Doris Bachmann-Medick: Kulturwissenschaft in der Ermüdung? Anmerkungen zu einer Neuorientierung

Abstract: Starting from the conviction that the study of culture(s) is much broader than a philosophi­zing history of ideas approach (one that often retains implicit Eurocentric assumptions), this article is a plea for a reorientation of the study of culture through the demonstration of a stronger commitment to a sociological, empirical and transcultural approach in the study of culture. Instead of focusing on cultural syntheses (i.e. along the main signatures and „Zeitgeist“ symptoms of epochs), my argument redirects attention to particularities, hidden dimensions, and the formation of differences, to cultu­ral countermovements and contradictions. The article suggests a more complex and action-oriented „translational“ approach. It aims to foster a critical self-reflection of the research process of the study of culture itself with regard to its analytical concepts, its societal and ethical concerns, and its fruitful convergence of disciplines.

Keywords: philosophical-historical study of culture – empirical, sociological and transcultural study of culture – transnationalization – „translational“ approach – self-reflection of research processes – cultural differences – cultural perceptions – analytical categories – emerging topics – concepts and concerns – management/manageability of research – „public humanities“

In Hartmut Böhmes Text (wie zuweilen auch in meinen eigenen Texten) ist eine weit verbreitete Schreibpraxis zu beobachten. Sie neigt dazu, die typische metaphorische Verwendung kultur­wissenschaftlicher Begriffe überzustrapazieren, ohne sie auf empirische Bezüge hin zu konkre­tisieren und sie auf diese Weise klar genug vom Jargon fernzuhalten. Ist es nicht an der Zeit, sol­che metaphorischen Umschreibungen rückzuori­entieren auf Analysekategorien, auf operationali­sierbare ‚Konzepte‘, ja auf die Herausforderungen der gesellschaftlichen Problemlagen? So könnte von den Kulturwissenschaften aus die empirische und systematische Arbeit der Disziplinen berei­chert werden, grenzüberschreitend und auf glo­bale Horizonte hin geöffnet.

Dies klingt durchaus programmatisch. Nicht jedoch – um es gleich zu betonen – für ein Ein­zelfach ‚Kulturwissenschaft‘. Ein solches steuert Hartmut Böhme an, wenn er vor allem „die pro­grammatische Absicht auf ‚Kulturwissenschaft‘ einlösen will“ (vgl. Böhme in diesem Heft). Hin­ter diesem Horizont eröffnen sich jedoch viel weiterreichende programmatische Perspektiven, sobald man Kulturwissenschaft(en) pluralisiert und sie damit selbst als ein „fächerübergreifen­des ‚Forschungsprogramm‘“ (Reckwitz 2011: 1) versteht, das immer wieder zum Überdenken der eingerasteten disziplinären Schlüsselbegriffe und festgefügten historischen Periodisierungen aufruft, ja das die gewohnten Untersuchungsfel­der gründlich umpflügt. Dazu reicht es allerdings nicht, die kulturwissenschaftliche Offenheit für bisher Unerhörtes, Ungesagtes, Ausgeblendetes, Nicht-Sichtbares, Marginalisiertes, bloß Alltägli­ches in erster Linie nur zur Erschließung neuer, ungewöhnlicher Phänomene und Themenfelder zu nutzen – wie etwa Müdigkeit und Erschöpfung (bei Böhme), Sensibilität, Langeweile, Ekel, aber auch, man staune, die Geschichte des Parkhau­ses oder der Sonnenbrille.

Viel weitreichender ist vielmehr das Poten­tial neuer Analysekategorien. Gemeint sind ope­rative, differenzierende methodische Untersu­chungslinsen, die solche Themen gerade nicht in Zuständen aufgehen lässt, sondern sie auf die Vielschichtigkeit von Handlungsoptionen hin entfalten. Dadurch werden sie kulturwis­senschaftlich besonders interessant. Denn der analytische Blick richtet sich hier bereits auf die Problematik unausgesprochener, aber handlungs­steuernder Vorannahmen, kultureller Klassifika­tionen, binärer Wahrnehmungsmuster, Univer­salisierungsansprüche usw. Er richtet sich auch auf das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der unterschiedlichsten, oft widersprüchlichen Praktiken und Wissensordnungen im jeweiligen Untersuchungs(zeit)raum, die dann gerade nicht eingeebnet werden zu komplementären Paarun­gen (wie Arbeit und Müdigkeit). Es ist die Dyna­mik der cultural turns, welche eben nicht nur neue Erkenntnisobjekte entdecken (Raum, Ritual, Bild, Performanz, Übersetzung usw.), sondern diese vielmehr zu eigenen Erkenntnismitteln ausarbei­ten, schärfen und als Analysekategorien nutzbar machen – weit über die eigene Kultur und Kultur­geschichte hinaus. Nicht von vornherein mit kul­turspezifischen Inhalten verknüpft, bieten sie sich für transkulturelle Forschungsfelder geradezu an. Gemeint sind hier die disziplinenübergreifenden Analysekategorien der neueren, empiriegelade­nen und transkulturell geöffneten Kulturwissen­schaften.

1 Philosophische Kulturwissenschaft – europazentriert

Hartmut Böhmes Text folgt jedoch anderen Wegen. Gemeint sind die europäischen Bahnen einer philosophischen Kulturwissenschaft – weit­gehend an die historischen Kulturwissenschaf­ten der 1920er/1930er Jahre anknüpfend, eher weniger an die internationalisierten Kulturwissen­schaften am Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts. Und doch betont Böhme gleich zu Anfang: „Es gibt nicht ‚die Kultur‘, sondern nur Kulturen“ – und diesem Pluralisierungsansatz als grundlegendem Charakteristikum einer kultur­wissenschaftlichen Herangehensweise kann man nur zustimmen. Da aber fängt das Problem aller­erst an: Auch in der Rede von Kulturen schwingt noch allzu oft die Vorstellung abgrenzbarer Ganz­heiten oder gar Container mit, ebenso die Nei­gung zum Essentialisieren, wie es die neueren Kulturwissenschaften gerade vermeiden wollen. Hätte es nicht größeren Reiz, vom „Kulturellen“ als einer „Arena von machtförmigen Aushand­lungsprozessen“ (Lentz 2009: 307) zu sprechen oder auch – wie Andreas Reckwitz dagegenhält – von Kultur als einem eher „präreflexiven Wis­sen“, das immer schon über Praktiken wirksam wird (Reckwitz 2009: 417)?

Damit wären jedenfalls Modi des Kulturel­len freigelegt, die für transkulturelle Perspekti­ven anschlussfähiger sind. Nicht so in Böhmes Text, der die Kulturwissenschaft unbeirrt auf „die europäische Kultur“, ja auf „die Moderne“ einhegt. Dabei schmuggeln sich neben einem eurozentrischen Zuschnitt zugleich wiederum eine Singularisierung und Typisierung, ja das kulturelle Gesamtbild einer „synthetischen Kul­turbeschreibung“ (James Clifford) ein: Weit ent­fernt vom mikroskopischen Blick einer stärker empiriehaltigen kulturwissenschaftlichen For­schungspraxis, die Einzelheiten, Subjekte (nicht nur Subjekttypen), Differenzbildungen und pro­duktive Gelenkstellen zu ihrem Ausgangspunkt nimmt, haben wir es hier mit einer Kulturwissen­schaft der longue durée, der langen, zeitenüber­spannenden Wellen zu tun. Wir sehen eine philo­sophische Kulturwissenschaft am Werk, die sich aus dem Feld der Ideengeschichte speist und die sich den langen Wellen von Themen zuwen­det, welche „die Moderne“ mitprägen – Nerven, Risiko, Kontingenz, Religion – auch den „Theo­rien ästhetischer Autonomie“, wie sie Böhme aus den „Topoi des anti-urbanen Landlebens“ ablei­tet.

2 Empiriegeladene Kulturwissenschaften – soziologisch konkret, transkulturell offen

Was einer solchen philosophischen Kulturwissen­schaft fehlt – und was in vielerlei Hinsicht gerade eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise auszeichnet – ist der differenzierende Blick auf unbeleuchtete Gegenbewegungen, auf kontras­tierende und widerständige Handlungen (nicht nur Stimmungen), ja auf Epochenuntergründe. Gerade solche Gegenläufigkeiten zum „Zeitgeist“ fordern dazu heraus, den mainstream immer wie­der zu irritieren, etwa durch eine „defamiliariza­tion by (…) cross-cultural juxtaposition“ (Marcus/ Fischer 1999: 138), wie sie die Kulturanthropolo­gie methodisch gefordert hat, oder durch „contrapuntal reading“ (Said 1993: 66), wie man es von Edward W. Said her kennt. Kein europäisches (kanonisches) Kunstwerk – so Said – kommt aus ohne sein Gegenstück in den Geschichten und Erfahrungen des Kolonialismus, die meist unthe­matisiert und doch deutlich erkennbar, in ihm selbst durchscheinen. Man lese nur die Romane von Jane Austen. “We must therefore read the great canonical texts (…) with an effort to draw out, extend, give emphasis and voice to what is silent or marginally present or ideologically represented (…) in such works“ (Said 1993: 66). Doch ein solches Spannungsverhältnis von widersprüchlichen Überschneidungen sprengt scheinbar festgefügte epochale Einheiten und Begrenzungen. Erkennt man dies an, so kann man eigentlich nur noch quer zu griffig gemach­ten „Epochensignaturen“ arbeiten.

Ganz anders jedoch, wenn man den großen – europazentrierten – Bogen einer Genealogie der Moderne nachzeichnet und dabei ein „riesi­ges Diskursfeld“ (vgl. Böhme, ebd.) aufmacht, das ganze Epochen überspannt. Anders auch, wenn man sich auf das fixiert, was man als die Dispositionen der Moderne zu erkennen meint, z.B. auf eine allumspannende „Müdigkeit“ – ohne freilich die „Müdigkeit“ des kapitalistischen Fabrikarbeiters dann noch zu unterscheiden von der solipsistischen „Müdigkeit“ des Dichterindi­viduums bei Peter Handke. Mit den sozial bzw. soziologisch rückbezogenen Differenzierungen einer kulturwissenschaftlichen Analyse im Licht einer „notwendigen ‚Resoziologisierung‘ des Kulturbegriffs“ (Lentz 2009: 320) hingegen lie­ßen sich die Erkenntnismöglichkeiten erweitern. „Müdigkeit“ würde dann nicht nur als Zustandsdi­agnose festgestellt, sondern als Teil einer konkre­ten Praxis untersucht: als ein Reaktionsverhalten gegenüber sozial ungleichen Arbeitsverhältnis­sen, das schichtenspezifisch differenziert ist und je eigene Bewältigungsstrategien ausprägt. Statt einen solchen komplexen Praxiszusammenhang ideengeschichtlich zusammenzuschweißen, wäre ausdrücklich in ihn einzuhaken, auch um seine „präreflexiven“ Vorformungen freizulegen.

Geht hier die philosophisch-ideengeschichtli­che Kulturwissenschaft à la Böhme also differen­zierend genug vor? Geschichte erscheint da doch eher als ein überspannendes Fluidum, verdichtet in „Leitmetaphern“ (vgl. Böhme, ebd.). Letztlich wird der historische Prozess auf ein Äquilibrium zusammengezogen, auf ein Gleichgewicht von Dualismen und komplementären „Mentalitäten“. Differenzen, Gegenläufigkeiten, Widersprüchlich­keiten, Widerständigkeiten könnten damit all­zuleicht eingeebnet werden. Ist hier, zugespitzt gefragt, etwa eine Kulturwissenschaft am Werk, die selbst dabei ist zu ermüden?

3 Wahrnehmungsdispositionen als Analysekategorien

Eine differenzorientierte kulturwissenschaftliche Herangehensweise hingegen macht Grenzberei­che und Verschiebungen zwischen den Disziplinen – hier in Richtung der Soziologie – produktiv. So markiert sie stärker die Brüche, die Abweichungen und Missverhältnisse, um sie dann weitergehend zu analysieren: als soziale und gesellschaftliche Ungleichheiten. Am Ende der Metaphernkette des von Böhme durchaus eindrucksvoll nachgezeich­neten Zeitalters der Nerven und der „modernen Müdigkeit“ (vgl. Böhme, ebd.) wäre durchaus der Umschlag zu einer solchen kulturwissenschaftli­chen Untersuchung vorstellbar, die mit weitaus konkreteren Analysekategorien operiert. Statt nur Leitmetaphern auf ihre kulturelle Symptom­funktion hin nachzuspüren, könnten diese auf dif­ferenzerhaltende Konzepte hin geöffnet werden, die eher auf eine kulturelle Translationsfunktion verweisen.

Auch Hartmut Böhme verwendet ja „Müdig­keit“ im Modus einer Analysekategorie. Von hier aus ließe sich in Richtung auf eine empiriege­leitete kulturwissenschaftliche Perspektive wei­terarbeiten – ganz bestimmt genauer, vielleicht auch dorniger als durch ihre Verschmelzung zu einer Epochensignatur „der Moderne“. Dafür lie­ßen sich die Wahrnehmungskategorien, wie sie Böhme in seinem Text herausgearbeitet hat, wiederum nutzen und weiter ausbauen. Solche Wahrnehmungsdispositionen werden ja, wie er deutlich macht, überhaupt erst durch eine kul­turwissenschaftliche Linse als Phänomene zur Geltung gebracht, die sich zu erforschen lohnen. Doch wären sie eben nicht nur als „Mentalitä­ten“ (vgl. Böhme, ebd.) ernstzunehmen, sondern selbst (und selbstkritisch) auf ihre Kulturabhän­gigkeit hin zu reflektieren.

So könnte aus den Wahrnehmungsdispositionen dieser Epochensignaturen, wie sie Böhme bezeichnet, eine kulturwissenschaftliche Erkennt­niseinstellung hergeleitet werden, die sich nicht mehr nur historisch selbstvergewissert, son­dern die sich ausdrücklich den Gegenwarts- und Zukunftsherausforderungen aussetzt. Dies aller­dings verlangt, sich auf die soziale Rückbindung solcher Wahrnehmungsdispositionen und ihrer kulturspezifischen Praktiken einzulassen. Solche Kategorien der Wahrnehmungsprägung bis hin zu Kulturtechniken können – wie die Umwand­lungsprozesse von metaphorischen in analyti­sche Begriffe im Feld der cultural turns zeigen – ausgebaut werden zu methodisch geschärf­teren Analysekategorien, ohne diese freilich zu enthistorisieren. Man denke nur an die Kategorie der Übersetzung, die im Zuge des translational turn zunächst zu einer wuchernden Ausweitung des Übersetzungsbegriffs auf alle möglichen kulturellen und längst nicht mehr nur sprachli­chen Felder geführt hat. Erst indem sie verstärkt rückgebunden wurde an empirische Fallstudien konnte sie konkreter für die Analyse einzelner Übersetzungsschritte in sozialen Interaktionszu­sammenhängen oder gesellschaftlichen Transfor­mationsprozessen genutzt werden. So bringen translatorische Analysen in den empirischen Fel­dern von Mission und Konversion, von Diplomatie, Gesellschaftstransformation, aber auch von Men­schenrechtsdiskursen neue Erkenntnisse über die genauen Abläufen von Übergängen.1 Man kann sogar noch weiter gehen: Kulturwissenschaftli­che Ansätze überhaupt zeichnen sich nicht selten durch eine Aufmerksamkeit auf Übersetzungs­schritte aus, auf analytische Zergliederungen, die eben nicht vorschnell synthetisieren – um so etwa Transformationsprozesse herauszuarbeiten und die veränderungsrelevanten Gelenkstellen und Anschlussstellen dafür genauer benennen zu können. Denn Kulturwissenschaften, wie Böhme eher am Rande zugesteht, beschäftigen sich ja auch mit „engbegrenzten Objektfeldern in chro­notopischer Verdichtung“ (vgl. Böhme, ebd.). Aber auch hier wäre die Verdichtung wiederum zu entflechten, etwa durch den mikroskopischen Blick eines translatorischen Zugriffs, der Synthe­sebegriffe und Globalperspektiven aufbricht.

Eine solche empirische Konkretisierung der Begrifflichkeit, wie sie am Beispiel von Überset­zung als Analysekategorie vorgeführt werden kann, ist Bestandteil einer wichtigen und umfas­senderen kulturwissenschaftlichen Praxis: der Selbstreflexion der jeweiligen (auch der eigenen) Wissenschaftsbedingungen. Nicht nur die kriti­sche Einbindung in die jeweils zugrundeliegende kulturspezifische Erkenntnisordnung ist damit gemeint, sondern auch ein Überdenken der ein­gefahrenen Forschungspraxis (nicht zu vergessen die zunehmende, uns allen bekannte und ange­sichts des Publikationsdrucks fast schon unver­meidliche Mehrfachverwertung der eigenen Texte oder Textpassagen – auch Böhmes Impulstext enthält erhebliche Abschnitte, die bereits in sei­nem Aufsatz „Das Gefühl der Schwere“ (Böhme 2015) veröffentlicht wurden). Die neueren Ansätze der „public humanities“2 haben zudem die Aufmerksamkeit gelenkt auf das Problem der Vermittlung der geistes- und kulturwissen­schaftlichen Forschungsergebnisse in die gesell­schaftliche Öffentlichkeit hinein. Darüber hinaus ist eine noch tiefer reichende Selbstreflexion der eigenen Untersuchungsbegriffe zur entscheiden­den Forderung einer kulturwissenschaftlichen Forschungspraxis geworden. Begriffe wie Arbeit, Freiheit, Natur, Kunst, Religion sind ja keines­wegs allgemeingültige, universalisierbare Aus­gangspunkte der Forschung – eine Einsicht, die auch die europäische Begriffsgeschichte, auf der die Ideengeschichte ja beruht, weiterhin fragwür­dig macht.

Es gilt also noch vor jeglicher Epochenbe­schreibung anzusetzen – eben bei den Begriffen und Erkenntnisvoraussetzungen selbst, die ja als solche bereits kulturspezifisch geprägt sind. Hier muss ich – wenngleich auch ich dies schon an anderen Orten getan habe (Bachmann-Medick 2012: 34f.) – noch einmal auf Dipesh Chakrabar­tys höchst anregendes Konzept der „cross-cate­gorical translation“ verweisen, die mit jeglicher „cross-cultural translation“ einhergehen sollte (Chakrabarty 2000: 83ff.). Anzusetzen ist hier­nach bereits an den keineswegs selbstverständ­lichen Kategorien, an den Konzepten selbst – Konzepte verstanden im Sinne von Mieke Bal als Mini-Theorien, die sich zwischen den Disziplinen, ja auch durch unterschiedliche kulturelle Kon­texte hindurch bewegen, die dabei als „travelling concepts“ (Bal 2002) wirken. Statt bei Metaphern stehenzubleiben oder bei den europäisch gepräg­ten Begriffen, wäre vielmehr die verwendete Begrifflichkeit auf solche „travelling concepts“ hin zu befragen – nicht zuletzt, um sie für transkultu­relle Kulturforschung einsetzbar zu machen.

Wo finden sich in Hartmut Böhmes Text „tra­velling concepts“? Wie steht es da beispielsweise mit der ästhetischen „Autonomie“? Ist dies nicht auch eine profund europäische Vorstellung, die im weltliterarischen Horizont längst nicht mehr universalisierbar ist, die keineswegs unumstrit­ten „reist“, die vielmehr im Sinne Chakrabar­tys „provinzialisiert“ werden müsste? Mit dem Gebrauch solcher kulturspezifisch verengten Untersuchungsbegriffe wird eine „synthetische Kulturbeschreibung“, wie sie James Clifford schon in den 1980er Jahren im Zuge der Writing Cul­ture Debatte kritisiert hatte, auf jeden Fall eher noch bekräftigt als aufgebrochen. Verengt wer­den damit mögliche Anschlüsse an andere Moder­nen in der Weltgesellschaft. Zusammengezogen zu einem neuen „Bild“ der europäischen Moderne – von Müdigkeit über ästhetische Autonomie bis hin zu Risiko, Unsicherheit, Kontingenz – schließt sich damit auch eine Kulturwissenschaft, die die­ses Bild produziert, geradezu selbst ab.

4 Dynamik der Kulturwissenschaften – Emerging Topics, Gesellschaftsbezüge, Disziplinenüberlappungen

Käme es nicht aber darauf an, die Dynamik der Kulturwissenschaften über die Disziplinen- und Kulturgrenzen hinaus weiterzutreiben? Geschieht dies durch die zunehmenden Verschiebungen, Resemantisierungen und produktiven Kontext­wechsel, wie sie gegenwärtig am Werk sind? Hartmut Böhme hat solche faszinierenden Ver­schiebungen des Religiösen in Form „flottierender Energien“ (vgl. Böhme, ebd.) in die Sphäre des Sports – kennzeichnend für heutige postsäkulare Gesellschaften – eindrucksvoll vor Augen geführt. Geschieht dies – wissenschaftsorganisatorisch gesehen – weiterhin durch turns? Oder eher durch die Entwicklung von studies quer zu den etablierten Fächern (Moebius 2012: 7-12, bes. 11)? Vielleicht sogar durch einen ‚turn‘ der Kul­turwissenschaften selbst, durch ihre Abkehr von kulturwissenschaftlicher Beliebigkeit, in die ein zu sorgloser Umgang mit turns führen könnte?

Was sich in der Tat in jüngster Zeit abzeich­net, ist eine deutlichere Hinwendung zu ethischen Fragen, die Anerkennung kulturwissenschaftli­cher Verantwortlichkeiten sowie nicht zuletzt eine stärkere Verpflichtung auf Gesellschaftsbezüge. Dies bedeutet auch, sich mit aufkommenden Forschungsfeldern, mit emerging topics ausein­anderzusetzen und diese in ihrer gesellschaftli­chen Brisanz vonseiten der Kulturwissenschaften ernstzunehmen. In dieser Hinsicht spricht man in den gegenwärtigen, zukunftsorientierten Kultur­wissenschaften nun nicht mehr nur von travelling concepts, sondern von einer Weiterentfaltung solcher Konzepte hin zu concerns angesichts der dringenden Gesellschafts-, ja Weltprobleme – wie z.B. Religionskonflikten, Klimawandel, Altern, Mobilität, Migration usw. Und so reicht eben nicht mehr nur die Rückwendung zu Diagnosen „der Moderne“, wie kulturwissenschaftlich diese auch immer angelegt sein mögen: mit Blick auf Müdig­keitsphänomene, Risikoverhältnisse oder Kontin­genzunahme.

Besonders produktiv ist in diesem Zusammen­hang vielmehr die Ausdehnung der Kulturwissen­schaften in Grenzbereiche und Überlappungsfel­der hinein. Hier lohnt es sich weiterzuarbeiten. Denn Verschiebungen können auch hier höchst produktiv sein – Verschiebungen etwa im Gefüge der Disziplinen selbst. Ein solches Aufeinander­zubewegen der Fächer wäre bei einem Einzelfach Kulturwissenschaft nur schwer möglich. Denn es ist ja gerade das fächerübergreifende systemati­sche Anregungspotential der Kulturwissenschaf­ten, das von den unterschiedlichsten Fächern aufgegriffen und auf ihre Weise verarbeitet wird. Ein Beispiel für ein solches Aufeinanderzubewe­gen wäre die kulturwissenschaftliche Neuorien­tierung, die neuerdings von den management und organizational studies ausgeht – durch deren Selbstreflexion im Licht der cultural turns (Bach­mann-Medick 2016). Hier ließe sich anschließen an Böhmes entscheidende Hervorhebung, dass Nutzen in kulturwissenschaftlicher Sicht ein strikt ökonomisches Verständnis überwindet, indem es – à la Bourdieu – auch das symbolische Kapi­tal umfasst (vgl. Böhme, ebd.). Aber eben auch für die kulturwissenschaftliche Forschungspra­xis selbst kommt die ökonomische Dimension stärker denn je in den Blick. Hier könnte etwa das kritische Umdenken der Manager-Autorität im Feld der critical management studies kon­krete Vorschläge an die Hand geben: Praktiken wie Vernetzung, Konnektivität, transnationale Öffnung wären stärker in den Vordergrund zu rücken als herkömmliche, individuumbasierte Strukturen von Steuerung und Management. Dies könnte nicht zuletzt auch manch kritische Fragen anregen: Ob und wie laufen eigentlich im Bereich der (Kultur-)Wissenschaften selbst Steu­erungs- und Managementprozesse ab? Wie wer­den etwa Forschungsstrategien lanciert und auf den Weg gebracht, welche Markt- und Effizienz­orientierungen sind am Werk und wie bilden sich dennoch – durchaus unabhängig von einer inhalt­lichen Programmatik der Kulturwissenschaften – immer wieder überraschende Konjunkturen von Theorien heraus? Wenn Lawrence Grossberg mit seinem Aufruf: „rescuing economies from eco­nomists“ (Grossberg 2010: 101)3 ausdrücklich auf die anglo-amerikanischen cultural studies und ihre Pluralisierungsanstöße verweist, dann könnte ein entsprechender Aufruf wiederum auch die Kulturwissenschaftler_innen hierzulande auf­rütteln: durch mutigere Grenzüberschreitungen in scheinbar entfernte Disziplinen hinein könn­ten auch die Kulturwissenschaften vor sich selbst gerettet werden – vor ihrer Ermüdung, aber auch vor ihrer selbstgenügsamen Selbstübertreibung.

Literaturverzeichnis

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Bachmann-Medick (2016), Doris: Cultural Turns – A Matter of Management? In: Küpers, Wendelin/ Sonnenburg, Stephan/Zierold, Martin (Hgg.): ReThinking Management. Wiesbaden/New York: Springer VS [im Erscheinen].

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Lentz, Carola (2009): Der Kampf um die Kultur. Zur Ent- und Re-Soziologisierung eines ethnologischen Konzepts. In: Soziale Welt 60, S. 305–324.

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Moebius, Stephan (2012): Kulturforschungen der Gegenwart – die Studies. Einleitung. In: ders.: Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld: transcript.

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Reckwitz, Andreas (2009): (Ent-)Kulturalisierungen und (Ent-)Soziologisierungen. Das Soziale, das Kulturelle und die Macht. Ein Kommentar zu Carola Lentz: „Der Kampf um die Kultur: Zur Ent- und Re-Soziologi­sierung eines ethnologischen Konzepts“. In: Soziale Welt 60, S. 411–418.

Reckwitz, Andreas (2011): Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur’. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In: Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhart (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 1–13.

Said, Edward W. (1993): Culture and Imperialism. New York: Alfred A. Knopf.


Fußnoten

1 Aus einer mittlerweile Vielzahl von neueren Fallbeispielen sei auf das Themenheft „Übersetzungen“ der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ verwiesen (2012), darin u.a. Doris Bachmann-Medick (2012a): Menschenrechte als Übersetzungsproblem, 331–359. 2 Siehe zu diesem hierzulande noch wenig bekannten Diskurs: u.a. Brooks/Jewett 2014; Cooper 2014; Nussbaum 2010. 3 Vgl. in diesem Sinn Grossberg (2010): 168: „economies are too important to be left to economists.“