veranlasst, physi­kalische Begebenheiten animistisch zu interpre­tieren und ihnen, um sie als ‚Antworter‘ erfahren zu können, ‚Bedeutungen‘ zuschreiben, die sie nicht besitzen“.6

Die „nicht-existente, transzendentale Beredt­heit“ (Devereux 1976: 57), die ANT-Partisanen an materiellen Phänomenen entdeckt haben, füllt bereits dicke Bücher – wir befinden uns hier mitten in einem theoretischen Wespennest, das man wohl am besten verlässt, aber nicht ohne einige formie­rende Ideen Latours mit hinauszutragen. Wenn wir das „A“ in ANT nicht mit „Akteur“ (konnotiert mit „Agency“) sondern mit „Aktant“ (konnotiert mit „Wirkung“ bzw. „Effekt“) ausschreiben, dann kann eine Analyse abheben, die dem Menschen auf den Leib rückt, indem sie sich für die Materi­alität des Körpers interessiert und „den Menschen als durch die Technik mit dem Leben verbunden darstellt“, wie George Canguilhem in seinem weg­weisenden Aufsatz „Maschine und Organismus“ (2007) schrieb. Wenn auf diese Weise „Technik als universelles biologisches Phänomen“ erkannt und das Mechanische in das Organische „einge­schrieben“ wird, ergibt sich ein neuer Zugang zu den Wirkungen von Prothesen, Implantaten, Reproduktionsmedizin, (Xeno)-Transplantation, Neuroenhancing, etc.) (Canguilhem 2007: 206). Aus gesellschaftlicher Perspektive lässt sich mit demselben Erkenntnisinteresse das Konzept einer „anonymen Geschichte“ konkretisieren, wie es Sig­fried Giedion in den ausgehenden 1940er Jahren vorgeschlagen hatte. Giedion versucht zu erklä­ren, wie „in ihrer Gesamtheit (…) die bescheide­nen Dinge“, wie aus der mechanisierten Massen­produktion hervorgehen, auf kulturelle Praktiken und den sozialen Wandel einwirken. Er schreibt von „diesen kleinen Dinge des täglichen Lebens“, sie würden „sich zu Gewalten (akkumulieren), die jeden erfassen, der sich im Umkreis unserer Zivili­sation bewegt.“ (Giedion 1982: 20)

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Weiterführende Anregungen für die kulturwis­senschaftliche Erforschung von Dingwelten und Gebrauchsgegenständen lassen sich auch in Vilém Flussers posthum veröffentlichter Essay­sammlung Dinge und Undinge (1993) gewinnen. Flusser fokussiert die Aufmerksamkeit auf sozio-kulturelle Aneignungsprozesse, d.h. er interes­siert sich dafür, wie Menschen mit Dingen umge­hen, indem sie sich ihrer bedienen, im Wissen darum, dass es „in Wirklichkeit“ die Dinge sind, die bedient werden (Flusser 1993: 7). Flusser versteht alle „Dinge meiner Umgebung“ unter­schiedslos als „meine Bedingung“; er sieht, dass sich Dinge gegen ernsthafte Klassifizierungsver­suche sträuben, sortiert sie aber dennoch in drei Gruppen: (1) technische Apparate, die eine „hohe innere Komplexität“ haben, über deren Funkti­onsmodus auch informierte Leute nur eine „sehr verschwommene Kenntnis“ haben; (2) Dinge, die er glaubt „verachten zu dürfen“, weil sie entwe­der als „dummes Zeug“ nutz- oder funktionslos oder einfach irgendwie kaputt herumstehen oder aber ubiquitär verfügbar sind, so dass man ihnen nichts mehr abgewinnen kann; (3) „Dinge in meiner Umgebung, welche ich schätze“, weil sie durch die Investition physischer, wirtschaftlicher, geistiger, emotioneller oder anderer Energien teuer geworden sind. Der springende Punkt ist nun der, dass Flusser darüber hinaus eine große Menge von Dingen beobachtet, „die unter keinen der drei genannten Sammelnamen fallen“, wozu vor allem jene zählen, „für die sich die Naturwis­senschaften interessieren“ (Flusser 1993: 7-9).

Der Flussersche Dingsortimenter kann zwei Überlegungen plausibel machen: Erstens ist es nicht sinnvoll, kulturwissenschaftliche Interdiszi­plinarität auf geisteswissenschaftliche Disziplinen zu beschränken (wie das in Böhmes Text nahe­gelegt wird). Selbstverständlich gehören die Sozi­alwissenschaften sowie die Naturwissenschaften, die sciences, mit dazu. Kulturwissenschaft muss die Behauptung der „zwei Kulturen der Wissen­schaft“ unterlaufen und transversale wissensge­schichtliche Ansätze, die quer zur Aufstellung der Fakultäten liegen, erproben. Und zweitens ist Flus­sers kognitive und emotionale Ambivalenz ernst zu nehmen. Er betont, es gehe ihm mit seiner Drei­teilung darum, „vielleicht etwas zum Verständnis und zur Veränderung unserer Bedingung beizu­tragen“ und gleichzeitig hegt er die Erwartung, „im Gewöhnlichen und Gewohnten Unerwartetes zu entdecken“? (Flusser 1993: 11) Mit dieser Idee eines ‚Überschusses‘, der in den Dingen steckt, verbindet sich ein Interesse an „wild things“, wie sie in Judy Attfields Studie (2000) über die „mate­rial culture of everyday life“ genannt werden.7 Die Kulturwissenschaft sollte analytisch sensibilisieren für das Überraschungs- und Irritationspotenzial von Dingen, für die Widerständigkeit von Appara­ten und für die Eigenlogiken einer massenhaften Inbetriebsetzung industriell fabrizierter Produkte.

Technik verweist auf Medien. Kulturwissen­schaftlich bahnbrechend sind die Argumente, die Siegfried Kracauer in seinem 1960 publizierten Buch zum Stummfilm unter dem Titel The Red­emption of Physical Reality anstellte. Die deut­sche Übersetzung Die Errettung der äußeren Wirklichkeit hat die Meinung bestärkt, Kracauer wolle sagen, dass das Kino Einblicke in die Welt konserviert, die ansonsten sang- und klanglos verschwunden wären. Dabei ging es ihm weder um Konserven noch um Rettung. Vielmehr kon­zipierte er Mentalität und Materialität medien­theoretisch neu. Der Witz seiner Filmtheorie besteht darin, dass sie den Einbruch einer bis­her nicht gesehenen Wirklichkeit in menschliche

Erfahrungsräume nicht mit Einstellungswandel, sondern mit Innovationen in Mediendispositi­ven erklärt. Neue technische Medien lösen jene Wahrnehmungsverschiebungen und Blickverrü­ckungen aus, welche die Stellung und das Selbst­verständnis des Menschen in der Welt verändern. Der ‚ontological turn‘ erweist sich so als ‚medial turn‘. Menschen sehen real existierende Dinge in bestimmter Weise, sie nehmen sie durch Kon­ventionen hindurch wahr, modellieren sie entlang von Deutungsschemata. Verloren geht dabei die Einsicht, dass Dinge auch ganz anders sein und sich auf neue Weise zeigen könnten. Kracauer wollte dem Verstellten, dem Verkannten, dem Unsichtbaren, dem Überraschenden, kurz: dem phänomenalen Reichtum der Welt, zu seinem Recht verhelfen. Das Argument lässt sich zuspit­zen: Weil die „äußere Wirklichkeit“ in ihren Äuße­rungsformen unerschöpflich ist, wird sie durch Medien als eine für den Menschen zugängliche überhaupt erst geschaffen. Das filmtheoretische Werk Kracauers lässt den Gegensatz zwischen Realismus und Konstruktivismus hinter sich und kann als produktive Variante einer symmetri­schen Anthropologie gelesen werden: Menschen verhelfen mit ihren kommunikativen Praktiken und Interaktionsmustern den Medien auf die Sprünge und letztere verführen wiederum Men­schen zu neuen Handlungsweisen, Wahrnehmun­gen und Selbstverortungen in der Welt.

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Solche Problematisierungen, die sich durch die Beobachtung der Gegenwart ergeben, eröffnen neue analytische Zugänge zu großen kulturwis­senschaftlichen Themen. Sie rücken relevante Fragen in den Fokus der Forschung. Sie können im Experimentalraum der Kulturwissenschaft, den Hartmut Böhme fordert, neue Denkversuche und Theorietests anregen. Dabei ergeben sich bisher nur wenig explorierte Schnittflächen zu einer „Geschichte des Wissens“, die ebenso the­menoffen ist und einen ähnlichen Gegenwartsbe­zug aufweist wie die Kulturwissenschaft.

Grundlegend für kulturwissenschaftliche Praktiken der Reflexion und Erkenntnisgewinnung ist die Einsicht, dass die Auseinandersetzung um den Kulturbegriff integraler Bestandteil von Kultur ist. Es gibt nicht ‚die Kultur‘, die man dann post festum noch richtig oder falsch beschreiben und erklären könnte. Kultur ist ein reflexives Kraftfeld, das seine Erklärungs- und vielleicht auch Aufklä­rungsleistungen auf sich selber zurückwendet – mit oder ohne Absicht. Keine Definition von Dif­ferenz ist unschuldig und in jeder Theorie klingen auch die Träume der Gesellschaft an. Mit George Devereux könnte man ‚Gegenübertragungskräfte‘ am Werk sehen, welche die Kulturwissenschaft im Zuge ihrer Beobachtung der Kultur selber ver­ändern. Dass es aus dieser Dynamik der Beob­achtung zweiter Ordnung kein Entkommen gibt, ist eine gleich zu Beginn geäußerte Grundeinsicht von Hartmut Böhme. In der Reflexion auf diese Zirkularität kommen unsere vielfach auseinan­derliegenden Positionen zusammen. Kulturwis­senschaft ist wichtig – auch politisch!

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