Thomas Metten: Konturen der Kulturwissenschaft/en – einleitende Überlegungen
Abstract: The article focuses on the founding narratives of Kulturwissenschaft/en in Germany (studies of culture) that have been addressed in the last decades. According to these narratives, Kulturwissenschaft/en are either described as the result of a fundamental crisis of the humanities or as the result of a radical transformation of the lifeworld since the 19th century. These narratives, however, have not lead to an epistemological foundation of German Kulturwissenschaft/en. Against this background, the article outlines in which ways Kulturwissenschaft as a discipline can be understood as an academic reflexion based on experiences of otherness and difference. Therefore, it will be argued that an epistemology of Kulturwissenschaft may provide a broader framework reflecting the complex and conflictual relation of academic research and culture as well as media as essential conditions of cultural knowledge.
Keywords: crisis in the humanities, transformation of lifeworlds, German studies of culture, Kulturwissenschaft/en in Germany, epistemology of studies of culture, media criticism
Es liegt nahe, sich mit der Gründung einer neuen Fachzeitschrift darüber zu verständigen, was künftig, aber auch schon auf den folgenden Seiten Gegenstand dieser Zeitschrift sein kann. Doch sind mit dem Titel dieser Zeitschrift bereits hinreichend klare Konturen vorgezeichnet, um ein Forum für all jene Fragen zu eröffnen, die sich plausibel in der/n Kulturwissenschaft/en stellen lassen? Was aber ist Kulturwissenschaft und wie viele, was ist Kultur und wie sind Disziplin, Begriffe und Gegenstände miteinander verbunden? Welche Prämissen liegen epistemischen Praktiken zugrunde und welche Wissensansprüche gehen mit diesen einher? Kritiker werden nicht müde zu betonen, dass die Kulturwissenschaften diese und andere Fragen nicht hinreichend klar zu beantworten vermögen. Kritisch wird zur Diskussion gestellt, ob es sich bei ihrer Entstehung um das Programm einer inter- oder transdisziplinären Entdifferenzierung bestehender Disziplinen oder um die parasitäre Neugründung an den Rändern etablierter Disziplinen handelt (vgl. Beer/Koenig 2009: 4). Die Einwände betreffen die Kulturwissenschaften insgesamt, aber auch die Etablierung einer Einzeldisziplin Kulturwissenschaft.
Die Kritik, die die Entstehung und Institutionalisierung der deutschsprachigen Kulturwissenschaften begleitet hat, hat einen Diskurs entstehen lassen, der vornehmlich der Selbstverständigung darüber dient, was gemeint ist, wenn von diesen die Rede ist (vgl. Aleksandrowicz 2004: 25). Innerhalb der Debatten haben sich zwei Gründungsnarrative verfestigt, die deren Genese aus den Entstehungskontexten herleiten: (1) Kulturwissenschaften sind aus einer Krise der Geisteswissenschaften hervorgegangen, (2) Kulturwissenschaften sind die Antwort auf eine radikale Transformation der Lebenswelt. Die Frage danach, was Kulturwissenschaft ist, wird so durch ihre Entstehungsgeschichten beantwortet. Beide Narrative bieten implizite Begründungen an, die in das Selbstverständnis der Kulturwissenschaft/en eingegangen sind. Wenn diese im Folgenden, zu Beginn einer neuen kulturwissenschaftlichen Fachzeitschrift aufgegriffen werden, dann jedoch nicht, um eine Rekonstruktion der neueren und neusten Kulturwissenschaftsgeschichte bzw. ihrer Darstellungen zu leisten, sondern um die damit verbundenen Implikationen kenntlich zu machen. Auf diesem Weg gewinnt auch diese Zeitschrift an Kontur, wenn die Notwendigkeit einer expliziten Begründung deutlich wird, hinsichtlich der mit dieser Gründungsausgabe ein Beitrag geleistet werden soll.
1 Gründungsnarrative
1.1 Krise der Geisteswissenschaften
Die Darstellung, dass die Kulturwissenschaften aus einer Krise der Geisteswissenschaften hervorgegangen sind, gehört zu ihren etablierten Herleitungen. Paradigmatisch steht hierfür die Äußerung Aleida Assmanns: „Während im England der 1950er Jahre die Cultural Studies aus einer Krise der Humanities hervorgingen, gingen in Deutschland Anfang der 1990er Jahre die Kulturwissenschaften aus einer Krise der Geisteswissenschaften hervor.“ (Assmann 2004: 11) Kulturwissenschaften gelten folglich als reformierte Geisteswissenschaften.1
Transparenter wird die so genannte Krise der Geisteswissenschaften, begreift man sie als Kritik, deren Beschreibung als „Krise“ eine nicht unwesentliche Objektivierung vollzieht. Selten haben sich Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler tatsächlich in einer inneren Krise erfahren. De facto lässt sich auch nicht erkennen, dass von Geisteswissenschaften gegenwärtig nicht mehr die Rede wäre, vielmehr sind diese weiterhin fest in den Hochschulen verankert (vgl. Lamping 2015: XIII).2 Allerdings sahen und sehen sich geisteswissenschaftliche Disziplinen mit einer Kritik konfrontiert, im Rahmen derer u.a. deren Modernisierung, Internationalisierung sowie eine stärkere gesellschaftliche Relevanz gefordert wurden und werden. Prominent wurden diese Einwände seit den 1980er Jahren formuliert.3 Insbesondere der Einwand, den Geisteswissenschaften mangele es an gesellschaftlicher Relevanz, verweist dabei auf ein deutlich weiteres Feld: Unklar ist etwa, ob die Krise der Geisteswissenschaften nicht auch eine Krise des wissenschaftlichen Wissens insgesamt anzeigt, da sich die Wissenschaften zunehmend in einem Umfeld wiederfinden, in dem auch andere Akteure auftreten, die Wissen generieren, das teils praxisnäher erscheint (vgl. Pscheida 2009: 255). Im Zuge der Ausbildung der so genannten Wissensgesellschaft sowie einer Pluralisierung der Wissensinstanzen scheinen die Wissenschaften daher insgesamt unter Legitimationsdruck geraten zu sein.
Zudem halten die Vorwürfe an, das Profil der Geisteswissenschaften sei uneindeutig; sie seien theoretisch wie methodisch unterbestimmt. Mit Bezug auf die anhaltende Krisenrhetorik hat Jürgen Mittelstraß daher im Anschluss an das Jahr der Geisteswissenschaften (2007) einmal mehr herausgestellt, dass sich die Geisteswissenschaften insgesamt „den ordnenden Absichten einer allgemeinen Wissenschaftssystematik entziehen. Sie sind weder über ihre Methoden noch über ihre Gegenstände, noch über ihre Theorien eindeutig zu bestimmen.“ (Mittelstraß 2008: 7) Entscheidend ist, dass eine solche Uneindeutigkeit jedoch weder zu Beliebigkeit noch zu Belanglosigkeit führt. Vielmehr haben es die Geisteswissenschaften mit nichts weniger als „der kulturellen Form der Welt“ zu tun, d.h. mit dem „Inbegriff menschlicher Arbeit und Lebensformen, naturwissenschaftliche, technische und andere Entwicklungen eingeschlossen“ (ebd.). Als solche bieten sie, so Mittelstraß zusammenfassend, wissenschaftliches Wissen einer Kultur von sich selbst und tragen zur Stabilisierung und Entwicklung moderner Gesellschaften bei.
In seiner Antwort nimmt Mittelstraß allerdings schon jene Einwände auf, die kritisch gegen die Geisteswissenschaften ins Feld geführt wurden, und präsentiert diese als im Zeichen der Globalisierung modernisierte und reformierte Disziplinen.4 Auf diese Weise sind Aspekte in die Darstellung der Geisteswissenschaften eingegangen, die, wie Bettina Beer und Matthias Koenig (2009: 17f.) gezeigt haben, ebenso der Selbstbeschreibung und Profilierung der Kulturwissenschaft/en dienen. Mittelstraß Bestimmung ist daher in zweierlei Hinsicht bedenkenswert: Für das Selbstverständnis der Kulturwissenschaften leitet sich aus dem Entstehungszusammenhang der Krise ein Innovationspotenzial ab, dass diese von den traditionellen Geisteswissenschaften abhebt und mit der Aura des Fortschritts umgibt (vgl. Kittsteiner 2004: 14). Kulturwissenschaften werden zur „Modernisierungschiffre“, zum „Programmbegriff einer Krisenlösungsstrategie“ (vgl. Böhme/Matussek/Müller 2000: 19, 32). Zugleich resultiert daraus eine konstitutive Unschärfe, da der Unterschied zwischen reformierten Geisteswissenschaften und Kulturwissenschaften verschwimmt. Denn begreift man die Veränderungen als weitgehend normale Entwicklung der auf Innovation und Erkenntnisfortschritt angelegten Wissenschaften, gibt es keinen notwendigen Grund für eine Neu- oder Umbenennung. Mittelstraß selbst hat angemerkt, dass sich eine wissenschaftstheoretische Beschreibung der Kulturwissenschaften nicht fundamental von einer Beschreibung der Geisteswissenschaften unterscheide (vgl. Mittelstraß 2004: 36).
Während die wissenschaftspolitische Infragestellung der Legitimation geisteswissenschaftlicher Disziplinen deren institutionelle Reform beförderte und so auch dazu beigetragen hat, dass zunehmend unklar ist, was gemeint ist, wenn von Geistes-/Kulturwissenschaften die Rede ist, zielt die Kritik in wissenspolitischer Hinsicht vor allem auf die Rationalitäts- und Erkenntnisideale der Geisteswissenschaften. Hans Ulrich Gumbrecht hat herausgestellt, dass die epistemologische Krise bereits Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt: In Konkurrenz zu den damals sehr erfolgreichen Naturwissenschaften entwickeln die Geisteswissenschaften den „Komplex eines Realitätsverlusts“ und sehen sich fortan in der Begründungspflicht, „dass auch sie nahe an der Realität sind“ (vgl. Gumbrecht 2015: 14; vgl. Assmanns Beitrag in diesem Heft). Der Maßstab eines objektivierbaren Wissens, wie es die Naturwissenschaften scheinbar zur Verfügung stellen, wird seither auch auf die Geisteswissenschaften projiziert und bestimmt bis in die Gegenwart hinein die Diskurse – obwohl gezeigt wurde, dass solche Wissensansprüche selbst in den Naturwissenschaften nur bedingt legitimierbar, weil historisch kontingent sind.5 In der Tradierung etablierter Argumentationsmuster setzt sich die Kritik so auch gegenüber den Kulturwissenschaften fort, ohne dass wahrgenommen wird, dass diese mit dem Anspruch verbunden sind, den Dualismus von Geistes- und Naturwissenschaften zu überwinden. Der Legitimationskrise einerseits steht so ein Legitimationsglaube andererseits gegenüber.
Folglich stehen die Kulturwissenschaften weiterhin in einem heterogenen Spannungsfeld: Wissenschaftspolitisch können sie als reformierte Geisteswissenschaften verstanden werden, was offen lässt, ob es einer neuen Bezeichnung bedarf; in epistemologischer Hinsicht sehen sie sich hingegen mit Vorwürfen konfrontiert, die bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts gegen die Geisteswissenschaften ins Feld geführt wurden und die sie fortgesetzt in Opposition zu den Naturwissenschaften bringen. Zwar nehmen die Kulturwissenschaften zunehmend die Reflexionsaufgaben der Gesellschaft auf sich, die in den rein auf Expertenkulturen ausgerichteten Wissenschaften an den Rand gedrängt wurden (vgl. Böhme 1996: 64). Ob die gleichwohl wichtige Hinwendung zu einer gesellschaftlich-politischen Grundorientierung jedoch einen hinreichend deutlichen Unterschied markiert, um die disziplinäre Identität einer Kulturwissenschaft herzustellen, bleibt zu diskutieren. Eine angemessene epistemologische Begründung ergibt sich aus dem Krisennarrativ der Geisteswissenschaften zumindest nicht. Relevanter scheint hingegen, dass die Genese der Kulturwissenschaft/en eng mit einer Kritik der Zwei-Kulturen-These (Geisteswissenschaften vs. Naturwissenschaften, Verstehen vs. Erklären) verbunden ist und das Potenzial eines allgemeinen Kulturbegriffs in den neueren Kulturwissenschaften gerade darin gesehen wird, tradierte Oppositionen aufzulösen.
1.2 Transformation der Lebenswelt
Die Entstehung der Kulturwissenschaft/en bleibt um deren kulturhistorische Situierung verkürzt, reduziert man diese auf eine institutionelle Krise. Den weiteren zeitgeschichtlichen Kontext bildet eine grundlegende Transformation der Lebenswelt. Paradigmatisch sei hier noch einmal Aleida Assmann zitiert, die zu der Einschätzung gelangt, „daß die Kulturwissenschaften nicht aus einer neuen M(eth)ode oder theoretischen Wende entstanden, sondern eine Antwort sind auf diesen tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft und unserer Welt(un)ordnung“ (2004: 4). Ausschlaggebend seien die Entwicklungen in Physik und Biowissenschaften, neue Technologien und elektronische Medien, die Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse sowie die Spätfolgen historischer Traumatisierungen im 20. Jahrhundert. Nahezu analog zeichnet Andreas Reckwitz die Herausbildung kultursoziologischer Ansätze im Kontext der hochmodernen Phase westlicher Gesellschaften nach.6 Als Transformationsfelder benennt er die Denaturalisierung der Kategorien „Geschlecht“ und „Ethnie“, die Problematisierung der Kategorie „Nation“ im Kontext der kulturellen Globalisierung sowie die Entwicklung der elektronischen Kommunikationsmedien (vgl. Reckwitz 2006: 44). Die entscheidenden Gründe für die Herausbildung der neuen Kulturwissenschaft/en sind demnach nicht in der Wissenschaft selbst zu suchen, sondern in einer radikalen Transformation der Lebenswelt; d.h. diese steht/en in direkter Verbindung mit dem Erleben von Kontingenzen und Diskontinuitäten, der tiefgreifenden Veränderung bestehender Ordnungen sowie den damit verbunden sozialen, ökonomischen und kulturellen Dynamiken. Kulturwissenschaften lassen sich folglich als Begleiterscheinung kultureller Transformationsprozesse verstehen (vgl. Konersmann 2008: 14, 20, 44).
Ausgehend davon stellt sich die Frage, ob eine solche Wissenschaft nur in dem Maß an Bedeutung gewinnt, in dem transformative Erfahrungen relevant werden. Anders gesagt: Eine Kulturwissenschaft, die sich nicht an die Konjunkturen des Kulturellen verwiesen sehen möchte und die beansprucht, mehr als eine episodische Reflexionswissenschaft zu sein, setzt voraus, dass sich die Lebenswelt in einer Weise verändert hat, die unhintergehbar ist. Die Suche nach irreversiblen Einschnitten lenkt den Blick auf zwei Epochenschwellen: erstens auf den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und damit verbunden auf die Autoren der ersten Kulturwissenschaft (Ernst Cassirer, Aby Warburg, Georg Simmel, Heinrich Rickert). Ralf Konersmann hat betont, dass die Anfänge der Kulturphilosophie/-wissenschaft zu dieser Zeit eines gemeinsam haben: Sie sind allesamt Reaktionen auf Krisen der Kultur, die dazu führen, dass deren Wahrnehmung reflexiv wird (vgl. Konersmann 2003: 61, 66). Nicht zufällig treten zu dieser Zeit vermehrt Fragen nach Fremderfahrung und Intersubjektivität auf; der unverbrüchliche Zusammenhang der Gemeinschaft ebenso wie das Vertrauen in das Darstellungsvermögen der Sprache gehen verloren. Zweitens treten die 1960er Jahre in den Blick, in denen sich die Cultural Studies ebenso wie der Poststrukturalismus, die Medientheorien etc. herausbilden – diesmal parallel zur so genannten Post-/ Hoch-/Spätmoderne. Die Cultural Studies selbst etablieren sich hierbei als Ergebnis einer Krise, während der Poststrukturalismus zu einer umfassenden Kritik metaphysischer Grundlagen ausholt. War die Moderne noch durch die Gefahr des Sinnverlusts bestimmt, so ist die Hochmoderne durch eine Pluralität der Sinnangebote charakterisiert (vgl. Reckwitz 2006: 46, Anm. 52).
Die zeitgeschichtliche Verortung der Kulturwissenschaft/en hat Konsequenzen: Für ihr Gegenstandsfeld resultiert daraus, dass sie es vielfach mit Phänomenen der Medialisierung sowie der Globalisierung zu tun hat/haben. Die Frage nach Kontinuität und Wandel der Geistes-/Kulturwissenschaften gewinnt hierdurch weiter an Komplexität, berücksichtigt man, dass die benannten Veränderungen nicht notwendig einen Paradigmenwechsel zur Folge hatten, sondern mit einer Vielzahl neuer Themen einhergegangen sind. Dass solche Themenwechsel kulturwissenschaftlich erst dann produktiv werden, wenn diese in Analysekategorien umschlagen, wenn Bild, Raum oder Performanz also nicht nur Erkenntnisobjekte darstellen, sondern zu Erkenntnismedien werden, die auf andere Gegenstandsfelder übertragen werden können, hat Bachmann-Medick deutlich gemacht (vgl. 2006: 26, 30). Die Vielzahl der ‚cultural turns‘, die seither verkündet wurden, lenken den Blick nicht bloß auf neue Untersuchungsbereiche, sondern gehen mit der Entwicklung neuer Zugänge einher. Auf diesem Weg hat die Transformation der Lebenswelt unter dem weitgespannten Dach eines cultural turn auch zu einer Transformation des theoretischen Feldes geführt und ein ganzes Register neuer Begriffe hervortreten lassen (vgl. Reckwitz 2006). Im Ergebnis ist daraus auch der Vorschlag für eine „transformative Kulturwissenschaft“ hervorgegangen (vgl. Böhme 2005: 37-45, Böhme et al. 2011).
Grundsätzlich steht einer relativ schwachen institutionellen Begründung der Kulturwissenschaften, wie sie aus dem Entstehungszusammenhang der Krise resultiert, somit eine deutlich stärkere lebensweltliche Begründung zur Seite. Dennoch zielt auch die historische Situierung der Kulturwissenschaften, wie sie mit dem Transformationsnarrativ vorliegt, nicht auf deren explizite theoretische Verortung. Ein epistemologischer Ausgangspunkt für die Kulturwissenschaft als einer möglichen Disziplin hat sich bisher nicht herausgebildet. Die Kulturwissenschaft weist in dieser Hinsicht weiterhin ein Begründungsdesiderat auf.
2 Epistemologie der Kulturwissenschaft
Die vorangegangenen Ausführungen bieten Hinweise dazu, wie die Frage, was Kulturwissenschaft/en sind, beantwortet werden kann. An dieser Stelle folgen daher keine weiteren Vorschläge – insbesondere auch deshalb nicht, da Hartmut Böhmes Beitrag in dieser Ausgabe sowie die daran anschließenden Kommentare weitere programmatische Überlegungen vorstellen; auch werden im Folgenden keine Kulturtheorien zur Diskussion gestellt, zumal die Theoretisierung von Kultur nicht notwendig an eine Kulturwissenschaft gebunden ist: Vorschläge für Kulturbegriffe und Kulturtheorien liegen seitens der Ethnologie, der Soziologie, der Literaturwissenschaft sowie anderer Disziplinen in zahlreicher Form vor. Zu vielfältig sind demnach die Antwortmöglichkeiten.7 Daher beschränke ich mich im Kontext der Gründung dieser Zeitschrift auf einige Überlegungen zu einer möglichen epistemologischen Verortung der Kulturwissenschaft, die bisher lediglich am Rande thematisiert worden ist.8 Den allgemeinen Rahmen hierfür könnte eine Epistemologie der Kulturwissenschaft bilden, der die Aufgabe zukommt, die Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Kultur zum Gegenstand des Wissens werden kann, zu reflektieren (vgl. Rheinberger 2007: 11). An die Stelle der tendenziell immer auch essentialistischen „Was ist“-Fragen (Was ist Kultur? Was ist Kulturwissenschaft?) tritt so die Frage, wie Kulturwissenschaft möglich werden kann, d.h. unter welchen Bedingungen kulturelle Tatsachen zu epistemischen Objekten werden können.
2.1 Kultur / Wissenschaft
Die epistemologische Ausgangssituation der Kulturwissenschaft resultiert daraus, dass die Auseinandersetzung mit Kultur innerhalb der Kultur selbst erfolgt: Kulturwissenschaft ist Teil dessen, was sie untersucht. Die damit verbundene Einsicht hat Hartmut Böhme wie folgt gefasst: „Die Kultur ist die von theoretischen Vorannahmen her konstruierte Objektebene und zugleich die letzte Metaebene, innerhalb derer sich das kulturelle Wissen bestimmt“ (Böhme 2004: 2). Hinsichtlich der Kulturphilosophie hat Ralf Konersmann daraus die Konsequenz gezogen, dass diese nicht mehr als reine Philosophie denkbar sei, weshalb sie sich selbst als Teil der Kultur und ihre Gegenstände als kontextgebunden begreife (vgl. Konersmann 2006: 45f.). Nun hat Bernhard Waldenfels in umgekehrter Perspektive auf das Problem einer Kulturphilosophie hingewiesen, die sich der Kultur zu sehr annähere. Aus der Relation von Nähe und Distanz resultiert so ein Dilemma, dass Kulturphilosophie wie Kulturwissenschaft gleichermaßen betrifft: Eine Kulturphilosophie, die nichts weiter als kulturelle Philosophie ist, werde selbst bloß zum Ausdruck der bestehenden Kultur; eine Philosophie hingegen, die Kultur lediglich als partiellen Sachbereich begreift, erliege dem Glauben, sie agiere auf einer Ebene vor der Kultur; die daraus resultierenden Alternativen seien die einer Philosophie, die der Kultur immanent, oder einer Philosophie, die Kultur gegenüber transzendent bleibe (vgl. Waldenfels 2001: 99f.). Beide Optionen sind unhaltbar: Kulturphilosophie darf weder in der Kultur, die sie untersucht, aufgehen, noch kann sie sich als vollkommen losgelöst von dieser begreifen.
Dem von Waldenfels formulierten Einwand, Kulturphilosophie tendiere dazu, affirmativ zu werden, widerspricht Konersmann mit dem Hinweis, dieser führe einmal mehr auf die Traditionslinie einer reinen Philosophie zurück. Tatsächlich geschieht dies jedoch nicht: Während Konersmann aus der Weltgebundenheit der Kulturphilosophie ableitet, dass sie Kultur niemals in ihrer Totalität zu erfassen vermöge, und so deren Erkenntnisansprüche begrenzt, entwickelt Waldenfels einen Ausgangspunkt, von woher der Zugang zu Kultur überhaupt erst möglich wird. Seine Antwort lautet: Die Erfahrung des Fremden ermöglicht es, aus der Immanenz einer Kultur herauszutreten, ohne sie sogleich zu übersteigen. Konkret benennt er drei Formen der Fremdheit: präkulturelle, interkulturelle und transkulturelle Fremdheit.9 Im Kern basieren diese darauf, dass Kultur und Natur, Eigenes und Fremdes, Ordentliches und Außerordentliches nicht klar voneinander geschieden sind. Die kulturelle Widerständigkeit, durch welche Kultur aus sich selbst herauszutreten vermag, resultiert hierbei daraus, dass „jede Kultur mehr ist als reine Kultur“ (Waldenfels 2001: 117). Kultur gewinnt so die Möglichkeit eines reflexiven Verhältnisses zu sich selbst aus der Erfahrung dessen, was an ihr nicht Kultur ist – wobei der Ort des Reflexivwerdens nicht außerhalb, sondern in der Kultur liegt.
Die Rückbindung an die Erfahrung führt dazu, dass die Kulturwissenschaft nicht direkt auf bestimmte Gegenstände zuzugreifen vermag, sondern in Erfahrungsordnungen gründet, die verantwortlich dafür sind, wie sich Erfahrung organisiert (vgl. Waldenfels 1998: 58). Als Gegenstand tritt Kultur erst hervor, wenn sich die bestehenden Erfahrungsordnungen verändern; daher rührt das Potenzial, das den Künsten (ästhetische Erfahrungen) ebenso wie den Erfahrungen des Fremden für die Reflexion des Vertrauten und Selbstverständlichen zugeschrieben wird. In genau diesem Sinn können Differenzerfahrungen und Kontinuitätsbrüche als primum movens der Kultur ebenso wie der Kulturwissenschaft gelten.10 Ohne Minimaldifferenz bliebe Kultur analytisch unzugänglich – sie bliebe das Medium des kulturellen Lebens und als solches dessen blinder Fleck. Nun bilden Fremderfahrungen allerdings kein allein auf die Wissenschaften bezogenes Moment, vielmehr treten diese ebenso im Alltag auf. Kulturwissenschaft hat ihren Vorläufer insofern in einer alltäglichen Reflexion von Kultur, weshalb Kulturen ganz selbstverständlich über ein Wissen von sich schon vor ihrer wissenschaftlichen Erfassung verfügen (ebd.). Das Verhältnis von kulturellem und kulturwissenschaftlichem Wissen hat Böhme am Beispiel eines Schusters aufgezeigt: Demnach verfüge ein Schuster, der einen Schuh fertigt und sich hierbei selbst beobachtet, über kulturelles Wissen; eine Wissenschaftlerin hingegen, die den Schuster beim Fertigen der Schuhe beobachtet (Beobachtung zweiter Ordnung) und eine Theorie des Schuhe-Fertigens entwirft, generiere kulturwissenschaftliches Wissen. Die Theoretisierung setze hierbei „handlungsentlastete Personen voraus, die nicht in den Funktionskreis eines kulturellen Vollzugs eingeschlossen sind.“ (Böhme 2004: 1).
Nun lässt Böhme in seiner Darstellung allerdings ein Moment unerwähnt, das unmittelbar mit der epistemologischen Ausgangskonstellation verbunden ist: So stellt sich die Frage, ob man tatsächlich davon sprechen kann, dass der Schuster sich beim Fertigen der Schuhe selbst beobachtet. Sicher wird er das Ergebnis seiner Tätigkeit prüfend betrachten – doch das Wissen, über das er verfügt, liegt weniger in seinem Blick als in seinem handwerklichen Können (es handelt sich um implizites Wissen). Im Zusammenspiel von fertigender Hand und prüfendem Auge zeigt sich, was für den Alltag charakteristisch ist: die personale Einheit von Vollzug und Reflexion. Wenn das Wissen des Schusters jedoch vornehmlich in seiner handwerklichen Erfahrung gründet, wie kann dann eine Person, die nicht selbst über diese Erfahrung verfügt, qua Beobachtung ein vergleichbares Wissen entwickeln? Womöglich wird der Beobachter ein detailliertes Skript des Handlungsgeschehens erstellen. Und vielleicht kommt er zu dem Schluss, dass es ein Regelwissen darüber geben muss, wie ein Schuh zu fertigen ist – ohne jedoch zu erkennen, dass es die taktile Erfahrung des Schusters ist, die sein Handeln im Zusammenspiel mit dem Leder des Schuhs, dessen Geschmeidigkeit, der Art und Weise, wie es durch seine Werkzeuge verarbeitet werden kann, leitet. Ob ein vom Handeln entlasteter Beobachter daher zu erfassen vermag, was es heißt, einen Schuh zu fertigen, lässt sich bezweifeln. Die Aussage, dass Kulturwissenschaft eine Ausdifferenzierung kulturellen Wissens darstelle, über das eine Kultur von sich selbst verfügt (vgl. Böhme 2004: 2), muss daher mit der Frage einhergehen, wie dieses Wissen gewonnen werden kann. Wenn Kulturwissenschaft eine „temporal verstetigte, institutionalisierte und charakteristisch moderne Form der Selbstreflexion der Gesellschaft dar[stellt]“ (ebd.), so muss sie beantworten können, wie Selbstreflexion im Spannungsfeld von Nähe und Distanz systematisch ermöglicht werden kann.
Es gehört folglich zu den Aufgaben der Kulturwissenschaft, die Erfahrung eines tatsächlichen Anders-Seins und -Werdens, wie sie sich in Fremderfahrungen ebenso wie in ästhetischen Erfahrungen einstellt, zu systematisieren. Da der Kulturwissenschaft kein exponierter Ort zur Verfügung steht, von wo aus sie ihre kulturelle Umwelt zu überblicken vermag, muss sie nach Distanzierungsweisen suchen, die ihr bei aller Eingelassenheit in Kultur und allem Sich-Einlassen auf das kulturelle Geschehen den für Analyse und Reflexion notwendigen Abstand eröffnen. Methodisch resultiert hieraus die Notwendigkeit, die vermittelte Unmittelbarkeit im Erleben der kulturellen Wirklichkeit in eine reflexive Nähe zu transformieren: Die Erfahrung der Differenz, die den Ausgangspunkt unserer alltäglichen Reflexionen bildet, muss methodisch so umgebildet werden, dass Differenzerfahrungen systematisch möglich werden.11
Einen Zugang zu Kultur und Kulturen erlangt die Kulturwissenschaft hierbei nicht bloß durch Beobachtung, vielmehr muss sie in ein neues und anderes Verhältnis mit der Wirklichkeit treten. Konersmann (2008: 42, 2003: 129) hat darauf hingewiesen, dass wir es bei Kultur immer mit versteckten Umlenkstellen zu tun haben. Der Zugang ist folglich ein indirekter: Kultur lässt sich nicht einfach erfassen, sie lässt sich nur auf Umwegen erschließen. In genau diesem Sinn ist Kulturwissenschaft darauf verpflichtet, de-konstruktiv tätig zu sein – im Sinne eines Abbaus kultureller Sedimente und einer Infragestellung kultureller Selbstverständlichkeiten. Merleau-Ponty (1984: 79) hat dies wie folgt ausgeführt: „Wollen wir den Ursprung der Bedeutung wirklich verstehen – andernfalls können wir keine Schöpfung, keine Kultur verstehen und werden auf die Annahme einer intelligiblen Welt zurückgeworfen, in der die Bedeutungen von vorneherein schon festliegen –, so müssen wir uns hier jeder schon etablierten Bedeutung entledigen und auf die anfängliche Situation einer nicht bedeutsamen Welt zurückkommen […].“ Eine solche ‚Tieferlegung‘, die mit der Reflexion des kulturell Gegebenen einhergeht, ist ebenso Thema der Foucaultschen Diskurstheorie wie der Philosophie Jacques Derridas. De facto geht mit dieser eine Umorientierung einher, die deutlich werden lässt, dass wir es hinsichtlich der Kultur nicht mit Sonderbereichen – etwa dem abgegrenzten Bezirk einer Hochkultur oder einem vom Wesentlichen unterschiedenen, akzidentiellen Überbau – zu tun haben, sondern, ganz im Sinne einer ‚Tieferlegung‘, mit dem Grund kulturellen Erlebens und Tätigseins. Kultur, verstanden als „das Apriori einer Welt, die uns die Dinge bedeutsam sein lässt“ (Konersmann 2008: 32), wird fassbar als das, was den semantischen Weltzusammenhang konstituiert. Mit dem Bezug auf ein inkommensurabel Anderes wird dabei zugleich der Horizont der verstehenden Geisteswissenschaften aufgebrochen: Der Sinn- und Bedeutungszusammenhang gewinnt darin eine andere Seite hinzu, die mit Aspekten des Entzugs, des Nichtverstehens und der Diskontinuität verbunden ist.12
Die reflexive Befragung des Normalen und Selbstverständlichen führt auch darauf hin, dass das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit ausbalanciert bleibt (vgl. Steiner 1997: 37). Der Kulturwissenschaft kommt dabei die Aufgabe zu, Erfahrungsspielräume offenzuhalten: Als Reflexionswissenschaft ist nicht die Verwirklichung von Kultur ihre Aufgabe, sondern deren ‚Vermöglichung‘; sie eröffnet Räume für ein Andersdenken und weist so neue und andere Handlungsoptionen auf. Eine solche Reflexion wird umso wichtiger – vorausgesetzt die These gilt –, wenn die Erfahrungen der Gegenwart immer weniger ein Anderes der Erwartung darstellen, d.h. wenn Erfahrungen und Erwartungen, ähnlich wie in der Vormoderne, wieder dazu tendieren, einem homogenen, geschlossenen Raum anzugehören (vgl. Geulen 2010: 83). Die mit der Ausgangskonstellation der Kulturwissenschaft verbundene Akzentverschiebung weist von daher einen Weg auf, Kulturwissenschaft erfahrungstheoretisch zu begründen. Kulturwissenschaft wäre, so verstanden, in einem vollen Sinn Erfahrungswissenschaft.13
2.2 Reflexion und Repräsentation
Die Frage nach den epistemologischen Voraussetzungen der Kulturwissenschaft schließt die Frage nach den medialen Darstellungsmöglichkeiten sowie nach dem Verhältnis von Reflexion und Repräsentation mit ein.14 Seit dem linguistic turn gilt für Sprache in einer inzwischen schon selbstverständlichen Weise, dass die Medien des Erkennens der Erkenntnis gegenüber nicht äußerlich sind. Zunehmend tritt seither auch die Gesamtheit medialer Erkenntnispraktiken in den Blick (vgl. Rheinberger 2007: 131f). Resultat dessen ist, dass die dyadische Konstellation von Forschungssubjekt und kultureller Wirklichkeit auf eine triadischen Konstellation erweitert wird, innerhalb derer nicht nur Subjekte und Gegenstände, sondern ebenso Schrift, Bild oder Film als erkenntniskonstitutiv gelten.
Eine Zeitschrift, die mit der Zielsetzung verbunden ist, als künftiger Ort kulturwissenschaftlicher Debatten zu fungieren, ist daher auch an die Frage gebunden, wie auf angemessene Weise von und über Kultur geschrieben werden kann. Die Sprache eröffnet hierbei einen durch vielfältige Differenzierungen vorgeprägten Möglichkeitsraum; dies betrifft ihre semantische Implikationen und Begriffsgeschichten ebenso wie narrative Muster. Martin Seel hat daher darauf hingewiesen, dass dieser mit der Sprache verbundene Möglichkeitsraum des Erkennens einem „intransparenten Horizont von Unterschieden“ (Seel 2002: 156) gleichkomme. Einerseits ermöglichen die in einer Sprache vorhandenen Unterscheidungen die Erkenntnisbildung, andererseits bilden sie ein dem Erkenntnisprozess immanent Unbestimmtes. Was für Medien insgesamt gilt, gilt folglich auch für Erkenntnismedien: Sie sind Heilmittel und Gift zugleich und als solche Bedingungen der Möglichkeit ebenso wie der Unmöglichkeit.
In epistemologischer Hinsicht resultiert daraus die Notwendigkeit, die in einer Sprache angelegten Sinnvorzeichnungen, Maßstäbe und Grenzen im Sprechen über Kultur zu reflektieren. Begriffe sind, wie Uwe Wirth (2008: 14) betont hat, stets auch Kulturbegriffe – dies gilt zu allererst für den Begriff der Kultur selbst. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung hat Hartmut Böhme unternommen, indem er den semantischen Grundriss des Wortes Kultur nachgezeichnet hat. Dabei wird deutlich, dass die Semantik von colere/cultus die Konzepte von Kultur bis in die Gegenwart hinein organisiert und Kultur der Natur entgegensetzt (vgl. Böhme 1996: 50, 63).15 Die mit der historischen Semantik des Kulturbegriffs einhergehende Entgegenstellung von Kultur und Natur hat zur Folge, dass eine ganze Reihe weiterer Aspekte, die mit der Natur verbunden sind, aus dem Bereich des Kulturellen ausgeschlossen werden.16 Böhme kommt daher zu dem – inzwischen durchaus zu relativierenden – Fazit: „Die Natur als ontologischen Grund, materialen Stoff, symbolisches Feld und geschichtliche Bühne der kulturellen Prozesse gilt es für die kulturgeschichtliche Forschung erst noch zu gewinnen.“ (Böhme 1996: 63). Dass der Kulturbegriff auch des 21. Jahrhunderts semantische Implikationen aufweist, die mit dem neolithischen Sprung hin zur Seßhaftigkeit, zum Ackerbau und zur Landwirtschaft verbunden sind, zeigt, wie nachhaltig die semantischen Gebrauchsspuren der Sprache anhaften. So findet sich dieser weiterhin in ein bipolares Schema eingelassen, an das selbst alternative Schreibungen wie etwa „NaturKultur“ gebunden bleiben. Auch wenn eine umfassende Begriffsgeschichte von „Kultur“ noch nicht geschrieben ist, ist inzwischen deutlich geworden, dass dieser zu den Grund- und Schlüsselbegriffen des 20. Jahrhunderts gehört (vgl. Geulen 2010, Recki 2010). Eine umfassende Begriffsgeschichte setzt allerdings voraus, dass sie die semantischen Verstrickungen des Kulturbegriffs innerhalb eines globalisierten Wortfelds und den damit verbunden komplexen Translationsbeziehungen rekonstruiert (vgl. Geulen 2015).
Eine Kulturwissenschaft, die der List der Sprache sowie den Medien insgesamt nicht auf den Leim gehen will, sieht sich daher herausgefordert, die medialen Bedingungen kulturwissenschaftlicher Erkenntnis in den Blick zu nehmen. Anders gesagt: Kulturwissenschaft sollte nicht hinter die Einsichten der Sprachkritik zurückfallen, vielmehr muss sie diese auf eine allgemeine Medienkritik hin erweitern, die die unterschiedlichen Darstellungspotenziale von Medien sowie die mit diesen verbundenen Erkenntnispraktiken reflektiert. Die Einführung der Medien in die Erkenntnisrelation von Subjekt und Welt muss hierbei nicht auf die Bahnen eines haltlosen Konstruktivismus führen: „Sprache als Medium des Erkennens schiebt sich nicht vor die Gegenstände des Erkennens, sondern gibt sie zu einem stets aspekthaften Erkennen frei.“ (Seel 2002: 163) Eine in ihren Grundzügen auch mediale Epistemologie der Kulturwissenschaft kommt daher nicht, wie aus den Überlegungen Seels hervorgeht, ohne die Opposition von zugänglicher und unzugänglicher Wirklichkeit aus (vgl. ebd.: 165). Die Grenze zwischen dem, was erkannt wird, und dem, was unerkannt bleibt, sei folglich dynamisch – ihr Resultat ist die Geschichte kulturwissenschaftlicher Erkenntnis, die auch eine Kultur- und Mediengeschichte der Kulturwissenschaft ist. Auch in epistemologischer Hinsicht ist die Kulturwissenschaft somit an die Transformation ihrer Erkenntnisvoraussetzungen gebunden. Eine Epistemologie der Kulturwissenschaft erhält von daher die Auflage, sich als Epistemologie ihrer jeweils konkreten Erkenntnisvoraussetzungen zu begreifen, wie sie sich auch im Zusammenhang fachwissenschaftlicher Diskurse, etwa in Gestalt dieser Zeitschrift, darstellen. Während sie einerseits ihren Ausgang von einer alltäglichen Reflexion von Kultur nimmt, überschreitet sie sich darin wiederum selbst und wird zu einer Kulturwissenschaft der Kulturwissenschaft.
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Fußnoten
1 Entsprechende Darstellungen und Hinweise finden sich in unterschiedlichen Einführungen in die Kulturwissen¬schaft/en; vgl. z.B. Böhme/Matussek/Müller 2000: 19, Stierstorfer/Volkmann 2005: 12, Fauser 2008: 9. 2 Das heißt nicht, dass es nicht zu einem systematischen Umbau der Geisteswissenschaften gekommen ist; beinahe beschwörend erscheinen daher Titel wie „Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben“ (Gauger/Rüther 2007) oder „Die Zukunft der Geisteswissenschaften in einer multipolaren Welt“ (Mittelstraß/Rüdiger 2012). 3 Eine vergleichbare Kritik findet sich bereits in den 1960er Jahren sowie zu Beginn der 2000er Jahre, wobei die Diskussion in der neueren Zeit zunehmend auch die Öffentlichkeit erreichte; vgl. Gauger/Rüther 2007: 22. Gauger/ Rüther (2007: 27-38) haben das damit einhergehende Klima, das von ökonomischen Verwertungsansprüchen im Rahmen einer weitgehend utilitaristischen Wissenschaftspolitik bestimmt ist, eindrücklich nachgezeichnet. Die Legitimationskrise trifft allerdings auch die Humanities in den angelsächsischen Ländern, die ebenfalls von Stellen- und Mittelkürzungen betroffen sind. 4 Seine Aussagen entsprechen hierbei bis in den Wortlaut hinein jener Position, die er schon in der Denkschrift Geisteswissenschaften heute (Frühwald et al. 1991) vertrat. 5 Vgl. Daston (2001): Die Naturwissenschaften sind einerseits selbst in die Kultur eingelassen, andererseits zeichnen sich diese durch eine eigene Kultur mit eigenen Werten und Bedeutungen aus (vgl. ebd.: 141, 149); zudem weist das Ideal der „Objektivität“ selbst eine Geschichte auf, die eng mit epistemischen Praktiken sowie konkreten Wissensmedien (etwa der Photographie) verbunden ist; vgl. dazu ausführlicher Daston/Galison (1998). 6 „Die Kulturtheorien und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze, die um die Abhängigkeit des Handelns, der Praktiken oder der Kommunikation von Sinnsystemen und Wissensordnungen zentriert sind, haben exakt in jenem Zeitraum an Einfluß gewonnen, in dem diese Sinnsysteme durch die Erfahrung ihrer Kontingenzen und Differenzen in der sozialen Welt selbst auf verschiedensten Ebenen zunehmend problematisch und damit ‚sichtbar‘ geworden sind.“ (Reckwitz 2006: 45). 7 Vgl. hierzu die Überblicksdarstellungen bei Müller-Funk (2006), Hofmann/Korta/Niekisch (2004) und (2006) sowie Moebius/Quadflieg (2011); zu einer Übersicht verschiedener Wissenschaften als Kulturwissenschaften vgl. den Band von Stierstorfer/Volkmann (2005). 8 Ausnahmen sind Wiechens (2000) und Aleksandrowicz (2011). 9 Hier ausführlicher: (1) präkulturelle Fremdheit: diese bezieht sich auf die Erfahrung einer Natur, als eines präkulturellen Vorbereichs, den die Kultur nie völlig hinter sich lässt und der als das, was sich der Kultur entzieht, innerhalb dieser als fremd erfahren werden kann. (2) interkulturelle Fremdheit: Die interkulturelle Fremdheit resultiert aus der Begegnung mit anderen und ist mit der Erfahrung verbunden, dass das Eigene sich erst vom Anderen als einem Fremden her konturiert; Eigenes und Fremdes sind folglich ebenso nicht klar geschieden. (3) transkulturelle Fremdheit: Diese basiert auf einem transkulturellen Überschuss; der Raum eines Darüber-Hinaus liegt hierbei in einer „wilden Region“ (Merleau-Ponty), die sich innerhalb der Kultur einer Formung entzieht und als das Außerordentliche einer jeden Ordnung in der Kultur selbst eine radikale Form der Fremdheit bildet; vgl. Waldenfels (2001: 101-118). 10 Dass etwas als different erfahren wird, sagt zwar noch nichts darüber aus, was als different erfahren bzw. woran die Differenz erfahren wird. Differenzerfahrungen machen wir womöglich an einer anderen Sprache, anderen Wertvorstellungen, anderen Praktiken etc.; die Bestimmung der Erfahrungsgegenstände führt auf den Weg einer inhaltlichen Bestimmung von Kultur, von woher Antworten auf die Frage möglich sind, was Kultur ist. Die hier angestellten Überlegungen liegen dem allerdings voraus, da sie nicht nach dem Was einer Kultur fragen, sondern danach, wie Kultur überhaupt zugänglich werden kann. Folglich ist der hierbei verwendete Kulturbegriff formal: diesem kommt lediglich eine erkenntnisleitende Funktion zu, da dieser den Zugriff auf die Phänomene, nicht aber die Phänomene an sich betrifft (vgl. Schnädelbach 1985: 513). 11 Zu den prominentesten Zugängen der Kulturwissenschaft gehört daher die teilnehmende Beobachtung, die selbst dann noch auf beobachtende Distanz zielt, wenn die Teilhabe quasi voll immersiv ist. Wo die Kulturwissenschaft dem entgegen nicht die Erfahrung eines Fremden sucht, entwickelt sie Verfremdungstechniken; beispielhaft sei hier Erving Goffman (2010) genannt, der mittels einer metaphorischen Verschiebung (Theatermetapher) eine Rejustierung der Perspektive vollzieht. 12 Damit soll nicht besagt sein, dass solche Aspekte in der hermeneutischen Tradition nicht ebenfalls von Bedeutung waren, allerdings ist eine deutliche Umgewichtung zu erkennen; vgl. dazu Jung (2002: 126f), insbesondere jedoch Mersch (2010); zugleich sind derzeit auch Anfänge einer kulturwissenschaftlich informierten Hermeneutik beobachtbar, vgl. hierzu Liebert 2016. 13 Tatsächlich erfordert sie in diesem Sinn die Wiederbelebung eines starken Erfahrungsbegriffs, der sich von einem empirischen Erfahrungsbegriff unterscheidet (vgl. hierzu Metten 2016: 128-133); gleichzeitig ergibt sich von daher die Möglichkeit, mit den empirischen Wissenschaften in einen Dialog über unterschiedliche Erfahrungsbegriffe zu treten. 14 Iris Därmann (2002) hat deutlich gemacht, dass man hinsichtlich des Zusammenhangs von Fremderfahrung und Repräsentation vergeblich nach umfangreichen Studien sucht. Eng verbunden ist das Thema mit der so genannten Writing Culture-Debatte der Ethnologie sowie der Krise der Repräsentation; vgl. hierzu Fuchs/Berg (1993). 15 Zu den implizit semantischen Vorzeichnungen gehört hierbei, dass Kultur (1.) bestimmt ist als das Gefestigte und Habituelle von Handlungen, (2.) als räumliche Sphäre in Abhebung von der Natur und (3.) als wertsetzende Auszeichnung von Techniken und Praktiken sowie deren Bewahrung (vgl. Böhme 1996: 53). Mit der Kultivierung gehen die Herstellung und Sicherung von räumlicher Beständigkeit und zeitlicher Verstetigung (Kontinuität in Raum und Zeit) einher, die zudem mit Wissensvermittlung, ästhetischer Kultivierung und der Etablierung von Wertordnungen verbunden sind. 16 Dazu gehören nach Böhme das Nomadische, Wildnis, physis, Chaos, der Unraum und das Unstete, das Ephemere, Herkunftslose, Andenkenlose und Verschwindende, das Ungebildete und Un(zu)gehörige.