Gabriele Dürbeck, Thomas Metten & Wolf-Andreas Liebert: Editorial
Die Gründung einer kulturwissenschaftlichen Fachgesellschaft und die Einführung einer neuen Fachzeitschrift ist Ausdruck der Dynamik, mit der sich die Kulturwissenschaft(en) seit den 1990er Jahren in der deutschen Wissenschaftslandschaft etabliert haben. Mussten Kulturwissenschaft(en) vor nicht allzu langer Zeit ihre Legitimität und Relevanz immer wieder begründen, so ist es inzwischen gelungen, eine eigene Infrastruktur zu entwickeln, die sich in Forschungsinstituten, Fakultäten, Studiengängen und Professuren sowie einem sich sukzessive etablierenden Kanon an Fachliteratur und Lehrinhalten manifestiert. Im Ergebnis ist eine enorme Vielfalt von Forschungsansätzen und neuen ‚cultural turns‘ entstanden, wie sie Doris Bachmann-Medick 2006 (in englischer Überersetzung 2016) zur „Neuorientierung der Kulturwissenschaften“ systematisch kartiert hat.
Die Kulturwissenschaftliche Zeitschrift soll ein Forum bieten, in dem die unterschiedlichen Auffassungen, Ansätze und Zugänge in den Kulturwissenschaft(en) zu Wort kommen, diskutiert und weiterentwickelt werden. In der Reihe bestehender kulturwissenschaftlicher Fachzeitschriften1 tritt sie als Publikationsorgan der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft mit der Zielsetzung an, frei von thematischen Vorgaben die Debatten über kulturwissenschaftliche Fragestellungen, Theorieansätze und Konzepte im Austausch mit internationalen Wissenschaftsdiskursen zu profilieren und eigene Traditionen im Verhältnis zu Theorieimporten kritisch und selbstreflexiv zu untersuchen. Die Zeitschrift soll kulturwissenschaftliche Forschungsergebnisse sowohl aus verschiedenen Disziplinen als auch aus disziplinübergreifenden, inter- und transdisziplinären Forschungszusammenhängen in Originalbeiträgen präsentieren. Der Anspruch ist dabei, Schlüsselthemen ebenso wie interdisziplinäre Brückenkonzepte der Kulturwissenschaft(en) zu untersuchen und dabei konkrete Bezüge zur gesellschaftlichen Realität herzustellen sowie gesellschaftlich relevante Fragestellungen zu bearbeiten. Damit soll diese Zeitschrift auch zum Austragungsort von wissenschaftlichen Kontroversen werden, die für die wissenschaftliche Weiterentwicklung und theoriegeleitete Profilierung von Ansätzen und Positionen von grundlegender Bedeutung sind. Darüber hinaus informiert die Zeitschrift über die Arbeit der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG) und will dieser auch in der wissenschaftspolitischen Öffentlichkeit eine Stimme geben.
Die Gründungsausgabe hat ein besonderes Format. Einleitend steht ein programmatischer Beitrag zu Entstehung, disziplinärem Status und epistemologischer Verortung der deutschsprachigen Kulturwissenschaft(en) von Thomas Metten. Die Reihe der Beiträge eröffnet sodann der Vortrag, den Hartmut Böhme im Januar 2015 in Koblenz als Keynote anlässlich der Gründung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft gehalten hat. Böhmes Grundsatzbeitrag entfaltet die Perspektiven einer historischen, philosophischen wie auch künftigen Kulturwissenschaft vor der Folie der longue durée des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. Dabei betrachtet er vier Themenfelder: die Funktionen der sog. freien und der nützlichen Künste, Konstellationen der Subjektivität in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts, das Verhältnis von Sicherheit und Risiko sowie die Beziehung von Kultur und Religion in der heutigen postreligiösen und postaufklärerischen Welt. Auf Böhme antworten sieben Kolleginnen und Kollegen, die – aus verschiedenen Disziplinen kommend – in den letzten Jahren die Entwicklung von Theorien, Konzepten und Methoden der Kulturwissenschaften sowie deren Institutionalisierung maßgeblich vorangetrieben und sich wesentlich an kulturwissenschaftlichen Debatten beteiligt haben. Die dezidiert kurz gehaltenen Repliken entwickeln in kritischer Auseinandersetzung mit Böhmes Beitrag eigene programmatische Überlegungen zu den Kulturwissenschaft(en), den Analysekategorien und künftigen Arbeitsfeldern. Dabei wird von einigen zwischen den ‚deutschen Kulturwissenschaften‘ und den angelsächsischen cultural studies unterschieden. Die einen betonen das ‚fächerübergreifende Forschungsprogramm‘ der Kulturwissenschaften oder sehen in ihnen einen ‚Sammelbegriff für einen offenen und interdisziplinären Diskussionszusammenhang‘, der eine ‚Metaebene der Reflexion‘ (Ansgar Nünning) erfordert und der weiteren Internationalisierung bedarf. Andere betrachten die Kulturwissenschaft(en) als disziplinäre Synthese und betonen ihre Aufgabe der ‚Moderation der multiperspektivischen Vernetzung von Einzelergebnissen aus divergenten Disziplinen‘ (Hartmut Böhme).
Die programmatischen Kommentare zu Böhmes Grundsatzbeitrag spannen in ihren Überlegungen ein breites Panorama an neuen Perspektivierungen der Kulturwissenschaft(en) auf. In seiner Replik stellt der Anglistik, Amerikanist und Kulturwissenschaftler Ansgar Nünning mit Bezug auf Doris Bachmann-Medick das Desiderat von transkulturell und transnational ausgerichteten Kulturwissenschaft(en) heraus, die stärker in den Dialog „mit den Programmatiken und Praktiken in anderen Wissenschaftskulturen“ treten, sich selbstreflexiv mit ‚travelling concepts‘ (Mieke Bal) befassen und bei der Frage nach kulturellen Übersetzungsprozessen eine wesentliche Rolle spielen sollen. Außerdem formuliert er für die deutschen Kulturwissenschaft(en) die Aufgabe einer dezidiert wissenschaftlichen, methodisch reflektierten Profilierung, die eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion ihrer Ansätze einschließt. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick fordert in ihrem programmatischen Beitrag die Dynamik der ‚cultural turns‘ stärker als Erkenntnismittel fruchtbar zu machen und zu „disziplinübergreifenden Analysekategorien“ auszuarbeiten, um die neueren, zukunftsorientierten Kulturwissenschaften „empiriegeladen, soziologisch konkret und transkulturell“ weiter zu öffnen und ihnen durch stärkere Gesellschaftsbezüge eine breitere Legitimation zu geben. Eine produktive Ausweitung der Kulturwissenschaften in „Grenzbereiche und Überlappungsfelder“ sieht sie z.B. in den critical management und organizational studies, die gegenüber herkömmlichen individuumbasierten Ansätzen „Praktiken wie Vernetzung, Konnektivität, transnationale Öffnung“ betonen. Die Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zeigt in ihrem Beitrag, der die überarbeitete Form eine Vortrags am Kulturwissenschaftlichen Institut in Wien im März 2016 ist, dass ‚cultural turns‘ als amerikanischer Importartikel zwar forschungsstrategisch wichtig sind, nicht aber verdecken sollten, dass sie auch Teil eines allgemeineren, „gesellschaftlichen Kultur- und Bewusstseinswandels“ innerhalb und außerhalb der Universitäten sind. Dieser Kulturwandel wird durch die Begriffsarbeit und die terminologischen Differenzierungen der internationalen Kulturwissenschaften greifbar, deren Herausforderung nicht nur darin besteht die „Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung der Kultur“ zu leisten, sondern auch mit der permanenten Veränderung der Lebenswelt, an der sie teilhaben, Schritt zu halten. Im Sinne einer „Erweiterungslogik des Wissens und Forschens“ schlägt Assmann vor, statt der Abfolge von ‚turns‘ stärker das Nebeneinander von produktiven Konzepten und einander ergänzenden Forschungsperspektiven zu betonen.
Aus soziologischer Perspektive fordert Stephan Möbius in seinem Beitrag eine fachdisziplinäre Profilbildung der Kulturwissenschaft mit drei aus der Soziologie abgeleiteten Schlüsselfragen, die auf die Klärung der Frage abzielen, was kulturelle Handlungen, kulturelle Ordnung und kulturellen Wandel ausmacht. Dabei sollen laut Möbius die Frage nach sozialen und kulturellen Macht- und Herrschaftsverhältnissen stets berücksichtigt und die Auseinandersetzung mit soziokulturellen Problemen der Gegenwart gewährleistet werden. Zudem ruft er eine Reihe von bekannten kulturwissenschaftlichen Themen- und Arbeitsfeldern wie Historische Anthropologie, Kulturgeschichte der Technik, mediale Praktiken oder Kulturökologie sowie kulturwissenschaftlich relevante Theorieansätze wie die gender, queer oder postcolonial studies auf, die jenseits der Vereinzelung wieder „in einen größeren kulturellen Rahmen [eingeordnet] und in Beziehung [gesetzt werden sollen]“. Der Historiker Jakob Tanner plädiert in seinem programmatischen Beitrag für eine stärker kulturtheoretische Fundierung der Kulturwissenschaft(en), indem er vorschlägt, von zentralen Gegenwartsproblemen und -phänomenen der ‚globalen Ökonomie‘ auszugehen, von denen er den Zusammenhang von Kultur und Migration sowie die kulturelle Dynamik von Technik und Medien näher in den Blick nimmt. Dabei stellt Tanner einer Verhärtung von essentialistischen Kulturkreis-Theorien und einer relativistischen Multikulturalismus-Vorstellung beispielhaft Bhabhas Differenzkonzept von Kultur als permanente Übersetzung und Aushandlung gegenüber, das ‚dritte Räume‘ öffnet. Weiterhin fordert er angesichts der Untrennbarkeit des menschlichen Lebens von Technik und Medien eine stärkere kulturwissenschaftliche Analyse von (mechanisierten) Gebrauchsgegenständen und technischen Apparaten in ihrer oft irritierenden, nicht vorhersehbaren eigenlogischen Auswirkung (agency) auf kulturelle Praktiken und sozialen Wandel. Der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Andreas Ackermann plädiert in seinem Kommentar für eine ethnologisch fundierte Ausweitung der Kulturwissenschaft, die von einer grundlegenden Differenzerfahrung sowie von der Bedeutung des alltagspraktischen Handelns ausgehen soll. Sie zielt darauf ab, das „eurozentrische Narrativ der Moderne“ sowie einseitig textualistische Kulturbegriffe aufzubrechen und der Bedeutung der Materialität und des Leibes stärker Rechnung zu tragen. Zudem fordert Ackermann für die Kulturwissenschaft einen ‚methodischen Partikularismus‘, um bestehende essentialistische und universalistische Kulturkonzepte, wie sie etwa in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise grassieren, analysieren und überwinden zu können. Aus Perspektive der Philosophie, der ästhetischen Theorie und der Kunstwissenschaften fordern schließlich Susanne Leeb und Ruth Sonderegger ebenfalls eine fällige Macht- und Eurozentrismuskritik ein, die sie in den cultural studies fundieren. In kritischer Auseinandersetzung mit Böhmes Betrachtung von Modernisierungsprozessen der letzten 250 Jahre sowie der Tradition einer ‚selbstgenügsamen‘ (okzidentalen) Ästhetik skizzieren sie die Voraussetzungen für eine neue philosophisch-kulturwissenschaftliche Ästhetik. Das Programm dieser Ästhetik zielt darauf ab, bestehende Kulturbegriffe und ästhetische Grundannahmen mit ihren oft essentialistischen Voraussetzungen historisch zu reflektieren, in geo- und machtpolitischer Hinsicht zu „provinzialisieren“ und mit Blick auf ihre verflochtenen Allianzen durch ein „self-othering“ zu pluralisieren.
Wie die unterschiedlichen Kommentare zeigen, führt die kritische Auseinandersetzung mit dem Grundsatzbeitrag von Hartmut Böhme zur Formulierung von Desideraten, neuen Programmatiken und erweiterten Gegenstandsfeldern der zukünftigen Kulturwissenschaft(en), die darauf angelegt sind, aufgenommen und weiterentwickelt zu werden. In diesem Sinne sollen die Beiträge dieser Gründungsausgabe fruchtbare Debatten anstoßen und ihre neuen Perspektiven sollen zu einer stärken Profilierung der Kulturwissenschaft(en) beitragen.
Die zunehmende Institutionalisierung der Kulturwissenschaft(en) sollte – auch im Kontext der Gründung einer neuen Fachgesellschaft sowie einer neuen Fachzeitschrift – jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften weiterhin unter starkem materiellen Druck stehen. Daher ist es wichtig, neben den vorgenannten Zielen auch Antworten und Lösungsvorschläge für relevante gesellschaftliche Probleme anzubieten und die genuinen Qualitäten der Kulturwissenschaft(en) stärker sichtbar werden zu lassen.
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Wir danken dem de Gruyter Verlag, bei dem die Zeitschrift im Open Access-Format erscheint, für die professionelle Implementierung der neuen Zeitschrift und die sehr gute Zusammenarbeit bei dieser Gründungsausgabe. Weiterhin danken wir Thomas Philippsen, studentische Hilfskraft der Koblenzer Germanistik, für die tatkräftige Unterstützung beim Korrekturlesen. Auch danken wir allen Beiträgerinnen und Beiträgern, dass Sie recht kurzfristig für einen Kommentar bereit waren.
Gabriele Dürbeck, Wolf-Andreas Liebert, Thomas Metten